Der Wandler Verlag legt mit William Hjortsbergs ironischem Science Fiction Roman „Grey Matter“ mehr als vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung im Jahre 1971 zum ersten Mal übersetzt vor.
Der 1941 in New York City geborene William Reinhold Hjortsberg ist vor allem durch die von Alan Parker meisterlich inszenierte Adaption seines Romans „Angel Heart“ (1978 geschrieben, 1987 im Heyne Verlag publiziert) vielleicht noch im Gedächtnis.
Nach seinem Bachelor begann Hjortsberg verschiedene Studien, bevor eher durch das hartnäckige Drängen eines Freundes sein Debütroman „Alp“ veröffentlicht worden ist. Der Wandler Herausgeber Michael Schmitt hat für den hier vorliegenden Kurzroman das Vorwort aus einem Sammelband mit zwei Science Fiction Novellen und zwei Kurzgeschichten übersetzen lassen. „Grey Matter“ ist einer der beiden längeren Texte. In dem humorvoll geschriebenen Vorwort geht Hjortsberg auf seine ersten eher krampfhaften Versuche, ein ernstzunehmender Schriftsteller zu werden ein. Die beiden entsprechenden Romane sind nie veröffentlicht worden. Erst als Hjortsberg begann, für sich selbst zu schreiben und sich dann nicht mehr an die selbst auferlegten Grenzen zu halten, entwickelte er neben bizarren Ideen einen eigenen Stil, der zur Publikation von „Alp“ (1969) führte. Mit „Grey Matter" folgte zwei Jahre später sein erster Abstecher in den Bereich der Science Fiction, wobei „Alp“ und „Grey Matter“ über für die damalige Zeit auch provokante Sexszenen inhaltlich miteinander verbunden sind. In „Grey Matter“ beschreibt Hjortsberg einige interessante Praktiken gegen Ende der Geschichte, aber auch der Aspekt des Masochismus bis zur Selbstaufgabe spielt in dem Kurzroman eine Rolle.
Kurz vor der Veröffentlichung von „Angel Heart“ begann Hjortsberg auch mit dem Schreiben von Drehbüchern. „Wie Blitz und Donner“ mit David Carradine und Kate Jackson in den Hauptrollen ist die Geschichte von Alkoholschmugglern während der Prohibition. Allerdings ist der Film auch eine Hommage an Burt Reynolds Action Streifen „Ein ausgekochtes Schlitzohr“.
1985 arbeitete Hjortsberg am Drehbuch zu Ridley Scotts „Legende“ mit, ein Jahr später an der Adaption seines eigenen Romans „Angel Heart“.
Bemerkenswert ist in seinem kleinen Werk noch die Kriminalgeschichte „Sprach der Rabe: Nimmermehr“, welche der Zsolnay Verlag 1995 publiziert hat. Eine Würdigung Poes im Gewand eines modernen Krimis.
„Grey Matter“ ist ein Kind der siebziger Jahre. Schon damals waren einige Ideen nicht mehr ganz neu. Verpflanzte Gehirne; der dritte atomare Weltkrieg und schließlich auch der Kampf in einem fiktiven Dschungel ums Überleben. Aber die von Hjortsberg verwandten Versatzstücke gemischt mit Exkursionen in die Absonderlichkeiten der Dritten Welt und einige Stammesrituale, welche sich in den italienischen Kannibalen Filmen wiederfinden sollten, machen die Geschichte zu einem Art Zeitkapsel und trotz einzelner Längen und Sprünge innerhalb der Logik zu einer interessanten, auch heute noch faszinierenden Lektüre. Vor allem weil Hjortsberg mit der finalen, zynischen wie bizarren Szene einen handlungstechnischen Kreis schließt und nachweist, dass technologischer Fortschritt an den Grenzen der Menschen immer enden, manchmal zusätzlich auch scheitern wird.
Auch wenn der Plot nicht gänzlich chronologisch erzählt wird, ragen verschiedene Eckpfeiler aus der Geschichte heraus. Drei Personen stehen im Mittelpunkt der Handlung. Einmal ein zwölfjähriger Junge, der nach einem Flugzeugabsturz schwerstverletzt nur gerettet werden kann, in dem sein Gehirn quasi nach seinem „Tod“ entnommen und künstlich am Leben gehalten wird. Er ist die eigentliche Identifikationsfigur des Lesers, dessen nicht nur sexueller Reifeprozess immer wieder aufgegriffen wird. Eine alte Filmschauspielerin hat die Transplantation ihres Gehirns als letzte Flucht vor dem Altern genutzt. Sie schaut sich gerne ihre Filme an, wobei sie sich auf die ganz frühen Streifen im Ostblock konzentriert. Mit ihrem vierzehn Jahre alten Ich. Das ist grenzwertig, da sie einem späteren Liebhaber auch nur erlaubt, diese Filme zu schauen. Sie ignoriert das Altern, auch wenn sie anscheinend zumindest aus der Sicht ihrer Mitmenschen in Ehren gereift ist. Sie ist sexuell sehr aktiv. Nicht nur beim Betrachten ihrer Filme. Im Laufe des Buches wird ihre nicht selten auch ein wenig tragische Lebensgeschichte enthüllt. Sie fühlt sich zu dominanten, vielleicht auch sadistischen Männern hingezogen, wobei sie eine Ehe mit einem brutalen Sadisten, der sie gerne zusammengeschlagen hat , mit dessen Gewehr beendete. Sie steht allerdings auf Peitschen und Dornen (gerne mit den ihr vorher geschenkten Rosen). Allerdings entwickelt sich während des Sexs auch mehr und mehr eine dominante Ader… es ist nicht die einzige Wendung in dieser Geschichte, welche der Autor eher in den Raum wirft als wirklich nachhaltig entwickelt.
Im „Paradies“ erweist sie sich bei ihrer Beziehung mit einem rebellischen Bildhauer neben der deutlicheren Dominanz auch sexuell unersättlicher, was teilweise die Grenze zur Parodie auf die Anfang der siebziger Jahre nach unter dem Ladentisch gehandelten pornographischen Schriften erinnert.
Die drei Figuren sind unterschiedlich gut gezeichnet. Während der traumatisierte Junge die Verpflanzung des Gehirns als Chance sieht, nicht nur zu überleben, sondern sich auch fortbilden, verharrt die Schauspielerin in ihrer eigenen Vergangenheit. Progression trifft quasi auf Degression. Das radikale Element ist der Bildhauer. Er passt in keine Ordnung und die sexuelle Beziehung zur Schauspielerin, inklusive einiger interessanter „Spiele", nimmt immer einen deutlich breiteren Raum ein als es der ganze Roman hinsichtlich der Konstellation und vor allem der verschiedenen Hintergründe vertragen kann.
Vor allem weil Hjortsberg als Ordnungsmacht vom Mystizismus besessene mechanische bzw. robotisierte Bürokraten einsetzt. Größer könnte der Kontrast zwischen den Gehirnen und ihren Hütern nicht sein. Das führt im Laufe der Handlung zu einigen Missverständnissen und zu stummen Rebellionen gegen die aus Sicht der Gehirne sinnfreien Anweisungen. Die Bürokratie hat in diesen Fällen einen schweren Stand. Auch wenn Hjortsberg nicht Isaac Asimov zitieren will oder vielleicht auch in Unkenntnis kann, steht das Wohl der Gehirne und damit der Menschen bzw. späteren Versuchsobjekte an oberster Stelle.
Der Weg ist das Ziel. Beginnend mit den ersten Experimenten mit Gehirnen – die Grundidee ist eigentlich, mit den Gehirnen statt Astronauten zu den nächsten Sternen zu fliegen – entwickelt Hjortsberg einen interessanten Hintergrund für seine Geschichte. Der dreißig Minuten dauernde Dritte Weltkrieg tötet den größten Teil der Menschheit, welcher nicht zur reichen Elite gehört oder seine Gehirne bei Zeiten (des nahenden Todes) in Einrichtungen – sogenannten Depositories – untergebracht hat. Diese automatisierten Konservatorien erhalten die Gehirne. Es gibt aber strenge Regeln und wer sich zum Beispiel nicht an die alltäglichen Meditationen hält, wird mit Medienentzug bestraft. Im Falle der Schauspielerin eine harte Strafe.
Die Gehirne (Cerebromorphs) durchlaufen unter den strengen Weisungen verschiedene Stufen der Weisheit. Diesen verklärt religiösen Aspekt streift der Autor immer wieder. Er mischt christliche Symbolik mit heidnischen Ritualen – einzelne Szenen sind selbst in den kurzen Beschreibungen unangenehm realistisch und sollen vor allem provozieren – und östliche Lehren. Der Weg ist zwar das Ziel, aber der Sinn wird zu wenig nachhaltig erläutert.
Interessant ist, dass zumindest einzelne Gehirne nach dem Durchlaufen der verschiedenen Stufen einer bizarren Weisheit wieder in Körper zurück gepflanzt werden sollen. Künstlich gezüchtete Körper. Da die Erde verwüstet ist, werden diese Menschen in pastorale Welten zurückgeschickt, wo sie allerdings eher ihre persönlichen Robinsonaden beginnen. Die bisherige Überwachung wird mit dem Wechsel des Stadions wieder fallengelassen.
Die Schwächen des Textes liegen weniger in den zahllosen, teilweise absurden Ideen, die der Autor präsentiert. Hjortsberg fühlt sich noch nicht in der Lage, einen Plot nachhaltig zu entwickeln. Basierend auf einer bzw. sogar zwei guten Ausgangsideen – die Lagerung von Gehirnen; die Überwachung von Menschen durch Maschinen nach der atomaren Katastrophe - verzettelt sich der Autor insbesondere im überambitioniert wirkenden mittleren Abschnitt. Er springt in einem Stillleben, basierend auf den Handlungen oder Auslassungen weniger Protagonisten, immer hektischer hin und her. Beendet einzelne Handlungsbögen nicht wirklich und erwartet, dass der Leser gedanklich den roten Faden entlang hangelt, um dann nach einem weiteren Sprung gleichzeitig mit dem Autoren wieder einzusteigen. Aber so routiniert ist Hjortsberg nicht und er beginnt auch angesichts der sexuellen Ausschweifungen – sie sind nicht langweilig geschrieben, nutzen sich aber sehr schnell ab - die Orientierung zu verlieren. Dabei vergisst der Autor auch die ursprünglich philosophisch religiöse Grundauslegung des Buches und konzentriert sich auf Oberflächlichkeiten. Das wäre verzeihbar, vielleicht sogar akzeptabel, wenn Hjortsberg am Ende seines Romans die Kurce kriegt und ausdrücken möchte, dass der Mensch eben nur ein von Instinkten getriebenes „Tier“ ist. Mit ein wenig mehr Gehirn, das aber flexibel einsetzbar ist. An einer anderen Stelle beschreibt der Autor, dass die Gehirne am Liebsten den Maschinen bei ihrer alltäglichen Arbeit zusehen. Ihre eigene Reality Show. Damit werden die Zuschauer wieder zu den Coachpotatoes, die einige während ihres Leben gewesen sind. Sie verschwenden die potentielle Unsterblichkeit auf banale Dinge. Klassische satirische Elemente, die eher nebensächlich präsentiert werden. Als reine satirische Gesellschaftskritik durch verschiedene Klassen will Hjortsberg aber seinen Roman nicht sehen und springt im letzten Drittel zu stark zwischen einzelnen, eher ernstgemeinten und weniger kritisierenden Ideen hin und her. Isoliert betrachtet sind diese im Rahmen des Genres teilweise antiquiert, teilweise aber auch originell umgesetzt. Nur uneinheitlich präsentiert.
Die Ausgangsbasis der Geschichte ist gut. Vor allem der junge Mann als tragischer Überlebender eines Flugabsturzes und die narzisstische Schauspielerin werden gut als Figuren entwickelt. Aber Hjortsberg verliert sich anschließend ein wenig in der Handlungsführung. Seine Figuren entwickeln sich nicht wirklich weiter und wenn möglicherweise einer der drei wichtigsten Charaktere stirbt, springt der emotionale Funke nicht über. In mancher Satire würde ein Übererzähler Shakespeares „All about Nothing“ nach dem „Warten auf Godot“ Auftakt zitieren. Aber diese finalen Brückenschläge zur Literatur fehlen an relevanten Stellen komplett, so dass der Leser davon ausgehen muss, dass der satirische Unterton nur Beiwerk ist, um den Plot lesenswerter zu machen und wie einige andere Ideen keine tiefergehende Bedeutung hat.
In einem Punkt ist der Autor aber dem Genre deutlich voraus. Vielleicht ist „Grey Matter“ der heilige Gral, in dem zumindest die Matrix entstanden ist. Auch wenn die Menschen künstliche Körper erhalten, streifen sie durch eine möglicherweise fiktive Welt. Die komprimierte Handlung macht nicht deutlich, ob die künstlichen Körper nicht vielleicht doch reine Illusion sind. Das wäre ein zynischer Knalleffekt zum Ende der Geschichte hin und würde „Grey Matter“ auch genrehistorisch zum Startpunkt einer ganzen Reihe von Filmen und Büchern machen.
In der vorliegenden irgendwie auch roh wirkenden Fassung ist „Grey Matter“ ein bizarres Buch voll mit nicht abschließend entwickelten Ideen; den angesprochenen, manchmal dreidimensionalen, dann wieder klischeehaften Charakteren und einer sprunghaften Handlung. Was sich gänzlich negativ anhört, bedeutet aus einem anderen Blickwinkel allerdings auch, dass eine frühe Science Fiction Arbeit eines unterschätzten amerikanischen Autoren endlich auf deutsch vorliegt und entsprechend eingeordnet werden kann.
- Herausgeber : Wandler Verlag
- Erscheinungstermin : 25. August 2025
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 200 Seiten
- ISBN-10 : 3948825165
- ISBN-13 : 978-3948825164
- Originaltitel : Gray Matters