Viele eingefleischte Sherlock Holmes Fans stellen sich die Frage, wie weit eine Hommage gehen darf, damit sie noch mit den Originalen zu vergleichen ist. Ein beratender Detektiv alleine reicht nicht aus, um eine Geschichte dem Kanon zuzuordnen. Ein beratender Detektiv mit deduzierenden Fähigkeiten und ein neuer in einem zurückliegenden Krieg traumatisierter, aber gutmütiger Partner und Helfer helfen in dem Punkt weiter.
Die in Paris lebende Autorin Aliette de Bodards gehört zu den jungen hellen Sternen am Firmament der Science Fiction Literatur mit sehr vielschichtigen Kurzgeschichten, einer Handvoll phantastischer Romane und mehr Preisen als viele etablierte Autoren des Genres. Sie erhielt dreimal den NEBULA Award als einer der beiden wichtigsten Science Fiction Preise, dazu einen Locus, viermal den British Science Fiction Award und einen britischen Fantasy Award.
Eine der Nebula Awards ist ihr 2018 für die beste Novelle des Jahres verliehen worden: The Tea- Master and the Detective. Die Novelle spielt wie inzwischen mehr als dreißig Kurzgeschichten und Novellen im XUYA Universum. In einer fernen Zukunft besteht das bekannte Universum aus einer Reihe bewohnbarer Planeten, die sich verschiedenen galaktischen Imperien basierend auf vietnamesischer und chinesischer Kulturen. Die asiatische Rasse dominiert die bekannte Galaxis. Es ist nicht notwendig, andere Geschichten aus diesem Universum zu lesen, um „The Tea- Master and the Detective“ schätzen zu lernen.
Aliette de Bodard geht bei ihrer Sherlock Holmes Geschichte an den Anfang zurück. Die erste Begegnung zwischen den beiden charismatischen Charakteren, die sich der Leser allerdings als asiatische „Frauen“ – nach Elementary fällt das manchen Fan sicherlich leichter - vorstellen muss.
Long Chau ist die Sherlock Holmes Figur. Im Gegensatz zu Arthur Conan Doyles Kanongeschichten erweitert Aliette de Bodard relativ schnell den Hintergrund ihrer Figur. Sie hat lange als Lehrerin bei einer reichen Familie gearbeitet. Ihre Schülerin verschwand unter ungewöhnlichen Umständen, alle gehen davon aus, dass sie tot ist. Long Chau erhielt später Geld, das es ihr ermöglichte, finanziell unabhängig als beratender Detektiv zu arbeiten. Sie ist drogensüchtig, wobei Aliette de Bodard in diesem Punkt eher ambivalent ist. Eine Besonderheit des XUYA Universums ist „Deep Space“, der sich nicht im Orbit um die Planeten befindliche Raum. Hier bewegen sich die großen Raumschiff überlichtschnell, was Auswirkungen auf die Menschen an Bord haben kann. Die Einsamkeit, die erdrückende Leere beeinflusst die Psyche der Menschen. Dieser alptraumartige Druck ist abschließend ein wichtiges Element des Kriminalfalls. Auch Long Chau hat Angst, dass ihr überragender Verstand im „Deep Space“ nicht mehr vollständig funktioniert. Für eine neue Studie hinsichtlich der Verwesung von menschlichen Körper im Vakuum des Alls muss Long Chau in den Deep Space reisen. Auch in einer frühen Geschichte Doyles hat sich Sherlock Holmes mit den Wundmalen an Leichen beschäftigt, um den Zeitraum des Todes besser einschränlen zu können. Long Chau erwähnt auch andere Studien aus ihrer Feder, die ein wenig verfremdet dem Leser aus der Baker Street vertraut vorkommen.
Long Chau braucht einen im Deep Space treibenden menschlichen Körper, von denen es auch viele Jahre nach einem interstellaren Krieg genügend in den im All treibenden Wracks gibt. Auf der Suche nach einem geeigneten Objekt darf und will sie aber auch nicht ihre intellektuellen Fähigkeiten verlieren. Daher sucht sie ein entsprechendes Raumschiff und trifft auf ihren persönlichen Doktor Watson- die THE SHADOW`S CHILD.
Auf den ersten Blick scheint es absurd, ein gigantisches ehemaliges Kriegsschiff mit einem genetisch veränderten Menschen als Gehirn und Herz im Zentrum und der Möglichkeit, das Schiff mittels eines Avatars zu verlassen mit dem legendären Begleiter Sherlock Holmes zu vergleichen. Aber die Autorin geht subtil vor. THE SHADOW`S CHILD ist kriegsversehrt wie Doktor Watson. Sie hat in der Auseinandersetzung ihre Besatzung verloren und wäre beinahe selbst eben in dem „Deep Space“ zerstört worden. Nicht unbedingt unehrenhaft, aber trotzdem aus dem militärischen Dienst entlassen verzichtet sie auf menschliche Transport, sondern verdient ihr Geld vor allem als Tea- Master, die für Klienten besonderen Teesorten zusammenmischt. Ziel ist es mit diesen Blends, die seltsamen Erscheinungen des Deep Space bei klarem Verstand und Gesundheit zu überstehen. Von einem Arzt zu sprechen wäre zu viel, aber THE SHADOW`S Child mixt nicht nur die perfekte Mischung für Long Chau, sondern später auch etwas gegen ihre Drogensucht.
THE SHADOW´S CHILD braucht dringend das Geld von Long Chau und so entschließt sich das Raumschiff, noch einmal mit einem Passagier in den Deep Space aufzubrechen. Sie finden auch einen menschlichen Körper zwischen den Raumschiffwracks, aber die junge Frau starb unter unnatürlichen Umständen und nicht während des Krieges. Es sieht so aus, als wenn der Körper dort mehr oder minder absichtlich zwischen den Wracks deponiert worden ist, um ein Verbrechen zu tarnen. Auch wenn Long Chau die Behörden informiert, reizt es sie zusammen mit der eher zögerlichen THE SHADOW´S CHILD, ein mögliches sogar wahrscheinliches Verbrechen aufzuklären.
Der eigentliche Plot der Geschichte ist erstaunlich simpel und basiert nicht wie auch viele Kanongeschichten auf klassischen Mitteln der Deduktion. Viel mehr schleicht sich Long Chau während des Finales in die Organisation ein, die sie für den Mord oder besser die Tötung mitverantwortlich hält. Informationen erhalten Long Chau und THE SHADOW`S CHILD indirekt aus einer anderen Quelle. Abschließend muss vom Raumschiff aus einer gefährlichen Situation gerettet werden. Es kommen nicht viele Verdächtige in Frage und spätestens mit dem Blick über den Suppenrand ahnt der Leser auch die hintergründigen Zusammenhänge.
Dank einiger kleinerer versteckter Hinweise auf die erste Begegnung zwischen Sherlock Holmes und Doktor Watson in „Eine Studie in Scharlachrot“ werden die Bezüge zu den Doyle Originalen deutlicher. Interessanter erscheint in diesem Abschnitt, das ein traumatisiertes, aber auch wie ein sich selbst bemitleidender Hypochonder agierende Raumschiff inklusiv des sich manifestierenden Avatars auf der einen Seite Long Chau nicht besonders akzeptiert, auf der anderen Seite aber derartig neugierig ist, das es die vordergründig so zwielichtige Vergangenheit des möglichen Partners unbedingt recherchieren muss. Interessant ist, dass Aliette de Bodard die Vorgehensweise Doyles Protagonisten entnimmt. Long Chau konzentriert sich auf ihre Beobachtungsgabe und ihren hoffentlich klaren Verstand, THE SHADOW`S Child durchsucht auf ein wenig subtile, aber fast überambitionierte Art und Weise die Datenbanken und fällt wie der bekannte Doktor Watson mit ihren unvollständigen Ergebnissen buchstäblich mit der Raumschiffschleuse ins imaginäre Haus.
Zu den stärksten zwischenmenschlichen Aspekten gehört Long Chaus Vorgehensweise. Mit einigen wenigen, dem Leser aus „Eine Studie in Scharlachrot“ bekannten Sätzen analysiert die Detektivin nicht nur die Gegenwart des Raumschiffs, sondern die entsprechenden psychologischen Kriegsfolgen für THE SHADOW´S CHILD. Long Chau präsentiert in diesem Abschnitt der Geschichte in schneller Abfolge die klassischen Sherlock Holmes Fähigkeiten, wobei die Autorin an keiner Stelle darauf eingeht, warum ein reicher, inzwischen arbeitsloser Privatlehrer unbedingt Detektiv werden und sich diese für die Zukunft unüblichen Fähigkeiten angeeignet hat.
Während die Charaktere exzentrisch, aber ausgereift erscheinen und der zugrundeliegende Kriminalfall Long Chaus Fähigkeiten nach Überwindung des Deep Space Traumas wenig herausfordert, ist das bizarre XUYA Universum ein Platz, an dem der Leser mit offenen staunenden Augen verweilen kann.
Wie bei Anne McCaffreys Serie um das singende Raumschiff leben Aliette de Bodards Raumschiff. Sie entwickeln eigene Persönlichkeiten dank ihrer Avatare, die autark operieren können. Sie tauschen in erstaunlich persönlichen Gesprächen Erinnerungen wie alte Freude an überladenen virtuellen Tischen aus. Ihre Bots agieren alle verlängerte Arme und können Daten erfassen und senden. Dabei erscheinen wie die goldenen Käfer aus Poes bekannter Geschichte und kriechen zum Beispiel über die Gesichter der menschlichen Protagonisten, um Informationen aus ihnen „herauszusaugen“. Dann gibt es alte chinesische Familien mit den entsprechenden weiblichen Oberhäuptern, die Gepäck genau wie Gift servieren. In dieser Zukunft bedeuten Frauen nichts, sie werden gekauft und verkauft. Mönchsorden haben einen gewaltigen Einfluss. Und die Avatare der Raumschiffe gestalten ihre „Empfangsräume“ nach den Vorbildern des alten Chinas. Rituale sind wichtiger als die anschließenden Taten und die Behörden sind wie im viktorianischen London ineffizient, überfordert oder nicht interessiert. Standesdenken erdrückt Individualität. Und dazwischen die gigantischen lebenden Raumschiffe mit ihren Persönlichkeiten. Wer nur „The Tea- Master and the Detective“ liest, kann das Spektrum dieses Universums nur erahnen. In anderen Geschichten hat sich Aliette de Bodard fast ausschließlich auf ihre so menschlichen und doch fremdartigen Raumschiffe konzentriert.
Dank des asiatischen und vietnamesischen Hintergrunds kann die Autorin auf eine lange Reihe von traditionellen Ritualen zurückgreifen. Die Auflösung des Plots basiert auf einer umstrittenen Herausforderung, das Zubereiten von exzellenten Teemischungen gegen alle Arten von Krankheiten, Drogen und schließlich auch Urängsten wird ausführlich und liebevoll detailliert zelebriert.
„The Tea- Master and the Detective“ ist eine kurzweilig zu lesende Novelle mit einem exotischen Hintergrund, die respektvoll versucht, Sherlock Holmes und Doktor Watson in eine ferne, absolut fremdartige und doch nachvollziehbare Zukunft zu transportieren. Die Ähnlichkeiten reichen aus, um Doyles unsterblichen Protagonisten gerecht zu werden. Auf der anderen Seite haben sie ausreichend eigenständige, gebrochene Persönlichkeiten, um ihre Namen mit Stolz zu tragen. Aliette de Bodard hat angekündigt, die beiden Figuren nur noch als Randcharaktere in größeren Geschichten zu verwenden und nicht wie am Ende dieser Geschichte impliziert, sie weiter eigenständig ermitteln zu lassen. Damit geht der Welt eine weitere Variation des unsterblichen Ermittlerduos viel zu früh nach dieser lesenswerten Eingangsgeschichte verloren.
- Herausgeber : Subterranean Press; Deluxe Edition (31. März 2018)
- Sprache : Englisch
- Gebundene Ausgabe : 96 Seiten
- ISBN-10 : 1596068647
- ISBN-13 : 978-1596068643