Clarkesworld 160

Neil Clarke (Hrsg)

Als Neil Clarke die einleitenden Worte zur ersten Ausgabe des Jahres 2020 verfasste, konnte er nicht ahnen, das seine Auftaktstory einen derartigen Shotstorm bei Twitter auslösen würde, dass sich Herausgeber und Autor entschlossen haben, die Geschichte zumindest von der Internetseite, aber noch nicht den Kindle oder gedruckten Ausgaben zu nehmen.

 Über den Autor Isabel Fall ist nur das Geburtsdatum in „ Clarkesworld“ veröffentlicht worden. Ohne Frage ein weiterer Grund, warum sich viele Menschen aufgeregt haben. „I sexually Identify as an Attack Helicopter“ ist in vielen Punkten ohne Frage eine literarische Provokation, die zum Nachdenken anregt und vor allen in seinen historischen Bezügen auch bittere Wahrheiten ausspricht, die keine Internetdiskussion der Welt ausräumen kann. Barb als Erzählerin und Axis als ihr Bordschütze sind keine Cyborgs oder Androiden oder künstliche Intelligenzen. Äußerlich erscheinen sie wie normale Soldaten, aber eine neue umstrittene Methode ermöglicht es, Teile des Gehirns zu manipulieren, das die Persönlichkeit vor allem auf geschlechtlicher Ebene bestimmt. Dadurch sind die bessere Soldaten in einem inneramerikanischen Bürgerkrieg.

Der Hintergrund der Geschichte mit den in Kleinstaaten zerfallenen USA, die sich gegenseitig bekämpfen, wirkt ein wenig zu statisch konstruiert. Vielleicht liegt es an der subjektiven Perspektive des Erzählers oder Isabel Fall hat es nicht als notwendig erachtet, ausführlicher über diesen Aspekt zu schreiben.

Es ist der zwischenmenschliche Ansatz, der provoziert. Barb ist Transgender und schreibt offen darüber. Sie erzählt von ihrer Entwicklung, die in nicht nur der Symbiose mit Axis, sondern auch der Verschmelzung mit ihrem Apache Hubschrauber gipfelte. Diese Abschnitte sind unangenehm und gleichzeitig ausgesprochen verständlich geschrieben worden. Ohne Frage provozieren sie Menschen, die mit ideologischen Scheuklappen durch die Welt laufen und deren Moralverständnis im 19. Jahrhundert stecken geblieben ist.

 Die Schwäche der Geschichte ist, dass unabhängig vom stilistischen Husarenritt, den inneren Monologen und der fortlaufenden verbalen Provokation der Leser auf eine erstaunlich unterhaltsame Art und Weise der Funke von Barb als Erzählerin zu wenig auf den Leser überspringt und dadurch der Text sehr viel an Potential verliert. Wahrscheinlich wäre es sinnvoll, dass Isabel Fall den ganzen Text zu einer Novelle überarbeitet, aber dabei nicht aus den Augen lässt, das es ihr/ ihm gelungen ist, in den Menschen Reaktionen zu erwecken. Und das ist grundsätzlich großartig.

 Die beste Geschichte dieser Ausgabe ist ohne Frage „Monster“ von Naomi Kritzer. Eine Wissenschaftlerin reist nach China auf der Suche nach ihrem besten platonischen Freund Andrew, der ihre Forschungen gestohlen hat, um Experimente an Menschen durchzuführen und sie zu stärker Wesen zu machen. Viele der Freiwilligen sind dabei gestorben. Auch wenn das Ende verhalten optimistisch erscheint, bleiben viele Fragen offen. Cecilys Forschungen an sich sind auch ohne Andrews perfide Ergänzungen zu wichtig, als das vor allem die amerikanischen Geheimdienste sie ignorieren werden.

Auch wenn Cecily konsequent wie schockierend handelt, ist sie kein schlechter Mensch. Die Rückblenden im Grunde beginnend mit ihrer Schulzeit lassen sie nicht nur menschlich und verletzlich trotz ihrer hohen Intelligenz erscheinen, sie unterstreichen ihren Willen und ihre Entschlossenheit. Sie ist eine dreidimensionale Figur, die Andrew freundschaftlich liebt und jobtechnisch hasst. Der Leser kann ihre Gedanken auf dieser exotischen Reise verfolgen und irgendwie schafft es Naomi Kritzer, ihre eigen Variation von „Heart of Darkness“ in wenigen Worten zu verfassen und die Leser an sich zu binden.

 Neben den Beiträgen aus Korea oder China greift Neil Clarke auch gerne immer wieder auf europäische Autoren zurück. „The AI That Looked at the Sun“ stammt aus der Feder des Osteuropäers Filip Hajdar Drnosek Zorko. Eine künstliche Intelligenz möchte unbedingt die Sonne sehen und wieder sehen. Mit diesem Wunsch wächst ihre eigene Intelligenz, da sie Mittel und Wege sucht, um an den Menschen vorbei den innigen Wunsch zu erfüllen. Während der wissenschaftliche Hintergrund sehr stark konstruiert und vor allem nicht überzeugend ist, gelingt es dem Autoren, eine erstaunlich sympathische, auch sehr menschliche künstliche Intelligenz zu entwickeln, deren Sehnsüchte der Leser ohne Probleme nachvollziehen kann. Auf der anderen Seite wird aber nicht ausreichend genug herausgearbeitet, ob diese menschliche Regungen ein Teil der inneren Entwicklung ist oder wie mehrfach angedeutet als Subroutine im Vorwege schon eingepflegt worden ist. Letzteres macht keinen Sinn.

 “The Last to Die“ von Rita Chang- Eppig ist eine dieser emotionalen asiatischen Geschichten, die hintergründig keinen echten Sinn ergeben, aber zumindest vordergründig sehr gut unterhalten. Eine Frau aus Glas und ihr kranker Begleiter landen auf einer einsamen Insel, wo alte Menschen leben, die ihre Identitäten nicht in der Cyberspace hoch laden konnten. Die Frau bittet um Aufnahme auf dieser besonderen Insel. Der Konflikt zwischen den im Grunde letzten echten Menschen und der ihnen verschlossenen Zukunft, welche die Frau symbolisiert, ist das belebende Element dieser Geschichte. Ein großes Problem ist das offene Ende, das die im Leser erweckte Erwartungshaltung nicht befriedigt. Interessant ist weiterhin, dass der soziale Hintergrund dieser futuristischen Welt nicht weiter beleuchtet wird, so dass er kritische Ansatz im Grunde ins Leere geht.

 Chen Quifan präsentiert im Grunde mit „The Ancestral Temple in the Box“ einen guten Gegenentwurf. Auf seinem Sterbebett bietet der Vater seinen Sohn, nach einem alten Tempel zu suchen, der sich anscheinend in der virtuellen Realität befindet. Zu den Stärken dieser Geschichte gehört weniger die Suche, als das sie wie ein Katalysator wirkt. Der Sohn als modern denkender Mensch muss erkennen, dass nicht nur die Traditionen und das Handwerk des Vaters einen wichtigen Platz innerhalb der Familie und außerhalb in seinem sozialen Umfeld darstellte. Auf der anderen Seite hat der Vater ohne es anzumerken sehr viel früher die intellektuellen Leistungen seines Sohns bewundert. Am Ende steht eine perfekte, interessante und das Herz erwärmende Synthese aus beiden Welten.

 I  - Hyeng – Yuns Novelle „The Perfect Sail“ ist der koreanische Beitrag. Eine reiche Frau sucht in verschiedenen Multiversen nach Kopien ihrer selbst. Sie bietet den sterbenden Variationen an, von ihr aufgenommen zu werden. Interessant wird es, als sie sich selbst als Frau eines archaischen Clans begegnet.

 Das größte Problem ist die Struktur. Zu viele Informationen verbergen den eigentlichen Plot, der sich schwerfällig entwickelt. Die Protagonistin ist unsympathisch beschrieben worden. Ihre Mission ergibt nur bedingt einen Sinn. Der wissenschaftliche Hintergrund besteht eher aus Phantasie mit Millimeter kleinen Inkarnationen, die sich auf der anderen Seite unglaublich schnell bewegen können. Das Ende soll poetisch sein. Wären die einzelnen Inkarnationen besser gezeichnet und vor allem neben der eher holprigen Übersetzung der Plot besser strukturiert worden, wäre die Novelle  ohne Frage ein Höhepunkt dieser Ausgabe. So bedauert der Leser einige der verschenkten Chancen.

 Neben den einleitenden Worten Neil Clarkes findet sich im sekundärliterarischen Teil ein Artikel über neue Entdeckungen in der „DNA“ Forschung. Es finden sich auch zwei sehr ausführliche Interviews in der neuen „Clarkesworld“. Das Gespräch mit Walter Jon Williams ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Er berichtet über die literarischen Wellen, denen er sich zu Beginn seiner Karriere stellen mussten. Als historische Romane nicht mehr in waren, wollte er eine Trilogie verkaufen. Und als die Science Fiction ihrem „Ende“ entgegen ging, arbeitete er an einem umfangreichen Epos. Der Autor spricht auch über seine mehrjährigen Schreibblockaden und die Umstände, mit denen er da Geld zu verdienen suchte. Ein erfrischend ehrliches und nachdenklich stimmendes Interview.

 Das zweite Gespräch ist mit der Künstlerin Victo Ngai. Noch besser als bei Walter Jon Williams arbeitet Arley Sorg sehr viel von ihren Erfahrungen, aber auch ihrem fast grenzenlosen Optimismus heraus, ohne die Leser und vor allem auch den Gesprächspartner mit Standardfragen zu langweilen. Nichts gegen den bodenständigen Chris Urie, aber Arley Sorg hat in den letzten Interviews bewiesen, das es immer noch einen Schritt besser geht.

 Zusammengefasst ist die erste „Clarkesworld“ Ausgabe des Jahres 2020 ein solider Start mit einigen sehr guten und vor allem provokanten Texten, wobei Neil Clarke überlegen sollte, die umstrittene Geschichte von Isabel Fall wieder auf die Homepage zu nehmen. Es ist schade, dass momentan die Texte aus Korea schwächer als ihre chinesischen „Partner“ erscheinen. Vor wenigen Monaten war das Verhältnis noch umgekehrt und während die chinesische Science Fiction inzwischen überall Aufmerksamkeit erregt, wären Arbeiten aus anderen Ländern eine Bereicherung. Zum Zeitpunkt der Publikation der „Clarkesworld“  Nummer 160 stand auch noch nicht fest, ob die Kooperation in Hinblick auf Korea überhaupt monetär fortgesetzt werden kann. 

   

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E Book, 112 Seiten