Im Rahmen seiner sechsbändigen H.G. Wells Comicreihe hat der Autor Dobbs sowohl dem „Krieg der Welten“ als auch „Der Unsichtbare“ Doppelalben gewidmet, während „Die Zeitmaschine“ und das vorliegende „Die Insel des Dr Moreau“ sich mit einem einzelnen, knapp über fünfzig Seiten umfassenden Comic begnügen musste. Dabei ist „Die Zeitmaschine“ ohne Frage sehr viel einfacher zusammenzufassen und H.G. Wells moralische Fabel um Schuld und Sühne, Tierexperimente, die Amoral der Gesellschaft und schließlich auch Joseph Conrads nachempfindend den schleichenden Wahnsinn, der von Dr. Moreau – Dobbs Idee des charismatischen wie verrückten Forschers gleicht einem Marlon Brando, zusammengesetzt aus dem Übergewicht seines Alters und mit den expressiven Gesichtszügen des jungen Wilden – auf den Erzähler überspringt in hektischen, aber charakteristischen expressiven Bildern einzufangen.
Trotzdem wirkt „Die Insel des Dr. Moreau“ unrund. Von den verschiedenen Verfilmungen nicht selten ohne direkte Bezüge zu H.G. Wells berühmter Parabel ragt natürlich der in den dreißiger Jahren entstandene „Island of Lost Souls“ heraus. Auch dieser Film konnte seine Geschichte in knapp mehr als sechzig Minuten erzählen, so dass eine Komprimierung des Stoffes grundsätzlich kein Problem wäre. Aber Dobbs will viel mehr als die Drehbuchautoren dieses heute unumstrittenen Klassikers. Wie in seinen anderen H.G. Wells Adaptionen geht es ihm um die perfekte Mischung aus dem zugrunde liegenden klassischen Stoff, der alle Filmversionen absichtlich ignoriert und ganz bewusst auch im zeitlichen Kontext der H.G. Wells Roman angelegt worden ist, und einer visuellen, heute Leser ansprechenden Raffung der auch ursprünglich nicht unbedingt umfangreichen Bücher.
Da „Die Insel des Dr. Morau“ im Gegensatz zu fast allen anderen H.G. Wells Romanen die direkte Konfrontation zwischen zwei Menschen beschreibt, von denen einer Einfluss über seinen Tod hinaus auf den Anderen hat, braucht ein solcher Stoff eine deutlich umfangreichere Bühne als zum Beispiel „Die Zeitmaschine“, deren erzählerische Brillanz nicht selten in nur wenige, expressive Bilder eingedampft werden kann, um diese phantastische Reise in die ferne Zukunft zu erzählen.
Alle Facetten des Romans sind ohne Frage vorhanden. Der Schiffbruch des Erzählers ist eine fast klassische wie klischeehafte Ausgangslage, die Hermann Melville benutzt hat. Interessant ist, dass H.G. Wells Geschichte dort endet – der Schiffbrüchige wird zum zweiten Mal aus dem Meer gerettet -, wo „Moby Dick“ erzähltechnisch seinen Anfang hat.
Der Plot folgt dem Muster der Vorlage. Aus der Betrachtung des „unschuldigen“ Überlebenden lernt der Leser die Insel kennen. Alle Hinweise auf Dr. Moreau und seine Experimente sind eher vage. Der Handlungsaufbau endet wie im Buch in einer grotesk schockierenden Szene, in welcher Erzähler und Leser feststellen, dass der überall „verbannte“ und von der Gesellschaft ignorierte Forscher mit „Menschen“ arbeitet. Erst später stellt sich heraus, dass er aus Tieren Halbmenschen zu machen sucht. Nicht nur körperlich, sondern die Idee ist, eine neue pazifistische Rasse zu züchten und die originären Triebe aus ihnen zu vertreiben.
Im Umkehrschluss – vielleicht ein wenig effektiver in der Comicversion herausgearbeitet als bei H.G. Wells – wären Dr. Moreaus Forschungen der Schlüssel zu einer Befriedigung der Menschheit, die am Rande des Ersten Weltkriegs ihre Konflikte nicht mehr von selbst löst, sondern aufgrund der körperlichen, noch nicht genetischen Eingriffe des Übervaters Dr. Moreau unterdrücken sollte und müsste. Dazu kommen die stringenten Regeln, die auf den ersten Blick nur gegenüber Tieren Sinn machen, auf den zweiten Blick aber eine Extrapolation der biblischen Regeln sind. Allen voran die Variation des Gebots „Du sollst nicht töten“, in dem die Tiere kein Blut zu sich nehmen sollen.
Geschockt flieht der Erzähler in den Dschungel und lernt eine andere, eine sich im Schatten ausbildende Gesellschaft kennen, die vordergründig den Regeln Dr. Moreaus folgt, um nicht im Haus der Schmerzen zu landen und dort seziert zu werden. Aber die Urinstinkte lassen sich kaum unterdrücken. Interessant, aus heutiger Sicht fast archaisch ist die Idee, das mit der Umgestaltung des Körpers auch der Intellekt sich formen lässt. Zwar erlässt Dr. Moreau eine Reihe von Geboten, die aus den Tieren Menschen „machen“ sollen, aber spätestens mit dem Aussetzen der Kaninchen auf der Insel wird dieses Gleichgewicht ins Wanken gebracht. Wie schnell die Schranken der Zivilisation anschließend fallen, hat Wells in seinem Roman deutlich vielschichtiger, ambitionierter und sozialkritischer dargestellt als es in Comicform möglich ist.
„Die Insel des Dr. Moreau“ entwickelt sich anfänglich ruhig, fast gemächlich mit einer angesichts der Gesamtlänge erstaunlich gedehnte Exposition, in deren Verlauf sehr viel gesagt wird, ohne das die Handlung vorangetrieben erscheint. Immer wieder machen Wells und Dobbs deutlich, welche rauen Sitten an Bord der Frachter herrschen und wie wenig ein Menschenleben zählt. Die Idee wird sich teilweise aus umkehrter Perspektive wie ein roter Faden durch die ganze Handlung ziehen, bis schließlich während des Finales vor allem der nackte Überlebenswille herrscht.
Da Dobbs und sein Zeichner Forentino sich vor allem auf die einzelnen Stimmungen konzentriert haben und die Insel in ihren viel unterschiedlichen Facetten beginnend an den weißen Stränden und endend in den Dschungelhöhlen zeigen, gehen die einzelnen Figuren ein wenig unter. Der Konflikt zwischen zwei sehr unterschiedlichen Menschen – der Erzähler auf der einen Seite und Dr. Moreau als charismatische, aber nicht allgegenwärtige Figur auf der anderen Seite – entwickelt sich fast hektisch, einzelne Szenen überstürzend, um dann aus dem Nichts heraus zusammenzufallen. Dadurch wirkt die abschließende Idee der Stabübergabe mit dem immer mehr um sich greifenden Wahnsinn auch zu wenig vorbereitet. Vor allem weil Dobbs nicht den Raum hat, um im Gegensatz zum Wells Roman oder auch der in diesem Punkt sehr überzeugenden lockeren Adaption „Island of Lost Souls“ die einzelnen Standpunkte gegenüber zu stellen. In Wells Buch ist Doktor Moreau auch wahnsinnig, von sich eingebildet und agiert moralisch verwerflich, der Roman gibt ihm aber auch eine interessante, streitbare Persönlichkeit in der Tradition von Jules Vernes Antihelden wie Kapitän Nemo und Robur. Überdurchschnittlich intelligente Menschen, besessen von ihren Ideen. Während allerdings Nemo Unrecht erfahren hat, agieren Robur und Doktor Moreau vor allem unter dem Deckmantel der fadenscheinigen Entschuldigung, dass die Menschheit ihre Ideen, ihre Thesen und vor allem ihre Aktionen aus Dummheit ablehnt.
Der Erzähler ist absichtlich ein starker Kontrast zu Moreau. Um so schockierender ist seine zumindest zeitweilige Positionierung als Moreaus in mehrfacher Hinsicht Nachfolger und nicht als ausgleichendes Element, welches das an den Tiermenschen begangene Unrecht zwar nicht ausgleichen, aber zumindest relativieren kann. Das Comic hat zu wenig Raum, um diese interessante, im Roman sehr viel stärker entwickelte Idee ausbalanciert und zu präsentieren und den Leser noch einmal abschließend zu provozieren.
Durch diese notwendige Oberflächlichkeit wirkt „Die Insel des Dr. Moreau“ unabhängig von den wieder überzeugenden Graphiken hektischer, dem Stoff nicht würdig genug und vor allem unrund. Erst die Kombination des Originalromans macht Dobbs und Forentinos Adaption zu einem vor allem auf der visuellen Ebene zufrieden stellenden Lesevergnügen und stellt optisch interessant umgesetzt die scharfe allgemeine Kritik H.G. Wells teilweise auch fürs 21. Jahrhundert gültig heraus.
- Gebundene Ausgabe: 56 Seiten
- Verlag: Splitter-Verlag; Auflage: 1., (16. November 2017)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3958395058
- ISBN-13: 978-3958395053