Das blaue Palais 4- Unsterblichkeit

Rainer Erler

Fast zwei Jahre nach „Das Medium“ strahlte das ZDF am 19. Oktober 1976 die vierte Folge von „Das blaue Palais“ mit dem Untertitel “Unsterblichkeit” aus.  Zwischen dem ersten Dreierblock und den beiden letzten Teilen inszenierte Rainer Erler zwei weitere abendfüllende Spielfilme. 

Es lässt sich heute nicht mehr klar herausarbeiten, ob Rainer Erler alle fünf Teile der Serie gleich niedergeschrieben hat. Es gibt einige Argumente für diese These:   zum dritten Mal in vier Episoden sind es Zeitungsausschnitte, welche die Forscher des blauen Palais direkt oder indirekt auf eine neue Entdeckung/ wissenschaftliche Sensation hinweisen. Weiterhin geht die Diskussion um die Forschungsbudgets in die nächste Runde. Vier der letzten fünf größeren Projekte sind gescheitert. Theoretisch haben die Zuschauer drei dieser Pyrrhussiege im Jahr 1974 auf dem Bildschirm und in Rainer Erlers Buchadaptionen verfolgen können. Das Kuratorium möchte verwertbare Erfolge sehen. Auch fehlt noch Rainer Erlers antikapitalistisches Weltbild, das die Zwischenproduktionen „Die Halde“ und „Die letzten Ferien“ auszeichnen begann. So kommt der Leiter des Kuratoriums bei seinem zweiten Besuch im Blauen Palais innerhalb der bislang ausgestrahlten Folgen zur Erkenntnis, dass nicht jede Forschung vom Grunde auf gut ist und verschwört sich mit einigen  Mitgliedern des Blauen Palais gegen ein Mitglied der kleinen Gruppe und damit die reine kommerzielle Verwertung. Auch wenn der Weg zu einem Milliardengeschäft mit allerdings ungeahnten Folgen für die Zukunft der in den siebziger Jahren überbevölkerten Erde offensteht.

„Unsterblichkeit“ ist die einzige der fünf Folgen und damit der einzige Roman dieser kleinen Serie, der keine bestimmte Person oder ein bestimmtes Ding wie im letzten Band der Pentalogie im Titel anspricht. Zwar passt „Der Verräter“ nicht grundsätzlich zum Inhalt der zweiten Geschichte, aber auch hier konzentriert sich Rainer Erler  vom Titel an auf eine einzelne Person, die aus narzisstischer Naivität gegen die eigenen Interessen agiert. 

Wie eingangs erwähnt, finden die beiden Biologen Jeroen de Groot und seine Freundin Sibilla Jacopescu einen drei Jahre alten Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitung. Der schottische Biologe Ian McKenzie hat in Cambridge anscheinend mittels Experimenten an Fruchtfliegen den Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden. Auch wenn der Bericht drei Jahre alt ist, wundert es de Groot und Jacopescu, dass sie keine Folgearbeiten finden und diese sensationelle Entdeckung totgeschwiegen worden ist. 

Gemeinsam reisen sie nach Schottland. Für die Teammitglieder nach Aufenthalten in Japan; über Hongkong nach Alaska und schließlich Thailand, eine Geschäftsreise direkt vor der Haustür. In Cambridge macht sich Ernüchterung breit. MacKenzie hat Cambridge vor drei Jahren verlassen und nichts mehr veröffentlicht.  Der Pressesprecher Campbell  rät auf der einen Seite den beiden Mitgliedern des Blauen Palais von einer weiteren Suche nach MacKenzie ab, auf der anderen Seite gibt er ihnen den Hinweise, dass die MacKenzie seit Jahrhunderten Großgrundbesitzer mit den entsprechenden Schlössern sind und vielleicht auch Ian sich auf eine der in der Einsamkeit liegenden Burgen zurückgezogen haben könnte.    

Dort treffen sie auf den verschrobenen,  inzwischen im Rollstuhl sitzenden Forscher und seine Frau. Aber die Begegnung endet nicht wie erhofft. Mackenzie offenbart einen Blick hinter die Kulissen und damit ihn sein Labor, aber er verweigert jegliche Zusammenarbeit.  

Die nächsten beiden Abschnitte des Films und des Buches spielen jeweils im Abstand eines Jahres. Zuerst ergibt sich für die Forscher ohne MacKenzie eine zweite Chance. Dabei stellt sich die Frage, ob Unsterblichkeit wirklich ein erstrebenswertes Ziel inklusive der entsprechenden Menschenversuche ist. Die Forscher diskutieren es kontrovers.

Auf der einen Seite agiert die Biologin Sibilla mit MacKenzies Frau, welche die Forschungsreihe beginnend mit den Fruchtfliegen über die obligatorischen Mäuse und Ratten bis zu den Hasen aktiv unterstützt.  Natürlich sind die Experimente hinsichtlich ihrer potentiellen Erfolge noch relativ und beziehen sich auf die fortlaufende Teilung von Zellen. Normal teilen sich diese Zellen zwanzig bis dreißig Mal, bei den Versuchsanordnungen gibt es auch noch nach der 200. Teilung kein Ermüden. Das spricht für eine gewisse Unsterblichkeit unabhängig von Krankheiten, Unfällen oder Mord. Aber finale Ergebnisse würden erst die folgenden Generationen oder Forscher verifizieren, die sich selbst infiziert haben. 

Der nächste Versuch Schritt wären die Experimente am Menschen. Hier stellt sich angesichts einer schon in den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Überbevölkerung leidenden Erde, deren Menschen ihre Ressourcen planlos verbrauchen, die Frage, ob Unsterblichkeit überhaupt ein erstrebenswertes Ziel ist.  Das zweite Thema sind in der Europäischen Union verbotene Menschenversuche, wobei das Kuratorium eine interessante vorläufige Lösung anbietet. Und eine Endlösung, die Palm bemerkenswert offen den Probanden erläutert. 

Mit der Idee der Unsterblichkeit setzt sich Rainer Erler auf eine bemerkenswerte Art und Weise auseinander. Bei der ersten Testperson ist das nur bedingt spürbar, da - metaphorisch gesprochen -  deren Energie und Forscherdrang heller die Sonne brennt. Aber alleine die Möglichkeit, sein Leben auf eine unbestimmte und unbestimmbare Art zu verlängern, löst in den Menschen Phlegma aus. Der kreative Wille erlahmt, weil mehr und mehr die Idee der persönlichen Faulheit Einzug hält. Laut Rainer Erler gewinnt das Motto, "Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf Morgen” eine gänzlich andere Bedeutung.  Im Umkehrschluss kommen mit dem Ende des Experiments ganz andere Ängste und Nöte bis in den Bereich der Hypochondrie auf. Der Autor setzt sich mit diesen beiden Extremen auf nur wenigen Seiten auseinander, nachdem die Extrapolation in “Unsterblichkeit” deutlicher länger gewesen ist als in den bisherigen Folgen des “Blauen Palais”. Ein wenig Dramatik inklusive latenter Thriller-Elemente bis zum vorläufigen Höhepunkt muss sein. Es ist der zweite Verlust, den die Forscher im “Blauen Palais” verkraften müssen und Rainer Erler ist sich nicht zu schade, auch tragende Persönlichkeiten aus Notwendigkeit der Handlungsführung - und um ein grundsätzliches Problem zu beseitigen - zu töten. 

Der Prolog beinhaltet eine ironische Note. Nur wenige Jahre später sollte - unabsichtlich - die amerikanische Science Fiction Autorin James Tiptree jr. in “The Screwfly Solution” ein vergleichbares Ende finden.  Friedhelm Schneidewind hat in dem Rainer Erler Geburtstagsbuch eine interessante Fortsetzung zum Ende von “Unsterblichkeit” geschrieben. Wie in einigen anderen Folgen lässt sich die Büchse der Pandora nicht mehr schließen. Die möglichen Folgen werden in der letzten Folge “Der Gigant” allerdings nicht angesprochen. In keiner der Episoden bzw. Romane greift Rainer Erler direkt auf bisherige Handlungsstränge zurück oder erwähnt diese. Das wirkt angesichts der verschiedenen Phänomene, denen die Forscher nicht selten aus der Zeitung begegnet sind und deren anfänglichen Unglauben den Nachrichten gegenüber, spätestens mit dieser vierten Episode unglaubwürdig.  

Die moralischen Diskussionen innerhalb der Forschergruppe erreichen angesichts der Komplexität des zu behandelnden Themas einen neuen Höhepunkt. Zum ersten Mal stellt sich ein Mitglied mit dem Segen Palms direkt gegen eine Kollegin und operiert im Geheimen. Es ist ein Verrat in doppelter Hinsicht, aber aus gutem Willen. Mit dieser opportunistischen Vorgehensweise wird zumindest aus Sicht der Mitglieder des Blauen Palais, aber auch des die Forschungen begleitenden Kuratoriums der Menschheit, eine Entscheidung abgenommen. Im Epilog wird diese Vorgehensweise konsequent mit Fehlern besetzt abgeschlossen.  Die Spätfolgen erfährt der Leser allerdings weder in “Der Gigant” noch anderswo in Rainer Erlers umfangreichem Werk. 

Rainer Erler stellt Argumente beider Lager sehr geschickt gegenüber und überlässt es abschließend den Lesern, welche Positionen sie einnehmen. Das macht “Unsterblichkeit” zu einer der besten, am meisten zeitlosen und auch heute noch sehenswertesten Folgen oder lesenswertesten Romanen.  

DAS BLAUE PALAIS (AndroSF: Die SF-Reihe für den Science Fiction Club Deutschland e.V. (SFCD))

  • Herausgeber ‏ : ‎ p.machinery; 1. Edition (20. Juni 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 644 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3957653401
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957653406
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 14 Jahren