Roter Mond

Benjamin Percy

Benjamin Percys “Roter Mond” baut auf der Grundidee von Stablefords “Empire of Fear“ nur mit Werwölfen statt Vampiren auf. Eine alternative, aber vertraute Welt, in der Menschen und Werwölfe zumindest in der Theorie nebeneinander leben können. Es ist das Portrait des 21. Jahrhunderts, in dem der Terror und die Paranoia Kontrolle über die USA übernommen und erzkonservativen politischen Kräften Tür und Tor geöffnet haben. Es ist gleichzeitig im Hintergrund das Portrait eines fiktiven Werwolfstaats, der nicht umsonst an Israel und dessen Gründung erinnert. Nur leben die Werwölfe in einem unwirtlichen Landstrich zwischen Russland und Finnland, auf dem zur Freude der amerikanischen Freundschaftstruppen reichhaltige Uranvorkommen entdeckt worden sind, welche die USA unter dem Deckmantel einer Schutztruppe – wie im Irak – ausbeutet.

Es ist aber auch eine Familiengeschichte, in der einer neuen Generation vermittelt wird, dass ihre Eltern über mehr Geheimnisse verfügen als sie ihnen zugestehen wollen. In welcher der bewaffnete politische Widerstand gegen Unterdrückung einen hohen Preis fordert und weiterhin fordern wird.

„Roter Mond“ ist keine Modernisierung aller Ideen des Werwolfgenres, sondern die Versetzung bekannter Versatzstücke – die Verwandlung, die gesteigerte Libido, das Tier im Menschen und schließlich auch die Blutlust – in unsere Gegenwart mit einem eindrucksvollen, schockierenden, die düsteren Warnungen insbesondere der radikalen Politiker erfüllenden Prämisse.Diese werden allerdings auch gleichzeitig gegen Ende des trotz seines Umfangs ausgesprochen stringenten Konzeptes ad absurdum geführt. Nicht umsonst ist eine der Kernaussagen des Buches, dass 30.000 Dollar die USA zu Fall bringen können und das Land am Ende in die vielleicht kurzzeitige Barbarei stoßen.

Wie es sich für derartige Epen gehört, ist es wichtig, nicht nur verschiedene Anta- und Protagonisten zu etablieren, die an vielen Brennpunkten des Geschehens präsent sind, sondern aus dieser persönlichen Perspektive heraus das Geschehen auf Augenhöhe der Leser auszubreiten. Die Werwölfe – Lykaner genannt – sind vergleichbar mit den Farbigen der amerikanischen Geschichte. In den wilden sechziger Jahren haben sie sich als amerikanische Staatsbürger zum Teil mit politischen Schriften, aber auch brennenden Barrikaden oder Bombenanschlägen gegen ihre Unterdrückung gewehrt und die Unabhängigkeit auf dem Papier zumindest erstritten. Sie müssen regelmäßig Drogen nehmen, welche den Drang zur monatlichen Verwandlung unterdrücken. Ärzte sollen das bescheinigen. Natürlich gibt es Sympathisanten, welche diese Bescheinigungen fälschen und den nicht selten in kleineren Gemeinden lebenden Werwölfen auch die Möglichkeit schenken, im Geheimen den Wolf/ die Bestie rauszulassen.

Die Welt ändert sich mit einem von zwei Flugzeuganschlagen. In diesem Fall ermorden Werwölfe die Passagiere von drei Maschinen in einer konzertierten Aktion. Nur einer der zukünftigen Protagonisten Patrick – sein Vater ist gerade einzogen worden – überlebt, weil er sich unter einer Leiche versteckt. Patrick wird zum Helden, muss aber zu seiner Mutter ziehen, die sich vor Jahren hat scheiden lassen und als erfolgreiche Immobilienmaklerin in einer der aufkommenden Satellitenstädte - vormals von Werwölfen bewohnt – lebt und arbeitet.

Dieser Terroranschlag ist Wasser auf die Mühlen der erzkonservativen Kräfte mit dem Gouverneur Chase Williams. Die Folgen für die unschuldigen Werwölfe sind umgehend zu spüren. Es kommt zu Verhaftungen und Hinrichtungen. Die Familie der jugendlichen Claire Forrester gehört zu den Opfern der Säuberungen. Sie kann in letzter Sekunde mit einer verschlüsselten Nachricht ihres Vaters hinsichtlich eines möglichen Verstecks und 200 Dollar in der Tasche fliehen.

Um diese drei wichtigen guten wie bösen Charaktere – es sind Patricks und Claires Reisen durch eine sich immer düsterer entwickelnde USA sowie Chase Williams auf den ersten Blick unaufhaltsamer Aufstieg an die Spitze eines Landes, das er am Wahlabend gar nicht mehr so haben möchte – herum hat Benjamin Percy eine Reihe von sehr interessanten, vielschichtigen, nicht immer subtilen Nebenfiguren platziert.  

Patrick und Claire werden – eher Themen eines Jugendbuches, aber hier effektiv umgesetzt – aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen und müssen teilweise gegen den eigenen Willen schneller erwachsen werden als es ihnen lieb ist. Patrick spürt die Folgen dieser gewalttätigen und gewaltbereiten Lykaner am eigenen Leib und hat zukünftig zwar Respekt vor ihnen, muss sich allerdings auch den Folgen in der eigenen Familie stellen. Wie bei einigen anderen Nebenfiguren verwischen allerdings schnell die Spuren zwischen Opfern (normale Menschen, die sich über einen Biss angesteckt haben) und Tätern ( Werwolfterroristen, faschistische Politiker und ihre sadistischen Helfer). Claire Forrester geht den entgegengesetzten Weg. Sie kommt aus einer Familie von Werwölfen und muss sich auf eigene Füße gestellt mit der Menschenwelt auseinandersetzen. Ihre Tante zeigt ihr die Folgen eines zu späten Handeln auf. Es ist kein Zufall, dass sich am Ende trotz ihrer jeweilig konträren Odyssee Patrick und Claire schließlich mit dem Schlüssel einer möglicherweise positiven Zukunft wiederfinden.   

Chase Williams ist eher eine Karikatur eines Politikers, der erst zu spät erkennt, erkennen muss, dass seine reaktionäre und Werwolf feindliche polemische Politik einen Sturm gesät hat, der die USA schließlich nicht nur zerbrechen lässt, sondern in weiten Teile unbewohnbar macht. Chase Williams ist der typische „dumme“ Politiker vom Lande, der sich von seinem lebenslangen Helfer Puck – eine verachtenswerte, sadistische Schattenfigur, die ihre Gelüste nur über andere im Vordergrund stehende Menschen befriedigen kann – auf dem Weg ins Weiße Haus mit einem Gegner anlegt, der rücksichtsloser und hinterhältiger als er selbst ist. In Puck – Opfer bei einem Bombenanschlag der Werwölfe – und Williams manifestieren sich die Ängste der Vor Obama Politiker vor dem Fremden – die Werwölfe lassen sich ohne Probleme gegen japanische Mitbürger während des Zweiten Weltkriegs oder Moslems unmittelbar nach den Anschlägen des 11. Septembers austauschen – und ihre panischen Reaktionen auf die potentiellen Schatten in erster Linie des eigenen Treibens. Nicht umsonst wird Chase Williams in einem japanischen Badehaus in einem der Rotlichtviertel der amerikanischen Großstadt angegriffen und gebissen. Seine Verwandlung in einen Werwolf versucht Puck mit Medikamenten und schließlich mit einem erpressten Wissenschaftler und seinen „DNA“ Untersuchungen aufzuschieben. Wenn Chase Williams als Werwolf seine Libido verliert und in doppelter Hinsicht zu einem Voyeur wird, ist die ironisierte politische Kommentierung gegenwärtiger Tendenzen perfekt. Bei den Antagonisten überzeugt Puck noch mehr als Chase Williams, da er mit seiner schwierigen Persönlichkeit, seinem hinterhältigen Hang zum passiven Sadismus – er lässt meistens foltern – und seiner politischen Ambivalenz, Williams zu einem Schattenpräsidenten aufzubauen der gefährlichere Mann ist.

Neben Patrick und Claire, Puck und Chase Williams sind es Protagonisten wie Claires Tante Miriam – ihr Mann war im Widerstand und obwohl sie schon lange von ihm getrennt lebt, muss sie ihn fast gegen ihren Willen aus den Händen der Regierung retten – oder Patricks Vater, der seinen patriotischen Einsatz mit schweren Verletzungen bezahlen muss - , welche angesichts der zahlreichen nebeneinander her laufenden Handlungsebenen, die elegant und unauffällig am Ende miteinander verbunden sind, dem Roman eine erstaunliche Tiefe und eine emotionale Überzeugungskraft geben. Die Werwolfanführer wie Balor und Magog erscheinen insbesondere im Vergleich zu Puck noch rücksichtsloser, tierischer und verschlagener. Der Aufbau eines neuen Werwolfreiches geht auch über die Leichen der eigenen Angehörigen. Über Millionen von Tote. Vielleicht hätte man Balor dreidimensionaler und nuancierter beschreiben können, aber angesichts der zahlreichen sehr gut beschriebenen Protagonisten braucht ein Buch auch einmal zynisch überspitzt Symbole bzw. Fanale auf dem Weg in den Abgrund.

Die Handlung teilt sich in persönliche Tragödien und Triumphe sowie größere politisch terroristische Strömungen auf. Diese beiden stehen in einem sehr engen Zusammenhang, bedingen sich teilweise und geben so aus einer emotionalen Perspektive einen ausschließlich subjektiven Einblick in das Geschehen. Benjamin Percy verzichtet im Grunde auf einen übergeordneten Erzähler und mit seinem absichtlich fokussierten Stil – immer wieder beschwört er neben dunklen Vorahnungen auch eine beklemmend paranoide Atmosphäre herauf – inklusiv sehr emotionaler Szenen macht er das ganze Szenario für den Leser greifbarer, nachvollziehbarer, aber auch wie für seine geschundenen Protagonisten intensiver. Die Identifikation mit den Charakteren ist insbesondere zu Beginn des Buches perfektioniert. Percy stellt dem Leser die Stärken und Schwächen, die menschlichen wie bestialischen Seiten seiner Werwölfe vor, verzichtet auf jede Beurteilung und überlässt das Urteilen bis hinzu zu Vorurteilen, die geschickt wieder aufgelöst werden, anderen. Dabei scheut sich Benjamin Percy auch nicht, die „Helden“ an ihren dunklen Seiten zu definieren. Lykanthropie ist bei Percy weniger ein Fluch oder Aberglaube, sondern eine durch Biss übertragene genetische Erkrankung, welche den Menschen monatsweise zu einer Bestie macht. Diese Verwandlung verfolgt der Leser bei einigen Charakteren entweder letztendlich als Kapitulation vor dem Erbe der Familie oder als Ausbruch aus den einengenden gesellschaftlichen Pflichten. Dabei reicht das Spektrum von der abgeschlossenen Turnhalle, wo die Studenten den Wolf rauslassen, bis zu Chat Williams, der mehr und mehr zu eine Bestie wird und seine bislang verbal artikulierten Wünsche befriedigt. Miriam scheut sich nicht, Menschen zu töten, wird aber auf der anderen Seite gefangen, gefesselt und immer wieder vergewaltigt zu einem Lustobjekt einer anderen Interessengruppen. Claire ergibt sich letztendlich ihrer tierischen Seite, nachdem sie mit den üblichen Teenagerproblemen kurze Zeit konfrontiert worden ist. Patrick idealisiert seinen Vater, verdammt kurze Zeit nach Entdeckung ihres Geheimnisses seine Mutter, zieht in den Krieg und lernt die menschliche Brutalität, welche den Werwölfen in Nichts nachsteht, kennen.  Dabei dient die Gewalt weniger der Befriedigung voyeuristisch sadistischer Triebe, sondern sie ist Ausdruck einer insgesamt gewalttätigen Zeit. Vielleicht kann man Benjamin Percy den Vorwurf machen, dass die beiden großen terroristischen Anschläge in und mit Flugzeugen stattfinden, aber sie sind von der Planung her perfide unterschiedlich, so dass diese Art von „Wiederholung“ weniger stört.  

„Roter Mond“  ist aber eine der wenigen Werwolfromane, der als Politthriller auch ohne die phantastischen Elemente funktionieren könnte. Es wäre immer noch ein subversiver, provozierender, allerdings auch nur Fragen aufwerfender und sich jeder Stellungnahme enthaltender Roman, dessen einzelne Facetten bzw. Handlungsebenen mehr oder minder frontal im fulminanten Schlussdrittel zusammenlaufen. Benjamin Percys absolutistischer Stil verhindert, dass die Handlung zu sehr sich aufspaltet. Regierungskritisch, aber nicht nur sozialistisch fremdelnd zeigt der Autor klar und deutlich auf, welche Folgen eine zu dominante, zu unterdrückende Politik gegenüber Minderheiten jeglicher Colour hat. Das die im Kleinen angefangene Spirale der Kontrolle, der Gewalt und der Überwachung sich schließlich in einer Welle der terroristischen Gewalt entladen wird, welche die Verursacher genauso überfordert wie Täter selbst. Am Ende des Romans gibt es nur wenige Überlebende, von Unschuldigen kann nicht mehr die Rede sein. Und wenn die finale Konfrontation zwischen Patrick und Chase Williams an John Carpenters „Die Klapperschlange“ erinnert ist das angesichts der cineastischen und trotzdem eindringlichen Beschreibung vieler Ereignisse ein würdiger Abschluss einer intensiven Lektüre, die auf interessante Art und Weise das Potential des von Vampir in die Ecke gedrängten Werwolfgenres auf eindrucksvolle und herausfordernd lesenswerte wieder präsent macht.  Formularende

 

Originaltitel: Red Moon
Originalverlag: Grand Central, New York 2013
Aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl

Deutsche Erstausgabe

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 640 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-7645-3123-2