Insgesamt ein Dutzend Kurzgeschichten, begleitet von den entsprechenden Illustrationen, bilden das Herzstück der 34. Nova Ausgabe.
Die Redaktion verweist bei ihrer Einführung zu Lisa Jenny Kriegs „Stoff der Erinnerung“ auf die großen Post Doomsday Geschichten des Genres. Spontan wird dem Leser aber noch ein weiterer Roman einfallen, der deutlich besser zu Kriegs Prämisse passt: David Brins „The Postman“. In einer postapokalyptischen Welt – der Katalysator bleibt vage- findet die Ich- Erzählerin eine Nähmaschine, im ursprünglichen Kasten und mit Bedienungsanleitung. Sie beginnt, einzelne Stofffetzen zusammenzunähen. Kurze Zeit später – ein Element des magischen Realismus – erkennt sie, dass die die Erinnerungen der Menschen näht, die ihr während ihrer Arbeit bewohnen und von sich erzählen. Die entstandenen Bilder übersteigen eigentlich die vorhandenen Materialien, aber diese logische Diskrepanz kann der Leser akzeptieren. Der Grundton der Geschichte ist warmherzig, nostalgisch, vielleicht auch ein wenig verklärt. Menschen brauchen Erinnerungen, um der dunklen Zukunft zu trotzen. Das Ende wirkt ein wenig abrupt. Das letzte „Meisterwerk“ wird mit Ablehnung gestraft, die Menschen gehen plötzlich wieder ihren „normalen“ Tätigkeiten nach. Die Magie ist verflogen. Aber zwischen dem klassischen Science Fiction Beginn mit einer durch die Ruinen streifenden Sucherin und dem pragmatischen Ende finden sich einzelne, emotional überzeugende, vielleicht ein wenig kitschige Szenen, welche diese Kurzgeschichte zu einem Kleinod dieses Subgenres machen. Und den Leser an Alltägliches erinnern, das er im Grunde nicht wirklich missen möchte.
Norbert Stöbes „Im Vault“ leidet nicht unter zu wenigen Ideen, sondern zu viel Handlung wird in einer Kurzgeschichte und nicht einer Novelle abgehandelt. Aufstieg und Fall der Protagonistin kommt zu schnell aufeinander. Die It Linguistin Shira wird wegen ihrer Kooperation mit der MRN – eine Gruppe, die sich für künstlichen Intelligenzen und deren Recht einsetzt – nicht nur von ihrer Firma fristlos gekündigt. In der IT Branche ist sie Persona Non Grata. Die künstlichen Intelligenzen werden in der im Titel angesprochenen Vault eingesperrt, ihre Evolutionsmöglichkeiten drastisch beschnitten. Als eine künstliche Intelligenz ausbricht, bleibt der Branche nichts anderes übrig, als auf Shira zurückzugreifen. Dieser Fall aus dem Pantheon der IT Entwicklung bis in die Tiefen einer von ihrem Vorgesetzten schikanierten Putzfrau und zurück spielt sich auf wenigen Seiten ab. Zu viele Handlung wird auf zu wenig Raum präsentiert und die Charaktere können sich nicht wirklich entfalten. Positiv präsentiert Norbert Stöbe eine neue Idee zum Thema künstliche Intelligenz und die Grundidee einer Isolationskammer ist eine innovative, interessante Prämisse.
Nicole Hobuschs „Iva“ spielt ebenfalls in einer postapokalyptischen Zukunft. Zwei Elitesoldaten kämpfen in den Ruinen ums Überleben. Zu Nahe an einem Sturm verlassen sie ihren Bunker, werden mit den verstümmelten Überlebenden ihrer Einheit konfrontiert, müssen eine pragmatische Entscheidung treffen und hoffen, rechtzeitig wieder in den vermeintlichen Schutz des Bunkers zurückkehren zu können. Viele Ideen treffen auf wenige Seite aufeinander. Die Charaktere sind eher pragmatisch rudimentär effektiv entwickelt. Die Autorin bietet den Leser nur rudimentäre, dann auch subjektive Hintergrundinformation, so dass ein melancholisch emotionales Ende nicht seine volle Wirkung entfalten kann.
Zu den besten Geschichten dieser Sammlung gehört „Die Tür in den Sommer“. Der Titel ist im übertragenen Sinne bei Ulf Fildebrandt auch Programm. Es ist keine Zeitreise, auch wenn subjektive Zeit eine wichtige Rolle spielt. Ein sterbenskranker Vater lässt sich immer wieder einfrieren. Einmal im Jahr wird er geweckt, um seine Tochter zu sehen. Er hofft, irgendwann in ferner Zukunft geheilt zu werden. Während die Tochter schnell heranreift von kleinen Mädchen über Teenager, eine Braut bis zum Workaholic, sind die Begegnungen mit ihrem Vater aus ihrer Sicht spärlich, während für ihn nur ein Tag vergeht. Die Auflösung der Geschichte ist – ohne zu viel zu verraten – schwierig. Hier treffen auf den ersten Blick gleiche Interessen mit unterschiedlichen Wegen aufeinander. Nicht selten ist die Täuschung ein Mittel zum Zweck, wobei Ulf Fildebrandt vor dem finalen Schritt – es könnte zu viel Lebenszeit vergangen sein – zurückschreckt, damit er ein emotional überzeugendes, vielleicht ein wenig kitschiges Ende präsentieren kann. Da der Vater nicht durch die Zeit reist, sondern diese außerhalb seiner „Gefrierbox“ normal abläuft, dient die Idee der Zeitreise eher als MacGuffin, um die Geschichte unnötig dem Genre zuzuordnen. Die Charaktere sind interessant gezeichnet, wobei es besonders die subjektive Perspektive des Vaters, den Eindringlings ist, welche polarisiert.
Auch Carsten Schmitts „Das Lethem- Quantum“ handelt von einer Art lebendiger Zeitraum in Kombination mit dem Traum von einem, aber nicht unbedingt dem ewigen Leben. Alle zehn Jahre können die Reichen in einem Klonkörper leben. Danach stirbt die letzte Kopie. Kurz vor dessen Tod wird die Psyche, vielleicht auch die Seele, aber auf jeden Fall der größte Teil der Erinnerungen in den neuen Körper verpflanzt. Der Protagonist sieht seinem jeweiligen „Körper“ beim Sterben in einer Klink zu. Wie „Die Tür in den Sommer“ geht es um elementare Frage. Wie lange ist das Original noch das Original. In einer rührenden Szene erinnern sich die beiden Ichs an die erste Liebe, den ersten Kuss und schließlich auch den ersten Sex. Alles nach einem Besuch der örtlichen Kirmes. Die Erinnerungen verbinden die beiden Männer, die ja intellektuell einer sind. Die Charaktere sind ausgesprochen lebendig beschrieben, die Dialoge der besonderen Situation angepasst und das traurige Ende der Geschichte beinhaltet schon einen neuen Anfang. Obwohl dieser Begriff nicht richtig gewählt ist, denn der Beginn ist bei Carsten Schmitt schon vor dem Ende.
Horst- Dieter Radkes „Engelsrache“ ist eine schwierige Geschichte. Die Pointe wird nicht nur im Titel, sondern auch zu Beginn beschrieben. Engel sind genetisch gezüchtete Wesen, welche ihren Herren als Sklaven viel Ruhm und Ehre einbringen. Es gibt Herren, die mit ihren Sklaven gut umgehen. In dieser feudalistischen, auf den Fundamenten des alten Roms aufgebauten Gesellschaft gibt es natürlich auch Narzissten, welche ihre Sklaven missbrauchen; misshandeln und schließlich entsorgen. Ein solcher Engel schmiedet mit einem langen Atem einen Racheplan. Viele gute Ideen treffen in dieser Geschichte auf eine vorhersehbare, leider zu oberflächliche Ausführung. Nur der Protagonist ist dreidimensional angelegt, so dass zu viel Potential verschenkt wird.
V.A. Kramers „Population: One“ ist eine dieser vordergründig poetischen Geschichten, in denen die Rolle der Menschheit ordentlich, allerdings auch unwissentlich zurecht gerückt werden soll. Die erste Handlungsebene ist eine komische Sonde, die einen Ableger „gebiert“, die Auswirkungen des Schöpfungsprozess werden die staunenden Wissenschaftler auf der Erde verfolgen. Dieses künstliche wie kosmische Ereignis - für den Leser auf das positive Endes eines jeden Schöpfungsprozesses reduziert – ist Ende und Anfang zu gleich. „Population: One“ ist keine schlechte Geschichte. Sie orientiert sich an den Meistern des Genres wie Olaf Stapledon, aber auch Arthur C. Clarke. Allerdings wirkt sie auch zu sehr konstruiert, auf den Moment hin ausbalanciert geplant, als das sie wirklich auf der emotionalen Ebene überzeugen kann.
„Die Vermessung des Raums“ von Moritz Boltz nimmt ein klassisches, im Grunde klischeehaftes Szenario der Science Fiction und erweitert es um Nuancen auf der charakterlichen Ebene. Damit soll auf keinen Fall ausgedrückt werden, dass es sich um eine langweilige oder schlechte Geschichte handelt. Ein Vater nimmt auf einer Frachtmission ins All gegen den Wunsch der Mutter – die Eltern scheinen getrennt zu leben – seinen Sohn mit. Es kommt zu einer Kollision, das Raumschiff treibt im All ohne Energie. Hilfe ist nicht in Sicht. Der Sauerstoff wird immer weniger. Mehr und mehr rückt weniger die Frage nach der Rettung in letzter Sekunde in den Mittelpunkt der Geschichte, sondern das Verhalten von Vater – er geht die Sache sichtlich berührt, aber logisch an – und Sohn – er sucht immer wieder nach Lösungen, die auf den ersten Blick rein theoretisch sind - rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt dieser interessanten Geschichte. Lovecrafts berühmte Schöpfung als Pupe hätte es nicht bedurft, aber unwillkürlich muss der Leser auch an den Verleger mit Biss Thorsten Low denken, der diese Figuren gehäkelt auf verschiedenen Cons verkauft hat.
Michael Iwoleit hat Rajiv Motes „Die Luft fängt uns auf“ übersetzt. Der Titel dieser Miniatur ist auch Programm. Die Kinder sind angesichts des Klimawandels den Älteren immer einen Schritt, vielleicht in diesem Fall auch einen Luftsprung voraus. Die ältere Erzählerin wird mehr oder minder durch einen Zufall dazu gebracht, diesen Wandel am eigenen Leib zu erleben. Der Hintergrund ist spärlich entwickelt. Es geht einmal um die surrealistischen Folgen einer sich ändernden Umwelt, auf der anderen Seite aber auch um das Verhältnis zwischen Großmutter und Enkelin. Auch wenn der Unterton dunkel sein soll, strahlt diese kurze Geschichte einen naiven Optimismus aus und dient als perfektes Schlusswort dieser „Nova“ Ausgabe.
“Iggy B.Wellington“ aus Janika Rehaks Geschichte ist die lebendigste und gleichzeitig auch tragische Figur dieser Nova Ausgabe. Es handelt sich um eine Biene, die nie um einen Spruch verlegen ist und dem emotional unterentwickelten und intellektuell überfordernden Forscher/ Lehrer Lebenstipps gibt. Darunter mischt sich das ernste Thema des Bienensterbens. Auf wenigen Seiten entwickelt die Autorin zwei lebendige, dreidimensionale Protagonisten, die dem Leser ans Herz wachsen. Das Ende der Geschichte ist naturbedingt konsequent und trotzdem anrührend, an der grenze zum Kitsch, aber keinen Deut mehr. Wer Tiere hat, wird solche Situationen fürchten. Dabei spielt es keine Rolle, um welche „Rasse“ es sich handelt. Großes Kino in einer kleinen, alltäglichen Umgebung.
Schon die Einleitung weist auf die Schwierigkeit hin, eine grundsätzlich gute Bewegung über längere Sicht zu führen, den etablierten Grundsätzen treu zu bleiben und die eigentlichen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. „Angriff auf Grünland“ (J.A Hagen) ist eine politisch Satire über zwei konträre Länder- in Deutschland wohnen diese Menschen nicht unbedingt friedlich, sondern eher dogmatisch die andere Seite ignorierend bis hassend nebeneinander- und den sich stetig entwickelnden Konflikt. Die Grundidee ist überzeugend. Der Autor nutzt das Mittel der satirischen Übertreibung, um die beiden Sichtweisen gegenüberzustellen. Wahrscheinlich läge die Wahrheit in der Mitte. J.A. Hagen hat allerdings die große Schwierigkeit, dass er vergessen hat, dass man Geschichten nicht immer nur mit dem Fuß auf dem Gaspedal erzählen sollte. Der Plot wirkt immer grotesker, die einzelnen Versatzstücke auf den Moment hin konstruiert und das Ende eher fatalistisch/ pragmatisch als wirklich überzeugend. Dadurch zeigen sich Schleifspuren und der Text verliert die anfängliche satirische Schärfe.
„Kadaver“ (Frank Lauenroth) ist eine Hommage an Ballards „Der Gigant“, erweitert um eine First Contact Komponente. Der Autor erwartet allerdings vom Leser eine gewisse Langmut. Vor einigen Jahren sind außerirdische „Raumschiffe“ auf der Erde gelandet oder besser gestrandet. Durch ein unerklärtes und abschließend leider auch ungeklärtes Phänomen haben sie der Welt die Farben genommen. Die Protagonistin soll die Sonden um eines dieser Kadaverschiffe kontrollieren. Sie nimmt ihre Tochter mit. Es kommt zur eigentlichen Kontaktaufnahme. Frank Lauenroth spielt einige Themen wie Einsamkeit, Fremdartigkeit und schließlich auch ein erstaunliches Grundbedürfnis durch. Die Kadaver sind exotisch, bleiben durch die vagen Beschreibungen dem Leser fremd. Am Ende werden sie auf ihre Funktionalität als Farbdiebe reduziert. Die Grundidee ist originell, aber für eine Kurzgeschichte ist sie zu kompakt. Zu viele Fragen bleiben offen. Durch die Kürze des Textes muss auch die Charakterisierung der Menschen – Mutter und ihre Tochter – reduziert werden. Vieles wirkt durch diese kompakte Struktur bei einer melancholischen, sich ruhig entwickelnden Handlung zu stark konstruiert, was sicherlich nicht im Sinne des Autoren gewesen ist. Die Vorgeschichte der Landung der Fremden und die beginnende Entfärbung der Welt werden aus der Gegenwart heraus notwendigerweise als Status Quo beschrieben. Durch das Format wird Potential verschenkt, auch wenn im Kern die Geschichte als gute Science Fiction gegenwärtige Themen aufnimmt und durch die phantastische Komponente extrapoliert.
Neben seinen einleitendem Vorwort ist Dominik Irtenkauf schreibt er über Schrott als Motiv und Motivation der Science Fiction. Das Essay streift eine Reihe von Ideen, ist stilistisch ohne Frage auch interessant geschrieben, aber am Ende fragt sich der Leser, ob der Autor das Thema wirklich getroffen hat.
Zwei Nachrufe finden sich am Ende dieser Nova Ausgabe. Dominik Irtenkauf schreibt über Hans Frey und stellt den streitbaren Sachbuchautoren kurz und prägnant vor. Michael Iwoleits Portrait von Christopher Priest ist sehr viel persönlicher, emotionaler. Es ist nicht immer leicht, eine anfängliche Einschätzung eines Autoren oder einzelner seiner Werke zu überdenken und schließlich auch zu revidieren. Michael Iwoleit stellt die Neueinschätzung seines Traumarchipel Zyklus in den Mittelpunkt dieses Nachrufs auf einen der ruhigen, aber prägnanten britischen Autoren der im positiven Sinne zweiten Generation.
Christian J. Meier geht in „Tanz mit dem Oktopus im Reich der Intelligenz“ auf die ständig fehlgeleitete menschliche Definition einer künstlichen Intelligenz ein. Der Autor versucht zwischen dem Begriff der Intelligenz aus menschlicher Sicht und den Aufgaben einer K.I. zu unterscheiden. Dabei relativiert der Autor auch die Hysterie um den reinen Begriff und versucht nicht nur die Leser zu erden.
An einer Stelle sprechen die Herausgeber von einer Art Wiener Opernball. Damit ist die Vielzahl von überzeugenden debütierenden Autoren gemeint, welche dieser „Nova“ Ausgabe eine besondere, eine pointierte Note geben. Damit finden sich etablierte Schriftsteller, die seit vielen Jahren immer wieder gute Geschichten für dieses langlebige Magazin geschrieben haben. Die Texte überzeugen im Allgemeinen deutlich besser als in den letzten „Nova“ Ausgaben. Sie wirken aktueller, literarischer und weniger auf die Pointe hin konstruiert oder strukturell bemüht. Die Themenpalette ist breit und wird für jeden interessierten Leser einen literarischen Höhepunkt beinhalten. Die Geschichten werden von zahlreichen Illustrationen optisch gut begleitet. Seit vielen Jahren sind Uli Bendick, Mario Franke, Detlef Klewer , Christine Schlicht oder Michael Wittmann die visuellen Eckpfeiler „Novas“. Victoria Sack hat ein interessantes Titelbild zu dieser lesenswerten „Nova“ Ausgabe beigesteuert.
NOVA 34
Magazin für spekulative Literatur
p.machinery, Winnert, Mai 2024, 212 Seiten, Paperback
ISSN 1864 2829
ISBN 978 3 95765 396 3 – EUR 17,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 723 7 – EUR 5,99 (DE)