Karl Mays Kara Ben Nemsi Band 4: In der Gewalt des Schut

Kara Ben Nemsi Band 4: In der Gewalt des Schut, Titelbild
Georgy Hymer

Im vierten Band des Sechsteilers – dieses Mal aus der Feder Georgy Hymers – teilt sich der Handlungsbogen endgültig. Vor allem werden einige Pläne aus den vorangegangen Abenteuern erläutert.

Die erste Hälfte besteht aus der im vorangegangenen Roman beschriebenen Gefangennahme Kara Ben Nemsis, seine Überführung in eines der Verstecke und die anschließende Folter. Die Szenen sind intensiver und brutaler als bei Karl May beschrieben worden. Kara Ben Nemsi kann sich nicht mit Intelligenz oder seiner körperlichen Gewandtheit aus der „perfekten“  Foltergrube befreien. Hinzu kommt, dass der Schut Kara Ben Nemsi als Spielball in einem der brutalen Berber Reiterspiele nutzen möchte. Er soll bis zum Hals eingegraben werden, während die Reiter auf seinen Kopf zureiten, um ihm Angst zu machen.

Auf der zweiten Handlungsebene versuchen Hadschi Halef Omar und seine Getreuen einen Weg zu finden, um Kara Ben Nemsis Versteck zu entdecken und ihn zu befreien. Auch wenn das Tempo nicht sonderlich hoch ist, entwickelt der Autor eine überzeugende Spannungskurve. Mit den zahlreichen historischen und gut recherchierten Details ergibt sich eine dunkle, sehr intensive erste Hälfte. Dem Leser wird auch klar, warum der Schut die zahlreichen Chancen nicht genutzt hat, um Kara Ben Nemsi in den vorangegangenen Begegnungen schnell und effektiv aus dem Weg zu räumen. Kaum hat man sich mit dem Szenario einer langen Rache abgefunden, dreht der Plot auf die schon im dritten Band angedeutete politische Ebene zurück. Mit der Entführung des preußischen Offiziers und dem Stiften von Unruhe in Nordafrika verfolgte der Schut gänzlich andere, im Grunde für die bisherige Zeichnung seiner Figur auch ungewöhnliche Ziele. Natürlich angetrieben von der Sehnsucht nach grenzenlosem Reichtum und Macht erscheint seine Vorgehensweise „unnatürlich“.

In der zweiten Hälfte dieses ohne Frage als Schlüsselroman zu bezeichnenden Abenteuers erhält Kara Ben Nemsi stellvertretend für den Leser eine Reihe von Erklärungen. Dabei spielt die attraktive Gespielin des Schut Kalila eine wichtige und für Karl Mays bisherigeres Werk auch sehr ungewöhnliche Rolle. Der zugrunde liegende Plot mit der Diskreditierung Kara Ben Nemsis ist nicht einmal neu. Vor allem in den Wild West Geschichten Karl Mays haben die Schurken immer wieder vor allem Winnetous Versuche unterminiert, zwischen den Indianern und den Weißen Frieden zu schließen. Die Vorgehensweise der meist von einem Kopf geführten Banden war dabei immer gleich, das Ziel monetäre Vorteile in jeglicher Form. Auch dieser Prämisse folgte Kalilas Plan. Aber er ist deutlich ambitionierter und enger mit den schwierigen politischen Entwicklungen in Europa inklusiv des auf Hochtouren laufenden Kolonialismus verknüpft. 

Kalila ist eine fast klassisch zu nennende Femme Fatale in einer Zeit, in welcher vor allem im Orient Frauen nicht viel zu sagen haben. Im vorliegenden Roman überschattet ihr Charisma sogar den blassen Schut. Dieser wird mehr und mehr zu ihrem willigen Werkzeug, den sie mit einer Mischung aus sexuellen Gefälligkeiten und Einflüsterungen bei der Stange hält. Diese Wandlung des Oberschurken ist erstaunlich und fordert vom Leser auch sehr viel Langmut. In den ersten Bänden hat er sich als brutaler Schurke erwiesen, während Kalila seine sadistische Helfershelferin gewesen ist. Hier hat sie die Zügel in der Hand. Der Plan, zwei Stämme aus dem auch bei Karl May ambivalent genutzten Sudangebiet während der Friedensverhandlungen sich gegenseitig überfallen zu lassen und Kara Ben Nemsi bloß zu stellen, beinhaltet neben der ambitionierten Herangehensweise auch eine Reihe von positiven Zufällen. Erst einmal muss Kara Ben Nemsi in einem Gebiet, in das er gereist ist, als Friedensbringer und Unterhändler anerkannt werden. Hinzu kommt, dass im Nachhinein heraus gearbeitet werden muss, dass er für die eine Partei gearbeitet hat. Der entführte und freigelassene deutsche Offizier hätte vielleicht auch als langer Arm seines Kaisers in Afrika besser in diese Rolle gepasst.

Aber natürlich hat sein Name keinen so nachhaltigen Klang bei den arabischen Stämmen. Der Überfall muss perfekt ausgeführt werden und die Sieger müssen sich dann auch dem Schut/ Kalila sowie dem geheimnisvollen Orden unterordnen, damit auch der zweite Abschnitt des Plans mit dem Kampf gegen die potentiellen Kolonialherren inklusiv einer Auseinandersetzung militärischer Art zwischen den europäischen Mächten auf afrikanischen Boden funktionieren kann. Warum am Ende durch eine Veränderung des Status Quo und vielleicht Etablierung eines neuen regionalen Herrschers in Form des Schut unendlicher Reichtum fließen soll, wird vom Autor sowie seinem Expokraten noch nicht gänzlich genug überzeugend herausgearbeitet. Klar ist, dass der Schut machthungrig ist und nach weiteren Schätzen sucht. Ob er sich wirklich diese politische Rolle mit allen Vor-, aber auch vielen Nachteilen zutraut, erscheint angesichts der bisherigen Anlage der Figur noch fragwürdig. In einem Punkt haben die Autoren aber eine befriedigende Antwort geliefert: Kara Ben Nemsi wird noch benötigt und darf deswegen nicht sterben. Die lange Reise in den Sudan bietet in den abschließenden zwei Romanen noch ausreichend Spannung.

Dank der engen Verbindung zwischen der realen damaligen politischen Großwetterlage und den phantastischen Figuren Karl Mays baut sich eine einzigartige, die damaligen Orientromane auf eine neue Art und Weise fortsetzende, ergänzende Geschichte auf. Die Erweiterung der Perspektive tut den neuen Abenteuer Kara Ben Nemsis gut.

 In diesem Roman funktioniert der Wechsel der Perspektiven überdurchschnittlich gut. Da Kara Ben Nemsi durch seine Gefangenschaft von allen Bekannten isoliert direkt zum Leser spricht und ihm bildhaft die Verzweifelung, die ins Nichts laufenden Pläne ausführlich erläutert, ist dieser Erzählbogen am Intensivsten. Natürlich ist es grundsätzlich schwer, Spannung mit einer Figur aufzubauen, die unbeschadet überleben muss, da ihr ja noch weitere Abenteuer bevorstehen. Vielmehr dient Kara Ben Nemsi als Bote zwischen den Grausamkeiten der Berber und dem Leser. Sein Leiden ist ohne Übertreibung oder Hang zu Pathos sehr gut beschrieben. Nur durch Kalilas Plan entkommt er diesem Martyrium. Der Automatismus einer teilweise unglaubwürdigen Rettung in letzter Sekunde durch spektakuläre Aktionen wird mit dieser Wendung der Ereignisse unterbrochen.

 Auf der zweiten Handlungsebene werden einige von Kalilas Pläne erklärend begleitend. Die Fußnoten sind eine Mischung aus realen Fakten und einer sehr intensiven Verbindung mit anderen Karl May Werken. Wie gut der Exposeautor Grandt und sein Autor Hymer Georgy die neue Geschichte in das Gesamtwerk eingebaut haben, zeigen auch die in erster Linie personellen und weniger handlungstechnischen Querverweise auf die später umstrittenen Kolportage Arbeiten, die Karl May anonym veröffentlicht hat. Wer sich intensiv mit dem Werk des Sachsen beschäftigt hat, wird diese mit Vergnügen goutieren. In Bezug auf die Leser, welche die Standardwerke nur oberflächlich kennen, wird unauffällig mit einer Mischung aus in die Handlung eingebauten Erläuterungen und Fußnoten deren Horizont unauffällig erweitert.

 Der Titel des Buches „In der Gewalt des Schut“ fasst den Inhalt im direkten Vergleich zu einigen anderen zu überzogenen und propagandistischen Namenszügen sehr gut zusammen. Der vierte Band ist qualitativ der bislang beste Roman der Serie. Der Plot entwickelt sich vor dem Hintergrund des angesprochenen bekannten Handlungsmusters spannend weiter. Vor allem die neu entwickelten Figuren beginnend bei Kalila wirken dreidimensionaler und vielschichtiger als es im ersten Band den Eindruck gehabt hat. Hinzu kommen die zahlreichen Nebenfiguren Karl Mays, die deutlich aktiver als beim Sachsen in den Plot eingreifen und stellenweise ihre Gesundheit oder ihr Leben opfern, damit weiterhin Frieden in Nordafrika herrscht und der Einfluss des Schut zurück gedrängt werden kann. Mit keinem so abrupten Cliffhanger wie bei den Vorgängern ausgestattet wirkt der ganze Spannungsbogen deutlich homogener und fließender.  

www.blitz-verlag.de

Taschenbuch, 172 Seiten

Titelbild: Mark Freier

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