Clarkesworld 120

Neil Clarke

 Kurz vor Beginn des zehnten Jahres seiner Veröffentlichungsgeschichte freut sich Neil Clarke nicht nur über die Ergebnisse einer Poolumfrage, sondern sucht nach neuen Möglichkeiten, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Magazins zu stabilisieren. Hinzu kommt die erste HUGO Verleihung für eine in "Clarkesworld" veröffentlichte Kurzgeschichte. Diese Worldcon Impressionen gehen nahtlos über auf das Interview mit der Preisträgerin Naomi Kritzer, das Chris Urie mit ihr führt. Es geht nicht nur, aber vielleicht zu viel um die prämierte Geschichte. Naomi Kritzer gibt aber auch einen guten Einblick in ihre Arbeitsweise und versucht an Hand einiger weiterer Kurzgeschichten dem Leser zu erläutern, wie minutiös sie vorgeht.

Jason Heller geht in "Space is the Place: The Science Fiction Pulse of the 80s Electro Music" auf den Funk ein. Seine ausführlichen und beispielhaften Artikel sollten immer in Kombination mit einem Zugriff auf "Youtube" goutiert werden. Die vorgestellten Lieder und Alben machen Lust darauf, die darunter liegende Musik teilweise aus dem dunklen Zeitalter der Disco gleichzeitig zu hören, um damit besser seinen Thesen zu folgen. In knapp zwei Jahren werden diese Artikel über den gegenseitigen Einfluss von Musik der späten sechziger bis frühen achtziger Jahre sowie Fantasy und Science Fiction auf der anderen Seite in einem jetzt schon aufgrund der veröffentlichten Auszüge lesenswerten Buch zusammengefasst.   Kelly Robson schliesst mit  "On Being a late Bloomer"   den sekundärliterarischen Teil der Ausgabe ab. Sie geht auf den "Mut" von Autoren ein, erst im reifen Alter jenseits der vierzig erfolgreich Kurzgeschichten und Romane zu schreiben und vor allem auch zu publizieren. Kelly Robson lebt mit einer erfolgreichen Autorin zusammen, deren opportunistische Vorgehensweise sie bewundert. Der Tenor ihres aufmunternden Artikels ist, dass man es zumindest versuchen sollte, sonst ist man selbst als Hobbyautor am leeren Blatt nicht mehr in der Schreibmaschine, sondern auf dem Computerschirm gescheitert.  

 Der längere zweier Nachdrucke  "No Placeholder for You, My Love" aus der Feder Nick Wolvens ist eine romantische Geschichte, deren Hintergrund die virtuelle Realität ist. Diese scheint inzwischen allgegenwärtig zu sein.  So lange sie funktioniert, erlebt die Erzählerin eine von vielen Partys ihres Lebens. Nach und nach zeigen sich aber "Risse". Die Faszination dieser Story liegt in der dreidimensionalen Beschreibung eines irrealen Raums, der nicht nur den Protagonisten, sondern vor allem auch den Leser real und damit fühlbar erscheint. Das Ende ist vor allem angesichts der vielen Implikationen verstörend und raubt die Illusion, dass die virtuelle Realität wirklich eine Art Heilsbringer sein kann. Stilistisch sehr ansprechend mit einer überdurchschnittlichen Charakterisierung der Protagonisten gehört die Kurzgeschichte zu den besten Texten dieser Ausgabe. "The Dark City luminous" von Tom Crosshill ist eine ebenfalls emotional ansprechende Geschichte, die vor allem den Nachdruck aufgrund der ersten Veröffentlichung abseits der gängigen Magazine in mehrfacher Hinsicht verdient. In einer eher dunklen Zukunft muss Energie gespart werden. Die Menschen erhalten neue Linsen, mit denen sie sich impliziert in einer an die virtuelle Realität erinnernden "dunklen" Welt bewegen. Der Protagonistin müssen diese Linsen heraus operiert werden, so dass ihre Welt sich auf einen Schlag wieder verändert und sie in eine neue wie alte Welt blickt. Crosshill schafft es, diese fremde Stadt unheimlich, bedrohlich, aber nicht den Klischees folgend zu beschreiben, bis der Leser die pervertierten Zusammenhänge erst auf den letzten eindringlichen Seiten erkennen kann. Wie nicht selten stellt ein "Ende" aber auch einen Neuanfang dar.

Neben den beiden Nachdrucken präsentiert "Clarkesworld" insgesamt sechs neue Geschichten, wobei nur eine aufgrund ihrer Länge als Novelle bezeichnet werden kann. "The Despoilers" von Jack Skillingstead ist dabei einer der schwächeren Storys. Die siebzehnjährige Allegra ist zusammen mit ihrem offensichtlich verrückten Vater auf dem unwirtlichen Planeten 51Pegasid gestrandet, wo sie nach einem Fluchtweg suchen muss. Problematisch ist, dass der Spannungsbogen viel zu wenig aufgebaut wird und die inneren Monologe ins Nichts führend mehr Fragen aufwerfen als das sie Antworten anbieten. Der Leser wartet auf ein weiteres überraschendes Element, das aber nicht eintrifft.  Hinzu kommt, das der belehrende Unterton in einem zu starken Kontrast zu der ansonsten geradlinigen sich auf die Frage konzentrierenden Geschichte steht, ob das irgendwo gelandete Rettungsschiff nutzbar ist oder nicht. Zumindest ist der unwirtliche Planet interessant beschrieben worden.  " The Opposite and the Adjacent" von Liu Yang nimmt zumindest einen Faden von "The Despoilers" auf: Die Suche nach einem Raumschiff. Forscher finden ein fremdes Raumschiff mit einem toten Alien sowie seinem Logbuch an Bord, das ganz andere Regeln der Physik zu beinhalten scheint. Liu Yang beginnt mit psysikalischen und mathematischen Problemen, die aber schnell das Leben des Protagonisten so sehr in Beschlag nehmen, das er nicht mehr frei agieren kann. Die Pointe wirkt leider sehr stark konstruiert und die notwendige Zeichnung der Protagonisten ist eher dürftig, so dass die Balance des ganzen Plots nicht effektiv ist. 

Aus Australien kommt "Toward the Luminous Towers". Bogi Takács versucht sich an einer Military Fantasy Science Fiction Geschichte. Auf einer fernen und natürlich auch fremden Welt sucht der Erzähler Dronen durch Magie und Technologie zu kontrollieren, welche den fast gesichtslosen Feind bekämpfen. Der auf den ersten Blick absurd erscheinende technische Hintergrund wird zufriedenstellend bis überzeugend herausgearbeitet, während der Soldat mit den besonderen Fähigkeiten über sein Limit getrieben eher an die Klischees des Genres erinnert und die positiven Effekte der Story teilweise frustrierend negiert.  Es ist aber nicht die einzige Geschichte, die Fantasy Elemente mit einer griffigen futuristischen Handlung verbinden möchte. " The "House of Half Mirrors" von Thoraiya Dyer spielt in irland im Jahre 2042. Das Land ist nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch zusammengebrochen. Bei einer der zahlreichen Protestveranstaltungen trifft der Erzähler auf eine Elfe, die sich den Demonstranten angeschlossen hat.  Die Erzählerin leidet unter Verlustängsten und ihrer Verantwortung für die Ausbeutung des Landes. Gemeinsam mit der Elfe suche sie nach einer bestimmten Quelle, um den Haselnussbaum als Zeichen eines Neubeginns zu gießen. Die Elfe hat aber auch eine bestimmte Mission zu erfüllen. Bei dieser Art von Geschichte ist es ausgesprochen wichtig, eine Bindung zu den Charakteren zu finden, sonst funktionieren die Urban Fantasys nicht. Leider ist das bei "The House of Half Mirrors" nicht wirklich der Fall. Die Figuren sind zu sperrig, zu unnötig selbstzerstörerisch und weinerlich angelegt. Die Regierung wird als opportunistisch, als hinterhältig, zu kapitalistisch und egoistisch beschrieben, so dass die Eindimensionalität wichtiger Themen nur unterstrichen und an keiner Stelle der sich zu langsam entwickelnden Story negiert werden.

Wahrscheinlich ist es Zufall. Aber "Aphrodite's Blood, Decanted" aus der Feder Jennifer Campbell-Hicks fasst einige Themen dieser Ausgabe sehr geschickt zusammen. Die Menschen sind verschwunden. Die künstliche Intelligenz sowohl der verlassenen und einsamen Stadt als auch eines Warenhauses wollen die Menschen "zurückholen".  Die Autorin nutzt beabsichtigt die Idee einer "Kindergeschichte" mit sprechenden personifizierten Gebäuden wie bei einer futuristischen Fabel, um in dieser am Ende anrührenden Allegorie wichtige wie gegenwärtige Themen anzusprechen. Auf der anderen Seite baut sie den technologischen Fortschritt eher wie bei einer Fantasy pragmatisch ein und weigert sich, einzelne technische Fakten zu extrapolieren. Vor allem die Evolution der künstlichen Intelligenzen zu ihren Persönlichkeiten hätte deutlich umfangreicher und damit auch nachvollziehbarer erläutert werden müssen. Als Kontrast zu den überwiegend dunklen Stories liest sich aber "Aphrodite´s Blood, Decanted" sehr gut. Und über die Weinherstellung erfährt der Leser auch einiges. 

Die längste Geschichte ist vielleicht auch die zugänglichste Stry: "The Green Man Cometh" von Rich Larson könnte auch im legendären französischen Comic Magazin "Schwermetall" veröffentlicht werden. Oder sie dient als Fortsetzung zu Luc Bessons "Das fünfte Element". Larson erzählt einen stringenten Actionplot mit nur wenigen Wendungen. Eine Taxifahrerin wird durch einen Zufall und natürlich die Mitnahme eines besonderen Gastes gegen ihren Willen von den rücksichtslosen Organen des Gesetzes zwangsverpflichtet. Sie soll Terroristen beschatten und den Behörden einen wichtigen Hinweis geben. Anscheinend hat ein verrückter Kult wie bei einigen angegriffenen Kolonien entschieden, dass die Erde besser ohne Menschen auskommt. Das Finale ist konsequent. Die Geschichte lebt von den vielen kleinen Ideen, die in Form eines Romans mehr Aufmerksamkeit erhalten könnten. Vieles kommt eindeutig zu kurz und lässt die Welt eindimensionaler erscheinen als sie in Wirklichkeit ist. Grundsätzlich lässt sich die Novelle aber sehr gut lesen und der Plot  hebt sich von einigen zu exzentrischen Ansätzen anderer Texte dieser Ausgabe sehr angenehm ab.

 Mit sehr vielen rückblickend sogar auch thematisch latent aufeinander aufbauenden Science Fiction Geschichten könnte diese einhundertzwanzigste Ausgabe "Clarkesworld" zu den besseren Ausgaben des Jahres 2016 gehören. Leider befriedigen einige der kürzeren Texte hinsichtlich ihrer Konzeption und vor allem ihre Pointen zu wenig, als das diese "Clarkesworld" als Ganzes nachhaltig überzeugen kann.

 

E- Book, ca 112 Seiten

www.clarkesworldmagazine.com