Die Residenz in den Highlands

Marianne Labisch und Gerd Scherm (Hrsg.)

Marianna Labisch und Gerd Scherm haben sich nach dem ebenfalls aus Episoden bestehenden Hommage Roman „Die letzte Fahrt der Steampunk Queen“ mit „die Residenz in den Highlands“ noch einmal zusammengetan. Wieder ein auffälliges, fast quadratisches Format, das Gerd Scherms düstere Illustrationen sehr gut zur Geltung bringt. Dazu kein Schiff, sondern eine alte Residenz mitten in den Highlands oder wie einer der exzentrischen Charaktere so passend ausdrückt, im Nichts.

Eine Vielzahl von Autoren beginnt in ihren auf den ersten Blick alleinstehenden, aber aufgrund der wiederkehrenden Charaktere und dem kontinuierlich entwickelten Hintergrund eben doch zusammenhängenden Geschichten diesen schaurig schönen Ort mit „Leben“ eher im übertragenen Sinne zu bevölkern.

Zusammengehalten werden die einzelnen Storys durch eine simple, aber auch faszinierende Idee. Suchen phantastische Wesen tatsächlich eine Art Altersheim, einen letzten Platz im Leben, wenn es ihnen entweder körperlich schlechter geht oder sie sich einsam fühlen. Dazu müssen sie sich auch bewerben. Der Mitherausgeber Gerd Scherm fasst das sehr gut in „Der Bewerber“ zusammen. Es handelt sich um einen, aber nicht den Tod, der endlich zur Ruhe kommen möchte. Die Argumente der Residenzentscheider tragen zu den pointierten Dialogen dieser Geschichte bei. Vor allem die Zeichnung des Todes erinnert an die Filme aus den vierziger Jahren, in denen Hollywood versucht hat, den „Man in Black“ menschlicher erscheinen zu lassen.

Vorher hat zu Beginn wie es sich für einen Roman in Episoden gehört die zweite Herausgeberin Marianne Labisch mit „Lady Banshee de Lily Ouvertüre“ nicht nur den Hintergrund, sondern mit der immer wieder auftretenden Lady die Gastgeberin, die seit vielen tausend Jahren lebt, vorgestellt. Auch die Motivation zur Gründung dieses „Altersheims“ wird von der Ich- Erzählerin ausführlich beschrieben. Der Bogen wirkt ein wenig überdehnt, immerhin liegen fast zweitausend Jahre zwischen den Ereignissen. Deutlich besser macht es mit seiner sprachlich aber fast zu gekünstelten Geschichte „Acheron“ Sascha Duise, welcher den neuen, aber immer wichtiger werdenden Arzt der Residenz einführt.

Aber vor allem Marianna Labisch öffnet damit die Türen zu einer Reihe von vertrauten Fabel- und Legendenwesen, aber auch zahlreiche Querverweise auf Klassiker der phantastischen Literatur finden sich in den folgenden stilistisch alle sehr überzeugend niedergeschriebenen Geschichten, denen Gerd Scherms Graphiken die richtige Atmosphäre verleihen.

Einzelne Texte folgen den bekannten Mustern mit willigen und unwilligen neuen Gästen, die immer wieder einen anderen Bereich der Residenz, aber auch der Umgebung in Form der in Vetternwirtschaft betriebenen Kneipe, stellvertretend für den Leser aufsuchen und ausführlich beschreiben.   

Ansgar Sadeghis  „Der griesgrämige Herr Butzemann“ ist einer der frühen Höhepunkte der Anthologie. Wie einige andere Texte aus der Ich- Perspektive heraus geschrieben diskutiert der Autor die Frage, ob ein Monster im Grunde straflos in einem Altersheim alt werden und damit in Frieden sterben darf. Der Autor legt keine Wertung in seine von humorvollen Monologen getragenen Plot, er stellt Fakten gegenüber. Das macht auch den Reiz dieser Geschichte im direkten Vergleich zu einigen anderen, zu stark inhaltsschweren Arbeiten aus.     

Neben dem Sterben geht es auch um die Liebe. Vincent Voss fasst beide Themen stellvertretend in „Halber Mensch“ zusammen. Der neue Gast Argyle Findlay zieht nicht nur in der Residenz ein, mit einem neuen Namen versucht er die Vergangenheit zu verdecken.  Er verliebt sich in die „Königin in Gelb“ – eine kleine Hommage an das Meisterwerk Chambers? - , die sich nicht nur Kassandra nennt, sondern möglicherweise auch diese historische legendäre Figur ist. Sie will keinen Kontakt mit ihren Mitbewohnern haben, er artikuliert sich nur schriftlich, obwohl er sprechen kann.   

Zweimal taucht in der Anthologie eine Meerjungfrau auf. Nicht unbedingt die klassische Bewohnerin der Residenz. Regina Schleheck konzentriert sich in „What shall we do with the drunken Fisher?“ auf die einseitige Liebe einer Meerjungfrau zu einem von ihr genervten Fischers. Enzu Asuis kehrt zu der Thematik mit „Das Original“ noch einmal zurück.   Dieses Mal geht es weniger um eine einseitige Liebesgeschichte, sondern eine Erkrankung, eine Manie. Ohne auf die Details einzugehen entwickelt der Autor seine Figuren dreidimensional und überlässt doch viel der Phantasie der Leser.

Das Meer und Meeresbewohner im weitesten Sinne finden sich noch in einer Reihe anderer Storys. Für ein Haus weit ab vom Meer in den Highlands sicherlich eine ungewöhnliche Ballung, aber die Autoren machen daraus sehr viel. Gerd Scherm vertraut in „Happy Birthday“ der Idee, das sich zwei Männer unterhalten und Geheimnisse austauschen können, von denen natürlich jeder erfährt, aber niemand erfahren soll. Im Hintergrund findet sich ein Krake, der Angst vor dem Wasser hat. Christian Künnes „Unter dem Donner hoher Meeresflut“ zeigt einen anderen Kraken, der sich im Wasser wohl fühlt. Seiner artgerechten Unterbringung kommt entgegen, dass er vor vielen Jahren von einer Seehexe geschrumpft worden ist. Darüber hinaus agieren die Autoren hinsichtlich des Hintergrunds der Residenz wie bei der „Steampunk Queen“ sehr ambivalent. Mit jeder neuen Geschichte werden einfach in der Phantasie der Leser neue Räume geöffnet. Egal, ob ein Architekt das mal geplant hat oder nicht. Diese Freiheit hilft den einzelnen Storys.

Mit „Der Schnee des Uranus“ scheint Rainer Schorm die Phalanx klassischer Kreaturen wie Blutsauger oder Hexen zu durchbrechen. Der Raumfahrer Macrae kommt von seiner Reise zum Uranus in einer Art Wachkoma in die Residenz. Immer wieder erzählt er von den gleichen Ereignissen. In der zweiten Hälfte der Story bewegt sich Rainer Schorm auch mit der Kreatur unter dem Bett des Raumfahrers in zu oft aus anderen Texten vertraute Muster. Aber zumindest ist das Ausgangsszenario anders als bei seinen Mitstreitern, in denen irdische Gefilde höchstens im (Alp-) Traum verlassen werden.

Nicht selten sind die hier lebenden „Monster“ im Grunde Opfer ihrer Selbst und zu bedauern als zu fürchten. Auch wenn Anja Bagus „Hunger“ keinen neuen Plot aufgreift, sondern ein Wesen beschreibt, das kontinuierlich unter dem im Titel bezeichneten Hunger leidet, gelingt es ihr, die seelischen Schmerzen in wenigen Worten zusammenzufassen und gruselige Plotklischees absichtlich zu vermeiden. Auf die unterhaltsame Art und Weise geht er bei dem im Haus lebenden Kater einer Hexe zu. Andreas Flögels „Pixy, Krähe, Mortadelle“ ist auf der einen Seite eine fast zu sehr um die eigene Achse gewickelte Handlung, auf der anderen Seite verfügt die Story über einen Kater, dessen Handlungen im Details, aber nicht im Groben von Katzenliebhabern bis zu einem gewissen Grad nachvollzogen werden können. Auch Hans Jürgen Kugler präsentiert mit „Neid heilt keine Wunden“ eine andere Art von Monster bzw. besser Quälgeistern: Kinder. Es ist die Geschichte mit dem weitesten Bogen, denn der Ich- Erzähler ist mit Catalina als Kind in die Residenz gekommen und inzwischen alleine zurückgeblieben. Während andere Autoren ihre Monster mit dem letzten „Platz“ auf Erden, dem Warten auf den Tod konfrontieren, konzentriert sich Hans Jürgen Kugler auf das Leben und die schnelllebige Zeit aus der Sicht eines deutlich zugänglicheren und weniger monströsen Protagonisten.    

 

 Mit Liebe und dem Tod setzen sich viele der hier versammelten Geschichten auseinander. Nir wenige wie Verena Jungs „Der letzte Tage“ mit Krankheiten. Dargo leidet an Demenz. Da hilft ihm auch sein ehemaliger Status als Prinz nicht. Die Ursache sieht er aber in einem Fluch einer Hexe, die ihn aus seiner Perspektive in einen Zwerg verwandelt hat. Doktor Lazarus betrachtet den Fall aus einer anderen, aber auch nicht medizinischen Perspektive und versucht mit einer in der Residenz wohnenden Hexe den Fluch aufzuheben. Die Grundidee ist aktuell und gut, der Weg zur Lösung dann vielleicht ein wenig zu leicht und zu phantastisch. Effektiver wäre es gewesen, die Tragik einer Demenzerkrankung auch in einem derartig phantastischen Milieu bis zu einem realistischen Ende durchzuspielen.

 Zu den interessanten und thematisch klassischen Geschichten gehört zum Beispiel Michael Schmidts Geisteraustreibung in „Über die Grenzen des Todes“. Aber Michael Schmidt fügt seinem kurzweiligen Text einige interessante emotionale Szenen bei und verzichtet auf die klischeehafte schwarzweiß Zeichnung. Hinsichtlich der Gastgeberin Lady Banshee ist er ebenfalls einer der wenigen Autoren, welche die Figur nach der Einführung – der Epilog ist in dieser Hinsicht aus Gerd Scherms Feder zu oberflächlich – weiterentwickelt und dreidimensionaler wirken lässt. In „Die letzte Fahrt der Steampunk Queen“ haben die Autoren effektiver und besser die einzelnen Figuren über ihre individuellen Beiträge hinaus miteinander kombiniert. Marianne Labisch versucht die Lücken in einem weiteren Beitrag zu schließen.

Karin Reddemann verbindet in „Der Weltretter“ ein bekanntes Lied mit einer gruseligen Geschichte. Es ist nicht die einzige Anspielung auf gegenwärtige und aus dem 20. Jahrhundert stammende Rockmusik bzw. populäre Musiker. Unabhängig von den Anspielungen liest sich der Plot allerdings ausgesprochen rasant. Karin Reddemann ist eine der wenigen Autoren, die Handlung und Stimmung in eine überzeugende Balance bringt.  Sie baut den Handlungsbogen kontinuierlich um den verschwundenen Vampir auf, fügt dann eine dramatische Wendung ein und bringt vor allem den Plot auch zu einem zufriedenstellenden Ende.

Wie erwähnt sind alle Geschichten stilistisch und atmosphärisch überdurchschnittlich gut. Unterstrichen werden die kleinen Menscheleien durch Gerd Scherms schöne, von Michael Haitel wieder in einem optisch ansprechenden Format wiedergegebene Bilder. Auch die Idee eines Altersheims für Kreaturen, der Begriff Monster hat in diesem Zusammenhang einen zu negativen Klang, fügt die einzelnen Text auf der einen Seite zu einem Fugenroman zusammen, auf der anderen Seite lassen sich bis auf Pro- und Epilog alle Geschichten aber auch alleinstehend lesen und genießen.   

 

 

Marianne Labisch & Gerd Scherm (Hrsg.)
DIE RESIDENZ IN DEN HIGHLANDS
Ein Roman in Episoden
Außer der Reihe 56
p.machinery, Winnert, September 2021, 168 Seiten, Hardcover
ISBN 978 3 95765 257 7 – EUR 24,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 840 1 – EUR 9,99 (DE)

Kategorie: