Menschen minus X

Raymond Z. Gallun
"Menschen minus X" spielt im gleichen Universum wie der neu im Apex Verlag aufgelegte Roman "Tödliche Träume". In beiden Romanen wird die Idee einer virtuellen Realität als Ersatz wie das langweilige Leben angesprochen, aber "Menschen minus X" ist ein ambitionierterer abenteuerlicher Roman, dessen Auftakt lange Zeit auch die Richtung vorgibt. Vor allem geht es nicht mehr um die Schaffung, Erhaltung oder den Kampf gegen fiktive Welten, der Autor geht in Manier Frankensteins einen Schritt weiter. Um die Erhaltung der Menschen und die Wiederschaffung vor allem durch Unfälle verstorbener Menschen in Form einer Transplantation des gepeichterten Gedächtnisses oder die Entnahme der Persönlichkeit, des Bewusstseins aus einem sterbendem Körper und der Übertrag in einen Neuen.
 
Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag. Auf der rückwärtigen Seite des Mondes haben die Menschen nicht nur Laboratorien und einen Teil ihrer Wirtschaftskraft konzentriert, sondern auch atomare Kraftwerke. Als eines dieser Werke explodiert, kommen fast alle Menschen ums Leben.  Gallun erzählt die erste Hälfte des Romans aus der Perspektive des jungen Ed Dukas. Sein Onkel Mitch Prell ist einer der bekanntesten Wissenschaftler, dessen Erfindung Vitaplasm ein synthetisches, aber auch lebendiges Fleisch ist. Eine zweite Haut. Sie kann nicht nur - medizinisch ambivalent -  Organe und Haut nachwachsen lassen, entsprechende Wunden ein. In Galluns Phantasie ermöglicht sie es sogar, einen ganzen Körper neu entstehen zu lassen, in welchen wie angesprochen das Bewusstsein des Sterbenden oder sogar Toten in einer kurzen Zeitspanne übertragen werden kann. Solange es keine Hirnverletzungen gibt.
Die finale Stufe ist der Überandroid, der mit der Haut ausgestattet sich von Licht oder sogar Radioaktivität "ernähren" kann. Tragisch ist es, dass Ed Dukas Vater ebenfalls auf dem Mond ums Leben kommt. Sein Gehirn ist unrettbar geschädigt, eine Wiedererweckung in bekannter Form und Persönlichkeit ist nicht möglich.
 
Die Explosion des Mondes löst diesen in eine Art Asteroidengürtel auf. Die auf die Erde stürzenden Trümmer lösen Chaos und Verwüstung aus.  Ohne Beweis wird Mitch Prell als einziger Überlebender gebrandmarkt. Eds Vater wird zwar wiederbelebt, aber die Familie nimmt diesen Fremden im Grunde mit Skepsis auf, während überall andere "Tote" unversehrt zu ihren Familien zurückkehren. 
 
Der Auftakt des Romans ist fast klassisch. Ein hohes Tempo, ein Feuerwerk von Ideen und eine fast bizarre Handlung. Gallun scherrt sich wenig um hintergründige Logik, sondern will seine Geschichte erzählen. Auffällig ist, dass er immer die Balance zwischen großen Szenarien wie der kompletten Zerstörung des Mondes und der intimen familiären Perspektive dank des Neffen Ed Dukas als Identifikationsfigur des Lesers findet. Die Versuchung der virtuellen Realität - ein wichtiger Knotenpunkt in "Tödliche Träume" - wird gleich zu Beginn relativiert, in dem Ed Dukas davor gewarnt wird, immer wieder in diese Sphäre zu fliehen, sondern sich echten Aufgaben in der Realität zu stellen.
 
Die Tragik des Todes, des plötzlichen Verlusts wird auf der einen Seite als kurzzeitiger Übergang dargestellt, aber natürlich auch tragisch durch den Verlust Ed Dukas Vater, der nur als Android zurückkehren darf. Entfremdet von der Familie verstärkt er noch Mitch Prells Schuldgefühle, obwohl der Hintergrund der seltsamen Mondexplosion niemals abschließend erklärt wird.  Ed und seine Mutter müssen durch ihre Sippenhaft die Erde verlassen.
 
In "Tödliche Träume" ist der Krieg schließlich nicht zum Vater des Fortschritts, sondern als Mittel gegen die Lethargie wieder eingeführt worden. "Menschen minus X" beschreibt in der zweiten Hälfte den Konflikt zwischen Menschen und den neu erschaffenen Androiden mit menschlichem Bewusstsein.    
 
Die Konflikte zwischen Androiden - den neuen Menschen - und den Erdbewohnern als Vertretern der alten Klassen eskalieren. Anscheinend soll Mitch Prell hinter den Aufständen stecken. Ein kleiner HInweis weißt Ed Duka den Weg, der sich zusammen mit seiner Freundin auf die Suche nach dem Onkel macht.
 
Raymond Galluns Roman ist ein Kuriosium. Unterschiedliche Ideen werden fast beiläufig in die Handlung gepackt. Das erzkonservative fast neochristliche Gedankengut aus den fünfziger und sechziger Jahren scheint durch. Im Gegensatz zur kommunistischen Gesellschaft in "Tödliche Träume", die unproduktiv vom Allgemeingut leben, wirkt "Menschen minus X" brisanter. Zufriedenstellend arbeitet der Autor allerdings den Unterschied zwischen den Androiden mit den Menschengehirnen und den zurück gebliebenen Terranern nicht heraus. Es stellt sich die Frage, ob es besser ist, um einen geliebten Menschen abschließend zu trauern oder diese überlegene Inkarnation zu akzeptieren. Eine Position, die Gallun nicht einnehmen möchte.
 
Im letzten Viertel wird aus dem Plot eine Science Fantasy Geschichte. Tausendfach verkleinert kehren Ed Duka und seine Freundin mit einem Helfer zur Erde zurück. Sie haben entsprechende Neutronenpistolen entwickelt, deren Rückstoßkraft sie im Raumanzug zur Erde bringet. Das wirkt schon absurd, aber ihre Siganesengröße ermöglicht es ihnen, in den Anführerasteroiden einzudringen und den Bruderkampf zu beenden. Dabei schwankt Gallun zwischen heroischen Reden, phantastisch unwissenschaftlichen Hintergrundinformationen, dem klischeehaften Erfindungsgeist der Pulps und der angesprochenen sozialen Kritik hin und her. Nicht selten überschlagen sich die Ereignisse und einzelne Übergänge zwischen den Positionen wirken trotz der interessanten Ideen bemüht.
 
Es ist schade, dass Gallun das politisch zeitlose Thema der neuen Menschen nicht weiter extrapoliert hat. Sie erscheinen mit ihren Fähigkeiten nicht nur notwendig, sondern elementar für den Fortbestand einer Gesellschaft zu sein, die durch die Explosion auf dem Mond ihre wissenschaftlich geistige Elite verloren hat. Vor allem wirken die einzelnen Vorwürfe teilweise absurd, da der Autor betont, dass die Menschen sich ja auf das Kopieren, das Speichern der Identitäten auch vorbereitet haben und so von der im Grunde sanften Dominanz nicht wirklich überrascht werden konnten. Der Konflikt in "Tödliche Träume" steht in einem krassen Gegensatz, da hier das Erwachen der Menschheit aus der virtuellen Realität propagiert wird, während "Menschen minus X" deutlich macht, das ohne die überlegene intellektuelle "Kraft" der Androiden ein Aufrechterhalten des gegenwärtigen Lebensstandards nicht wirklich möglich ist.
 
Die Reduktion der Konflikt auf eine interne Familienangelegenheit hilft dem Leser zwar, die zahllosen Ideen und inhaltlichen Bruchstücke besser einzuordnen und die sprunghafte Handlung besser zu verstehen, sie bürgt aber auch die Gefahr, das wesentliche Aspekte auf eine persönliche Ebene reduziert werden. In dieser Hinsicht verliert vor allem die zweite Hälfte des Romans an Tiefe und konzentriert sich auf eine Abfolge ohne Frage spannender, aber auch surrealistischer Szenen.
 
Auch in der deutschen Übersetzung wirken die Dialoge und vor allem auch einige der Beschreibungen eher pragmatisch und nicht kontinuierlich entwickelt. Nicht selten versucht Gallun dem Leser zu viel auf einmal zu sagen, ohne auf eine fließende Struktur zu achten und daraus resultierend auch auf eine zufriedenstellende Handlungsführung. Auf der anderen Seite findet man selten ein Pulpabenteuer, das mit einer lunaren Katastrophe beginnt, dann die MIssion von Miniaturmenschen durchs All beschreibt und schließlich in der Aussiedelung aller Androiden von der Erde ins benachbarte Sonnensystem inklusiv der Gründung neuer Familien endet. "Menschen Minus X" ist eine wahre Pulpodyssee, lockerer Hand geschrieben und unlogisch phantastisch.

Dörnersche Verlagsgesellschaft
Düsseldorf
Jahr1959
OriginaltitelPeople Minus X
Originaljahr1957
ÜbersetzerPeter Th. Clemens
TitelbildRolf Illert