Die schwarze Grippe

Joachim Körber (Hrsg.)

Während der Corona Pandemie hat Joachim Körber mit seinem kleinen Corona- Weltuntergangs-Lesebuch tief in die literarische Geschichte geschaut, um ein Gedicht von Friedhelm Schiller und zehn unterschiedliche Geschichten um dieses Thema zusammenzustellen. Wie in seinen vier im Heyne Verlag veröffentlichten Büchern des Horrors sind alle Texte chronologisch angeordnet. Den größten Teil der Texte hat Joachim Körber exklusiv für die Sammlung ins Deutsche übertragen. Vorhandene Übersetzungen (Edgar Allan Poe und Jack London) wurden behutsam überarbeitet.

Weltuntergangszenarien sind wie verschiedene Pestepidemien keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Auch wenn vor allem die erste Welt so tut und sich nicht im Klaren ist, das sie wie die ganze Menschheit auch in den letzten Jahrzehnten einfach nur Glück gehabt hat. In Afrika und Asien hat es immer wieder Epidemien ausgelöst durch bekannte Krankheitserreger, aber auch neue Stämme wie SARS gegeben. Alleine die geringere Ansteckungsrate bei einem höheren Todesfallrisiko der letzten Virenwellen hat vor allem in Asien Katastrophen verhindert.   

Schriftsteller wie Giovanni Boccaccio,  Daniel Dafoe, Charles Brockden Brown haben über die Pest in ihrer Zeit geschrieben. Das können die insgesamt elf Autoren positiv gesprochen nicht von sich behaupten, allerdings setzen sie sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der tödlichen Seuche generell auseinander.

Friedrich Schiller nennt sein Gedicht „Die Pest“ eine Phantasie. Es ist eher sprachlich intensiv und atmosphärisch erdrückend ein Alptraum, der zumindest in Schillers Zeit in den Hintergrund gedrängt worden ist, aber jederzeit wieder aufflammen kann.

 Edgar Allan Poes „König Pest“ ist eine groteske Burleske. Zwei Seeleute übersteigen auf der Flucht aus einer Kneipe - die Zeche prellend - einen Zaun und geraten so in das Viertel, das wegen der letzten Pestwelle vor dem Zutritt Unbefugter gesichert worden ist. Dort lagern noch zahlreiche Schätze der verschiedenen Kaufleute.

Im Keller treffen die beiden Seeleute auf den angeblichen König Pest, der mit seinem Gefolge ein makabres Mahl zelebriert. Die Beschreibungen der einzelnen Teilnehmer mit ihrer dekadenten, den Tod feiernden Haltung sind der gruseligste Aspekt der Geschichte. Die beiden Seeleute werden anfänglich eingeschüchtert, dank ihrer Geistesgegenwart gelingt es ihnen, sich aus der fast hypnotischen Wirkung des König Pests zu befreien. Am Ende erinnert die Art des Aufstandes fast an eine frühe Screwball Komödie. Aber Poe zeigt auf, daß nichts unabänderlich ist. In dieser Hinsicht hebt sich der Texte von vielen anderen Geschichten Poes positiv ab, in denen die Protagonisten mit Lemminge ihrem Schicksal entgegenlaufen und eben nicht die Kraft oder den Mut haben, hinter die bizarren Kulissen zu schauen und selbst dem König pest seine Maske zu entreißen.  

Deutlich ironischer und humorvoller legt 1881 der Schriftsteller Lafcadio Hearn seine Miniatur “Eine Legende” an. Nur ein Mann unter Millionen von Frauen überlebt eine Seuche. Er wird isoliert, beschützt und darf jedes Jahr 300 Frauen zu sich nehmen. Dank seiner Manneskraft wird die Menschheit regenerieren. Der Autor überträgt viele der männlichen Klischees auf die Gruppe von Philosophinnen, welche den Mann per se schützen, geistig isolieren und mit aller Macht schützen wollen. Neun Millionen Frauen sterben in dem Krieg um einen Mann.  

Mit Elektrizität gegen die Volksseuche Diphtherie ist das Grundthema von Fred M. White Story “Der Staub des Todes”. Der Text erschien 1903, als Elektrizität mehr als nur Krankheiten heilen konnte. Der Titel der Geschichte ist irritierend, denn die Krankheitserreger stecken tief im Boden. Über Jahre hat man billig die Kloaken überbaut und alle Gefahren ignoriert. Jetzt bricht die Seuche aus und nur ein Mann hat diese bestimmte Form der Erkrankung vorhergesehen. Aus medizinischer Hinsicht mit Stromstößen gegen Entzündungen im Mund- Rachen- Raum ist die Geschichte höflich gesprochen naiv. Selbst für den Wissensstand des frühen 20. Jahrhunderts, Aber Fred M. White spricht andere Themen an. Ignoranz, soziale Sparsamkeit bis zum Geiz am falschen Fleck; die Angst der Reichen vor dem Tod und die pragmatische Verzweiflung der Armen, die Schlimmeres gesehen  haben. Nur eine grundsätzliche Änderung der Vorgehensweise mit hohen Anlaufkosten kann England vor einer weiteren Katastrophe schützen. 

Wenn ein Leser - wie angesprochen - die medizinisch unsinnigen Heilmethoden ignoriert, dann entwickelt sich Fred M. White sehr konzentriert erzählte Geschichte zum klassischen Muster britischer Post Doomsday Literatur. Im Laufe seiner Karriere hat der Autor insgesamt sechs Geschichten geschrieben, in denen London dem Untergang durch unterschiedliche  Bedrohungen ausgesetzt wurde. Immer rettet vor allem die Wissenschaft in Person eines gesellschaftlichen Außenseiters das dekadente und selbstverliebte Empire. Der eigentliche Held - ein Wissenschaftler namens Label -  aus “Der Staub des Todes”  ist ein geistiger Vorfahre von Professor Quatermass, der nach dem Zweiten Weltkrieg viermal die britische Gesellschaft vor allem vor Gefahren aus dem All retten wird. 

 Die längste Geschichte stammt aus der Feder Jack Londons. „Die Scharlachpest“ rottet fast die ganze Menschheit aus. Ein Überlebender dieser Zeit vor sechzig Jahren – die Geschichte spielt ungefähr fünfzig Jahre weiter in der Zukunft – berichtet seinen Enkeln vom ersten Auftauchen der Scharlachpest. Innerhalb weniger Stunden sterben die Menschen. Ihre Haut färbt sich scharlachrot, sie haben leichte Schüttelanfälle, die schnell wieder vergehen und dann sterben die Menschen. Die Seuche hat anscheinend ihren Ursprung in Tokio.  Wie beim Ausbruch der Corona Infektion versuchen die Asiaten aus Scham die Seuche zu verheimlichen und die Stadt zu isolieren. Zu diesem Zeitpunkt gibt es allerdings auch schon Infizierte in den USA.

Jack London nutzt diese verheerende Seuche aber nicht nur als Parabel auf den Zusammenbruch der Zivilisation, sondern zeigt abschließend in Person des fatalistischen Großvaters auch auf, das die Aggression der Menschheit nicht totzukriegen ist. So wird der Diener zum Herren, wie eine der reichsten Frauen des Landes unter der neuen Knechtschaft eines Chauffeurs erleiden muss. Die Hunde beginnen sich gegen die wenigen verbliebenen Menschen zu erheben. Bücher werden nicht mehr benötigt, das es nur noch Wenige gibt, die überhaupt lesen können. Die nächsten Generationen fallen auf das Niveau eines Urzeitmenschen zurück, der allerdings noch mit Pfeil und Bogen jagen kann.

Jack London argumentiert in dieser düsteren Geschichte pragmatisch. Mit dem Tod vieles Menschen endet auch die Welt der industriellen Revolution, der Technik. Kein Strom, kein Benzin mehr. Die Menschen kehren zwar in die immer stärker verwildernde Natur zurück, sie bilden aber zumindest in dieser kleinen amerikanischen Enklave keine wirklich harmonische Einheit. Zweckmäßig versuchen sie über die Runden zu kommen. Am Ende entfremdet sich auch der Erzähler von seinen Kindern und Enkeln. Er ist einer der letzten Menschen, die noch die Zeit vor dem großen, rasant vonstatten gehenden Zusammenbruch kennen. Wehmütig schaut er zurück, auch wenn er sich vor der wieder kriegerischen „Aufrüstung“ der verbliebenen Menschen fürchtet.

Jack London hat bis zum Ausbruch der Seuche eine interessante, nicht mal unrealistische Zukunftsversion der Menschheit entwickelt. Dabei spekuliert er auch über 8 Milliarden Bewohner auf der Erde, welche diese nicht mehr wirklich versorgen kann. Es finden zwar keine Weltkriege statt – der Text entstand 1912 -, aber der Fortschrittsdrang aus Jack Londons grundsätzlich kritischer Perspektive betrachtet ist in jedem schwermütigen Wort des Erzählers klar zu erkennen.

 Die Titelgeschichte „Die schwarze Grippe“ von Edgar Wallace präsentiert eine interessante Variation. Die Menschheit wird für fünf Tage blind sein. Bei John Wyndham ist es der Durchflug eines Kometen durch die Atmosphäre, der die meisten Menschen allerdings für immer erblinden lässt und den Aufstieg der Triffids ermöglicht. Der führende Wissenschaftler ist aufgrund seiner Experimente überzeugt, das noch fünf Tagen die betroffenen Menschen wieder sehen können. Allerdings kann er seine These nicht mehr den Regierenden in der Downing Street mitteilen. Vorher erblindet er.

Auch wenn der sehr routinierte Erzähler Edgar Wallace einen interessanten Plot präsentiert und mit dem gegen Ende auch zu erschütternden Wissenschaftler einen weiteren Quatermass Vorläufer präsentiert, wirkt die Geschichte inhaltlich zu gedrängt. Zu viele Ideen werden nur gestreift. So werden blinde Menschen quasi als Führer engagiert, welche die verwirrten und verirrten Menschen zu ihren Zielen bringt. An einer anderen Stelle sind es die Marktschreier, welche verbal mit ihren kräftigen Stimmen Nachrichten verkünden und die beunruhigten Menschen auf dem Laufenden halten. Aber an keiner Stelle erzielt Edgar Wallace mit seiner Kurzgeschichte die klaustrophobische und nihilistische Atmosphäre, die andere Storys dieser Sammlung zu auszeichnet. Lesenswert ist „Die schwarze Grippe“ vor allem wegen der schon angesprochenen kleinen, aber im Detail auch überzeugend entwickelten Ideen.

 Aus dem „Analog“ Magazin der frühen sechziger Jahren stammen die beiden Storys „Die Seuche“ (Teddy Keller) und „Pandemie“ (J.F. Bone). Es sind klassische Pointengeschichten, deren Prämisse konträr sind. In der ersten Geschichten sucht ein junge Armeeangehöriger mit einer hübschen Sekretärin nach den Ursachen einer seltsamen, aber nicht tödlichen Krankheit, welche anscheinend ohne Muster Menschen in den USA befällt. In der zweiten Geschichte unterstützt eine neue Sekretärin einen Pathologen in seiner anscheinend unterirdischen Anlage auf der Suche nach einem Schutz vor der Thurston- Krankheit, die auf  Forschungen eines inzwischen verstorbenen Kollegen basiert, der mit nicht ausreichend sterilisierten Laborutensilien experimentiert hat. Dieser Seuche sind mehrere Milliarden Menschen inzwischen erlegen. Die Krankheit verläuft zu einhundert Prozent tödlich. Beide Geschichten beinhalten die klassische Liebesgeschichte mit dem scheuen jungen Mann und der liebestechnisch erfahrenen Frau, die zu Gunsten ihres Ehemanns-in-Spe Rollentechnisch die Klischees bedient. In „Die Seuche“ wird zwar nicht der Erreger per se gefunden und viele Fragen bleiben offen, aber zumindest der  originelle Weg der Übertragung ist ein Schlüssel, um zukünftige Erkrankungen zu vermeiden. Bei „Pandemie“ wird der Teufel im übertragenen Sinne mit dem Beelzebub ausgetrieben. Aus heutiger Sicht würden viele Mediziner die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber J.F. Bone präsentiert eine konsequente, bizarre Auflösung. Beide Geschichten sind ausgesprochen stringent geschrieben, steuern direkt auf die Pointe zu. Teddy Keller macht sich allerdings zusätzlich über die Lamettaträger im amerikanischen Militär lustig, denen es wichtig ist, das die starren Hierarchien eingehalten werden als das von fähigen Männern und Frauen an einer Lösung gearbeitet wird.  

 Greg Egans „Der moralische Virologe“ ist eine der provokantesten Geschichten dieser Sammlung. Ein Mann entwickelt ein Virus, mit dem er seinen höflich gesprochen erzkonservativen Glauben durchsetzen möchte. Keine Homosexualität mehr; kein außerehelicher Geschlechtsverkehr. Das komplex angelegte Virus greift auf mehreren Ebenen an. Fünf Jahre später finden sich einige der hier präsentierten Ideen wie die Verbreitung des Virus in Terry Gilliams „Twelve Monkeys“ wieder. Greg Egan zeichnet absichtlich das Portrait eines Narzissten, der glaubt, das Gott ihn zu dieser Mission auserwählt hat. Und selbst als er aufgrund seiner Unwissenheit an biologische Grenzen stößt, sucht er eher eine Begründung als das er von seinem Weg ablässt.

 Tananarive Dues „Patient Null“ besteht aus den Aufzeichnungen eines zu Beginn der Geschichte zehn Jahre alten Jungens, der als Patient Null gilt, obwohl vorher sein Vater das Virus von einer Bohrplattform in Alaska mitgebracht hat. Vielleicht sieht die Welt in dem unter der Erde in einer besonderen Anlage und auch einem mehrfach isolierten Leben Jungen den Patienten Null, weil er bislang als einziger überlebt hat. Aus seiner subjektiven Perspektive verfolgt der Leser das allmähliche Sterben um ihn herum, während der Junge nur immer einsamer wird. Das Ende ist konsequent und im Gegensatz zu einigen anderen Geschichten dieser Sammlung gibt es auch keine Rettung in letzter Sekunde. Damit schlägt Tananarive Dues nicht nur den Bogen zurück zu Jack Londons „Die Scharlachpest“, sondern vor allem auch zum letzten Text dieser Sammlung „Jenseits des dunklen Gewässers“. Richard Kadreys Geschichte ist als einzige Arbeit dieser Anthologie während der Coronazeit entstanden.

Die Regierung hat nach dem Ausbruch einer Seuche mindestens eine ganze Stadt isoliert und die Bewohner sich ihrem Schicksal überlassen. Bei den wenigen Überlebenden herrscht das Gesetz des Stärken. Namen gibt es nicht mehr. So hilft der „Blinde“ dem „Dieb“ – er lebt vom Schänden der Toten“ den „Führer“ zu finden, der ihn gegen Geld zum „Türken“ bringen soll. Der Türke kann Ausweise erstellen, mit denen man die Stadt verlassen kann. Die Reise ist gefährlich. Richard Kadrey entwickelt zu Beginn eine nihilistische Atmosphäre mit den beiden Protagonisten Dieb und Führer als reine Zweckgemeinschaft. Wenn sie am Ende das Ziel ihrer Reise erreichen, wird der eine überrascht, der andere enttarnt. Diese Wendungen der Handlungen sind rückblickend konsequent entwickelt, auch wenn sie ein wenig auf dem Prinzip des gesteuerten Zufalls basieren. Konzentrierte sich der Autor während der gefährlichen Reise auf eine Abfolge bizarrer Szenen, holt er die Action auf den letzten Seiten nach. Das Ende könnte ein Leser vor allem im direkten Vergleich zu einigen anderen sehr dunklen Geschichten sogar unter der Kategorie Happy End verbuchen.

 Beginnend mit dem passenden Titelbild – Arnold Boecklins „Die Pest“ – präsentiert „Die schwarze Grippe“ eine Reihe von interessanten Weltuntergangszenarien, wobei sich Joachim Körber auf tödliche Krankheit und/ oder später künstlich erzeugte Epidemien konzentriert. Alle anderen Weltuntergangsszenarien bleiben außen vor. Nicht immer werden die Ursachen von den Autoren herausgearbeitet, nicht selten konzentrieren sich die einzelnen Schriftsteller eher auf die Folgen für die durchgehend erstaunlich fragile Zivilisation. Vielleicht eng der Hinweis auf ein „Corona- Weltuntergangs-Lesebuch“ den potentiellen Lesekreis auf den ersten Blick ein, aber die Geschichten zeigen auch auf, wie viel Glück die Menschheit im bisherigen Verlauf der Coronapandemie hatte, um nicht wie in den Texten der meisten Autoren Milliarden von Menschen beerdigen zu müssen.

 Perfekt wäre die Sammlung, wenn Joachim Körber vielleicht den einzelnen Geschichten kurze Hinweise zu den Autoren vorangestellt hätte. Aber auch so bilden die zehn Storys und das eine Gedicht eine qualitativ hochwertige, wenn auch angesichts der verschiedenen Untergangsszenarien makabere Lektüre. .    



Die schwarze Grippe: Das kleine Corona-Weltuntergangs-Lesebuch

  • Publisher ‏ : ‎ Edition Phantasia; 1., edition (15 April 2021)
  • Language ‏ : ‎ German
  • Perfect Paperback ‏ : ‎ 224 pages
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3937897623
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3937897622