Flug und Angst

Stephen King (Hersg.) und Ben Vincent

Es lohnt sich, das Vorwort von Stephen King und das Nachwort von Bev Vincent dieser Anthologie zu erst zu lesen. Stephen King geht auf seinen Respekt vor Fliegen, aber keine klassische Flugangst ein. Pragmatisch weiß er, das alle mit den wie gigantische Särge im Inneren erscheinenden Flugzeugen irgendwie runterkommen. Stephen King schreibt zwar von einer unangenehmen Situation in der Luft, sein schwerer Unfall mit einem außer Kontrolle geratenen Kleinbus direkt vor der eigenen Haustür relativiert allerdings diese Situation. Bev Vincent dagegen schreibt, wie Stephen King ihn quasi auf dem Heimatflughafen zwangsverpflichtet hat. Wie schwer es gewesen ist, neben den bekannten Klassikern weitere Storys zu finden und was ihm diese in den USA beim Kleinverlag Cemetary Dance publizierte Anthologie bedeutet. 

Die Spanne der Geschichten - die meisten sind Nachdrucke, aber neben Stephen King hat auch sein Sohn Joe Hill einen exklusiven Text verfasst - reicht von den “Anfängen” der Luftfahrt bis in die Gegenwart. Ambrose Bierces Vignette “Die Flugmaschine” weisst er auf die grenzenlose Naivität der blinden wie gierigen Investoren hin. Arthur Conan Doyles 1913 publizierte Kurzgeschichte  “Das Grauen in der Höhe” folgt den Mustern der viktorianischen Gruselgeschichte. In Berichtsform von einem Verschollenen abgefasst und aufgefunden,  lassen sich die beschriebenen Ereignisse (noch) nicht verifizieren. Den Piloten erscheinen zumindest an drei Stellen in großer Höhe Erscheinungen, die wie Monster oder Tiger wirken.  Das Selbstexperiment wird eindringlich beschrieben. Die Vorbereitung und Exposition nimmt in den aufgefundenen, aber unvollständigen Seiten einen größeren Raum ein. Am Ende beantwortet Arthur Conan Doyle in dieser aus heutigen Sicht eher statisch erscheinenden, aber zu Beginn der Fliegerei sicherlich die Alpträume vieler Menschen befeuernden Geschichte keine einzige Frage. Im Gegensatz zu seinen Sherlock Holmes Storys. 



Die Anthologie eröffnet E. Michael Lewis mit “Cargo”. In der Tradition der “Twillight Zone” überlässt der Autor vieles abschließend der Phantasie seiner Leser. Der Reiz der Geschichte liegt im Protagonisten begründet. Er ist seit Vietnam Lademeister einer der großen Transportmaschinen der amerikanischen Luftwaffe. Er lässt alles um die Welt fliegen. Der neueste Auftrag führt ihn in den Dschungel, wo sich hunderte von Anhängern einer Sekte inklusive ihrer Kinder umgebracht haben. Er soll einen Teil der Särge in die USA bringen. Auf dem Flug hören zuerst ein junger Arzt, dann eine Krankenschwester, die er schon aus Vietnam kannte, seltsame Geräusche. Und das bedeutet immer zumindest Ärger, wenn nicht Gefahr. E. Michael Lewis erzeugt eine überzeugende Atmosphäre. Mehr und mehr wird der ansonsten sehr sachliche und erfahrene Lademeister von dem Geschehen eingenommen. Im Grunde enthält die Story keine echten übernatürlichen Elemente, aber in der Phantasie der Leser manifestiert sich eine mögliche Bedrohung. Ein guter Auftakt, der weniger die Angst vor dem Flug, als Furcht generell in den Mittelpunkt der Handlung stellt.    

Die bekannteste Geschichte der Sammlung ist natürlich Richard Mathesens „Alarm auf 20.000 Fuss“. Rod Serling adaptierte sie für die „Twillight Zone“ mit William Shatner in der Hauptrolle. Auch im Kinofilm wurde die Geschichte dieses Mal von George „Mad Max“ Miller brillant neu inszeniert. Ein gestresster Mann sieht als einziger auf der Tragfläche einen Kobold in 20.000 Fuß Höhe, der ihn erst provoziert und anschließend beginnt, den Motor des Flugzeuges auseinanderzubauen. Die Mitpassagiere und Crew hält den Passagier für wahnsinnig.  Das eigentliche Ende, die bitterböse Pointe stammt nicht von Richard Matheson. Das schwächt die Lektüre deutlich, denn aus ihr zieht der Protagonist das Wissen, doch im Recht gewesen zu sein. Wenn nicht in dieser Realität, dann in der „Twilight Zone“. Die Story liest sich auch heute noch flott; Richard Matheson ist ein Autor, der sich aus dem Nichts heraus in die Psyche seiner Figuren hineindenkt. Aber Rod Serling ist ein Meister des subversiven Endes. Zusammen haben die beiden Männer ein echtes Meisterwerk erschaffen, den Weg dorthin kann der Leser in der vorliegenden Anthologie nachvollziehen.

 

E.C. Tubb präsentiert mit „Lucifer !“ aus den siebziger Jahren eine sehr interessante Kurzgeschichte.  Tubb ist vor allem durch seine „Earl Dumarest“ Romane bekannt geworden, als überzeugender Kurzgeschichtenautor ist er weniger in Erscheinung getreten. Außerirdische besuchen die Erde. Durch einen Unfall kommt einer von ihnen ums Leben. Im Leichenhaus weckt ein ungewöhnlicher Ring die Aufmerksamkeit eines Angestellten. Er stellt fest, das er 27 Sekunden in die Vergangenheit reisen kann. Immer wieder. Als Sadist und Opportunist nutzt er diese Macht weidlich aus, bis er in eine Situation kommt, wo die 27 Sekunden wie die Vorstufe der Hölle erscheinen. Der Leser ahnt das Ende vor dem Protagonisten. 27 Sekunden können lang, aber auch kurz sein. Vor allem wenn man sich plötzlich nicht mehr wirklich bewegen kann. Tubb beschreibt das Schicksal eines gänzlich unsympathischen Charakters, mit dem der Leser kein Mitleid hat oder zu haben braucht. Das macht den Reiz dieser sehr stringenten, aber mit vielen kleinen Ideen gespickten Story aus.   

 

Tom Bissells “Die fünfte Kategorie“ ist eine der subversivsten und auch stark in der Gegenwart verankerten Geschichten. Ein Professor reist nach Tallin zu einem Kongress. Da er sich in seiner Zeit beim Geheimdienst als Whistlerblower erwiesen hat und verschiedene Verhör- und Folterpraktiken verriet, ist er nicht mehr im eigenen Land Wohl gesonnen. Auf dem Rückflug wacht er in einem Menschenleeren Flugzeug aus. Bis zur nihilistischen und vom Protagonisten auch fatalistisch akzeptierten Auflösung beschreibt Tom Bissell unter anderem auch durch interessante Rückblenden den Weg des Professors von einem „Gläubigen“ zum schwarzen Schaf, wobei einige Dinge nicht einmal so beabsichtigt worden sind. Die Atmosphäre der Story ist dunkel, selbst sein Estland wirkt irgendwie verzerrt. Aber viele Szenen setzen sich erst im Geist der Leser zusammen, der Autor belässt es bei Andeutungen.

 

Dan Simmons „Zwei Minuten fünfundvierzig Sekunden“ ist eine subtile Story mit einem ebenfalls bitterbösen Ende. Fünf Geschäftsführer eines Triebwerksherstellers befinden sich auf einem Geschäftsflug. Die Triebwerke weisen unter bestimmten Umständen Mängel auf und könnten Menschen gefährden. Aber das Geld spielt für vier der fünf Männer eine zu gewichtige Rolle. Der Gerechtigkeit wird auf eine sehr subtile Weise Genüge getan und der Titel bezieht sich auf die Zeit, bis Menschen auf 46000 Fuss Höhe bei einem Absturz erst auf der Erde einschlagen. Eine perfekte Songlänge.

 

Dagegen ist Cody Goodfellows „Diabolitis“ ist eher eine klassische Horrorgeschichte. Ein Schmuggler fliegt mit einer besonderen Maske an Bord in Richtung Los Angeles. Natürlich gibt es Probleme auf dem Flug. Der Stil ist flapsig, die Protagonisten werden mit einem breiten Pinsel gezeichnet und die Atmosphäre ist dunkel, aber der Leser ahnt viele der Zusammenhänge viel zu schnell. Das offene Ende hilft auch abschließend. Auch Bev Vincents “Zombies im Flugzeug“ präsentiert im Titel sein Programm. Dabei wird leider auch die Pointe offenbart. Eine Handvoll Menschen gelingt die Flucht zu einem kleinen Flugplatz. Die Zombies sind ihnen auf der Spur. Einer der Männer kann ein Flugzeug fliegen. Die Flucht ist allerdings der schon angesprochene Pyrrhussieg. 

 

„Luftangriff“ von John Varley ist besser unter dem Titel „Millenium“ bekannt. Der Amerikaner hat die Kurzgeschichte zu einem ebenfalls auf deutsch veröffentlichten Roman erweitert, der schließlich auch unter diesem Titel verfilmt worden ist. Der Plot mit den Menschen aus der Zukunft, welche Menschen aus der Gegenwart unmittelbar vor ihrem durch Unfälle oder Katastrophen eintretenden Tod retten und in die Zukunft bringen, war in den siebziger Jahre ohne Frage innovativ. John Varley ist ein sehr guter Kurzgeschichtenautor, der vor allem subversiv mit dem Leser spielt und den Plan erst auf den letzten Seiten gänzlich offenbart. Der Roman wirkt in dieser Hinsicht genauer, aber ihm fehlt das Tempo, das diese auch heute noch lesenswerte Kurzgeschichte auszeichnet.          

 

Joe Hills“ Freigabe erteilt“ ist wie Stephen Kings Geschichte „Ein Fachmann für Turbulenzen“ extra für die Sammlung geschrieben worden. Eine kleine Gruppe an Bord eines Flugzeugs wird mit einem ausbrechenden Atomkrieg konfrontiert. Ihr Flugzeug wird umgeleitet, allerdings ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die interkontinentalen Raketen einschlagen. Einen echten Fluchtpunkt gibt es nicht mehr. Joe Hill konzentriert sich auf die einzelnen Menschen an Bord der Maschinen. Sie sind isoliert, auf sich alleine gestellt. Dabei zeichnet der Autor ein sehr dreidimensionales, nicht kitschiges Portrait dieser zum Tode (über kurz oder lang) verurteilten Gruppe.

 

Es wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich, aber Stephen Kings „Fachmann für Turbulenzen“ ist eine der optimistischen Geschichten dieser Sammlung. Dabei bleibt der Hintergrund vage. Aber es gibt eine Organisation, welche die Gefährdung von Flugzeugen durch heftige überraschende Luftturbulenzen vorhersehen kann. Und sie schickt Spezialisten für diesen Fall. Dabei erinnert der sehr gut bezahlte Dienst auch an eine Art Fronarbeit, Widerspruch oder längerer Urlaub ist nicht immer erlaubt. In typischer Stephen King Manier entwickelt der Autor ein unglaubwürdiges Szenario überzeugend weiter. Er präsentiert „Fakten“, die Logik wird nicht hinterfragt. Aber das macht auch den Reiz dieser Geschichte aus.   

 

David J. Schows „Kriegsvögel“ spielt nicht an Bord eines Flugzeugs. Ein Mann versucht ein Bild seines Vaters zu rekonstruieren. Er besucht dessen ehemalige Mannschaftskameraden. Gemeinsam haben sie Bomber über Deutschland geflogen. Anscheinend waren sie dabei nicht alleine, denn die so genannten Kriegsvögel haben wie Aasgeier am Himmel nach Beute geschaut. Dabei handelt es sich nicht um die Geheimwaffe der Nazis. Der Autor zeichnet ein gutes Bild der Bomberbesatzungen, deren Missionen wie der Abwehrkampf der deutschen Piloten von Verzweifelung, aber auch Fatalismus geprägt ist. Die Kriegsvögel erscheinen erst wie eine Vision, aber wie in jeder guten Horrorgeschichten, könnten sie zumindest für die Betroffenen auch real sein.

 

Ray Bradbury präsentiert mit seiner Parabel „Die Flugmaschine“ eine Geschichte aus dem alten China. Ein Mann fliegt wie Ikarus nicht nur über der chinesischen Mauer, sondern auch dem Kaiserpalast. Der Kaiser freut sich weniger über den Fortschritt als das er den Missbrauch dieser Idee befürchtet. Konsequent setzt er dieser Entwicklung zumindest für den Moment ein Ende. Viel Weisheit steckt in dieser kleinen Geschichte, auch wenn des Kaisers Lösung von Angst und sturer Blindheit geprägt ist. Zwischen den Zeilen macht Ray Bradbury deutlich, das sich Fortschritt verlangsamen, aber niemals verbieten lässt.

 

Roald Dahls „Alt werden sie nicht“ ist eine wunderbare typische Dahl Geschichte. Im Krieg verschwindet ein Pilot mit seiner Hurricane für 48 Stunden. Dann taucht er wieder auf, für ihn sind keine zwei Stunden vergangen. Anfänglich kann er sich nicht erinnern, aber das Erlebte ist phantastisch, aber in Hinblick auf sein Schicksal auch unausweichlich. Eine tolle Zeichnung der Protagonisten mit ihren lebensbejahenden Fatalismus, ihrer pragmatischen Einstellung gegenüber den gefährlichen Missionen und doch einen beeindruckenden Zusammengehörigkeitsgefühl. Ein hoffnungsvolles Ende, das es da noch irgendwo etwas ganz Besonderes geben muss und ein Vision hinter den dichten weißen Wolken, welche dem Leser die Tränen in die Augen treibt. Natürlich könnte man die Prämisse als kitschig bezeichnen und manches erinnert an die Powell/ Pressburger Filme wie „Stairways to Heaven“, aber auch solche Texte haben vor allem in diesen dunklen Zeiten mehr als eine Existenzberechtigung.

 

„Mord im Himmel“ aus der Feder Peter Tremaynes ist ein Mord in einem geschlossen Raum. Ein Geschäftsmann wird auf der Flugzeugtoilette in luftiger Höhe erschossen. Natürlich ist die Tür von innen verschlossen. Zum Glück befinden sich ein Kriminalpsychologe und ein Pathologe, beide mit einem Faible für Latein an Bord. Der Leser ahnt sehr schnell, wie die Mord geplant und ausgeführt worden ist. Alleine der Täter muss noch überführt werden. Die Geschichte ist spannend entwickelt, aber da nur wenige Personen als Täter in Frage kommen und der eigentliche Ablauf schnell allerdings auf Augenhöhe der Ermittler zu erkennen ist, kommt keine richtige Spannung auf. Und das trotz einer bizarren, aber sehr interessanten Ausgangslage.

 

James Dickeys „Im Fall“ beschließt die Anthologie. Es ist ein Gedicht um eine Stewardess, die durch die sich plötzlich öffnende Notausgangstür ins Freie gerissen wird. Es ist kein klassisches Geschichte, sondern eher eine erzählende Ballade. Dabei kann der Autor die schrecklichen Ereignisse auch nur bedingt verklausulieren. Es ist ein makaberer Abschluss dieser Storysammlung.

 „Flug und Angst“ verbindet klassische Texte mit zwei extra für die Sammlung geschriebenen Geschichten von Joe Hill und Stephen King. Dabei haben sich die Herausgeber sehr viel Mühe gegeben, ein sehr breites Spektrum von nicht nur Horrorgeschichten, sondern generell in Flugzeugen spielenden oder von den Luftmaschinen handelnden Storys zusammenzustellen. Die Qualität aller Geschichten ist hoch und lädt ein, unabhängig von Neurosen oder Ängsten dieser Lust am leichten oder schwereren Schauen an Bord oder auf dem Boden zu frönen. Für jeden Geschmack wird ein „Schrecken“ an Bord sein.

Flug und Angst

  • Publisher ‏ : ‎ Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe edition (10 Jun. 2019)
  • Language ‏ : ‎ German
  • Paperback ‏ : ‎ 448 pages
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453439805
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453439801
  • Original title ‏ : ‎ Flight or Fright
Kategorie: