Das Lied des Propheten

Paul Lynch

 Der Klett Cotta Verlag legt mit „Das Lied des Propheten" den mit dem Booker Preis ausgezeichneten dystopischen Roman „ Prophet Song“ auf deutsch vor. Der 1977 in Limerick geborene Paul Lynch arbeitet  seit ungefähr zehn Jahren als Buchautor, vorher als Filmkritiker. 2013 veröffentlichte er „Red Sky in Morning“, an dem er vier Jahre gearbeitet hatte. Die Geschichte basiert auf 57 irischen Emigranten, die 1832 in den USA während der Arbeiten an der amerikanischen Eisenbahn verschwunden sind. Auch seine beiden folgenden Bücher „The Black Snow“ (Handlungszeitraum: 1945), Grace – die irische Hungersnot – sind vor der eigenen Geschichte angesiedelt. Alleine „Beyond the Sea“ ist die Überlebensgeschichte zweier südamerikanischer Fischer, die nach einem Sturm im Pazifik abgedriftet sind.

Bislang ist nur „Grace“ in die deutsche Sprache übersetzt worden.

Mit „Prophet  Song“ kehrt Paul  Lynch in seine irische Heimat zu einer nicht bestimmten, aber sehr nahe an der Gegenwart liegenden Zeit zurück. Paul Lynch setzt sich mit der Fragilität von Demokratien auseinander, die von narzisstischen Politikern zu eigenen Gunsten umgebaut werden. Paul Lynch folgt auf der einen Seite der Tradition George Orwells „1984“, wobei die Perspektive geschickt die andere Seite ist. Paul Lynch beschreibt das Schicksal der zurückgebliebenen Familienmitglieder, die nicht wissen, wo ihre Angehörigen sind.  Ein zeitloses Thema, wie Argentinien, Chile oder Syrien, von Russland ganz zu schweigen, beweisen. Aber Paul Lynch hat sich anscheinend auch von Alan Moores “V for Vendetta“ inspirieren lassen. Während Huxley und Orwell ihre dystopischen politischen Gebilde als unverrückbar beschreiben und die einzelnen Schicksale in der Masse unterzugehen drohen, In der zweiten Hälfte des Buches gibt es eine Gegenbewegungen, was auf der einen Seite den politischen Strömungen in Syrien entspricht, aber auch als Warnung gegenüber den Unruhen in den westlichen, im Grunde allen Demokratien auch zu leicht als Ausweg, als Abstimmung einer entschlossenen kleinen Gruppe von unten angesehen werden kann. Auf die Geschichte Irland übertragen, sind die Regierungsmitglieder mit ihrer allgegenwärtigen neu gegründeten irischen Geheimpolizei und die Rebellen als Heroen einer fiktiven echten I.R.A. nur bedingt geeignet.

Paul Lynch hat sich bei der Struktur der Geschichte gegen eine klassische Erzählung entschieden. Es gibt keine Dialoge, im Grunde auch keine richtigen Absätze und schließlich auch keine Kapitel. Zwischen dem Beginn und dem Ende der Geschichte liegen viele Monate, die vergangene Zeit wird von der im Mittelpunkt stehenden und ihre restliche Familie zusammenhaltenden Eilish Stark immer wieder erwähnt, aber der Leser bekommt so schwer ein Gefühl für den wahren Ablauf. Sie leben in der Republik Ireland, die eine totalitäre Regierung gewählt haben. Wie bei Trump regiert die Partei vor allem mit Notstandsgesetzen, setzt die irische Verfassung außer Kraft. Das Land steht auch mittels der schon angesprochenen Geheimpolizei GNSB unter der vollständigen Kontrolle. Im Laufe der Handlung zeigt Paul Lynch auf, wie die Fesseln immer stärker angezogen, die Bevölkerung kontrolliert wird und die unerwünschten Elemente aussortiert werden.  Vieles spielt sich als Hörensagen ab, nur ein erstes „Gespräch“ verfolgt der Leser auf Augenhöhe.

Eines Abends kommen zwei Geheimpolizisten in das Haus der Starks, sie wollen Eilish Starks Mann sprechen. Er ist Lehrer und gleichzeitig Mitglied der Lehrergewerkschaft, die sich gegen verschiedene Einschnitte zu wehren beginnt. Ihr Mann wird aufs Präsidium zitiert. Kurze Zeit später - wie einige andere Männer  - verhaftet und verschwindet. Es gibt kein Lebenszeichen, kein Gerichtsverfahren, rein gar nichts. 

Die erste Hälfte des Buches ist ein paranoider, aber sehr realer Alptraum. Larry Stack wird verhaftet und verschwindet. Keine Anklage, im Grunde auch keinen Anwalt, kein Verfahren und vor allem auch kein Urteil.

Eilish bleibt mit ihren Kindern zurück.  Mark ist ihr ältester Sohn, der mit siebzehn Jahren illegal und in der Schule noch gemustert wird. Er soll vom Militär ein Jahr vor dem Abschluss wie viele andere Jugendliche eingezogen werden. Molly ist ihre einzige Tochter, der dreizehnjährige Bailey wird später schwer verwundet und ein weiteres Opfer des Regimes.

Eilishs Vater leidet an Demenz. Ihre Schwester fleht sie an, mit den Kindern und dem Vater zu ihr nach kanada auszureisen. Sie lehnt es aber, weil Eilish nicht daran glaubt, dass sich ein solches Regime halten kann.

Die Unsicherheit hinsichtlich der Verschwunden – Larry ist kein Einzelfall – und vor allem der kontinuierliche Druck der Behörden mit vor einigen Jahren absurd wirkenden Gesetze, welche inzwischen vor allem in den USA unter Trump eingeholt worden sind, erzeugen eine paranoide Atmosphäre  vor einem gegenwärtigen und damit dem Leser auch vertrauten Hintergrund. Idyllische Kleinstadtsiedlungen, im Grunde ein beschauliches mittelständisches Leben und bislang in der Theorie sichere Arbeitsplätze.

Es beginnt sich Widerstand zu regen. In weißen Kleidern, mit weißen Kerzen ziehen die Hinterbliebenen der Vermissten noch friedlich durch die Straßen und weisen auf deren Schicksale hin. Die gesichtslose Regierung zieht allerdings Militärs zusammen, um jederzeit weitere Dissidenten, Demonstranten oder unerwünschte Subjekte zu verhaften und verschwinden zu lassen. Die Überwachung ist schon weitreichend, wie Eilish bei der Verlängerung eines Ausweises ihres Kindes erkennen muss.

Paul Lynch baut diese paranoide Atmosphäre konsequent und intelligent auf. Er hält sich an verschiedene, leider realistische Beispiele der Vergangenheit und entwickelt sie für seine irische Heimat nicht unbedingt weiter, sondern überträgt sie eher. Der fast naiv wirkende Unglaube der Bevölkerung angesichts der sich drastisch verändernden Verhältnisse könnte für die streitbaren Ihren vielleicht oder besser wahrscheinlich ein wenig zu zahm sein, aber der Autor das kann er als Ire wahrscheinlich besser beurteilen als ein außenstehender Leser.    

Die Umwälzungen betreffen ja vor allem die Menschen, die auffallen, gegen den Strom schwimmen oder alte demokratische wie gewerkschaftliche Ideen betreffen. Die breite wie gesichtslose Masse wird nur bedingt betroffen und glaubt der Propaganda, dass es sich um subversive Elemente handelt. Da die Geschichte ausschließlich aus den persönlichen Perspektiven der Starks erzählt wird und sich Larrys Begegnung mit den Behörden auf Eilish konzentriert, wirkt vieles auch aus einer gewissen Scheuklappen Perspektive geschrieben. Paul Lynch verzichtet auf Absolutismen, alles ist in einem erdrückenden Flow.

Erschreckend wie leider inzwischen real ist der Zusammenbruch der Demokratie einer Wohlstandsgesellschaft der ersten Welt durch die mehrheitliche Gleichgültigkeit dem Wirken der narzisstischen Politiker und ihrer alltäglichen Propaganda gegenüber.

Interessant wirkt, dass Paul Lynch in die eine wie die andere Richtung die sozialen Medien nicht sonderlich vor den Karren spannt. Das Fernsehen ist politisiert und wird zensiert. Aber an keiner Stelle findet sich eine Einschränkung der Zugänge ins Netz oder auf die entsprechenden Facebook Seiten. Vielleicht will Paul Lynch mit diesem Verzicht den politischen Hintergrund auch globaler aufstellen und sieht die Vorgänge in Irland nur als Teil einer antidemokratischen autoritären Bewegung.

Die zweite Hälfte des Buches ist dynamischer, aber auch problematischer mit der beginnenden bewaffneten Rebellion gegen die Regierung.   

Diesen Handlungsfaden – er geht ja weiter über das Schicksal der Familie Stark hinaus – lässt Paul  Lynch abschließend offen. Interessant ist, dass er die irische Geschichte spiegelt und der Exodus aus der Republik in die nordirische Konklave erfolgt.  Der Grundmuster der Rebellion folgt den erfolgreichen, aber auch weniger erfolgreichen Versuchen in Syrien,  in Libyen oder anderen Nationen, welche sich gegen ihre Herrscher erhoben haben. Triebfeder ist die Jugend, wobei ein großer Unterschied besteht. Paul Lynch Charaktere wachsen anfänglich in demokratischen Verhältnissen auf, werden dann mit einer oligarchischen Diktatur konfrontiert, gegen die sie Krieg führen. In den angesprochenen Ländern haben die jungen Menschen teilweise von Geburt an wie ihre Vorfahren unter dem Joch gelebt und befreien sich inklusive ihres Volks von den Tyrannen oder sterben.

Paul Lynch Roman fehlt trotzdem eine Vorgeschichte. Der Leser wird in das hintergrundtechnisch rudimentär erzählte Geschehen geworfen. Der Aufstieg der Populisten, die zu Tyrannen und Diktatoren von ausgesuchter Menschen verachtender Qualität werden, muss der Leser als gegeben anerkennen.

Auch die Demonstrationen der Lehrer/ Gewerkschaftler gegen die neuen Gesetze ist generell ein wenig vage formuliert. Natürlich rechtfertigt eine Demonstration auf der Straße keine Verhaftung oder Ermordung, aber ein wenig mehr Hintergrundinformationen hätten der Geschichte gut getan.

Da sich Paul Lynch aber auf die gedrängte Erzählstruktur mit im Kern einer Perspektive fokussiert hat, erfährt der Leser auch nur das, was Eilish von Nachbarn, aus der natürlich zensierten Presse und ihren frustrierenden Begegnungen mit den Behörden mitgeteilt wird. Das reicht, um ein dunkles Bild der ehemaligen Republik Irland zu zeichnen; um ihre Handlungen und Vorgehensweise zu verstehen, aber es steht auch teilweise in einem Widerspruch zu einer gänzlich befriedigenden politischen Lektüre.

Wie Cormac McCarthys „The Road“ nimmt sich Paul Lynch einem grundlegend bekannten, aber auch schwierigen Thema an und erzählt es auf der einen Seite konsequent pessimistisch, auf der anderen Seite aber auch hinsichtlich der Entschlossenheit einer Ehefrau/ Mutter und dem Zusammenhalt der Restfamilie überzeugend, aber nicht kitschig optimistisch.

Vielleicht ist aber die wichtigste Botschaft des Buches, wie schnell eine Demokratie zerbrechen und die Stimmung eines relativ reichen Landes umschlagen kann. Paul Lynch lädt den Leser ein, der Entwurzelung und schließlich auch Flucht von Menschen aus der Nachbarschaft, aus dem Herzen Westeuropas zu folgen. Nach der Lektüre wird mancher Leser eine etwas andere Perspektive auf die echten Flüchtlinge haben, die aus Angst um ihr Leben fliehen, fließen müssen im Gegensatz zu den Opportunisten, die von der Gutmütigkeit, Naivität der Anderen profitieren wollen. Bei Paul Lynch sitzen diese inzwischen an den Hebeln der Macht und kommen aus den eigenen Reihen.      

Das Lied des Propheten: Roman | SWR Bestenliste Januar 2025

  • Herausgeber ‏ : ‎ Klett-Cotta; 5. Druckaufl., 2024 Edition (13. Juli 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 320 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 360898822X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3608988222
  • Originaltitel ‏ : ‎ Prophet Song