Im Mittelpunkt des 1873 veröffentlichten Abenteuerromans steht ein historisches Ereignis. Die totale Sonnenfinsternis vom 18.07. 1860, die nur nördlich des siebzigsten Breitengrades komplett zu sehen gewesen ist. Der in zwei Teilen veröffentlichte dramaturgisch insbesondere Jack London vorwegnehmende Roman des Franzosen Jules Verne reiht sich thematisch in eine Reihe seiner Werke ein, die weniger mit utopischen Ideen spielen als das Leben und Überleben von Gestrandeten beschreiben. Zu den bekanntesten Werken gehört in dieser Hinsicht ohne Frage „Die geheimnisvolle Insel“, das Ende von „Die Kinder des Kapitän Grants“, „Zwei Jahre Ferien“ und trotz der waghalsigen Prämisse in der zweiten Hälfte des Buches eben auch im „Land der Pelze“. Nur sind es keine Schiffbrüchigen, sondern in einer waghalsigen Geschichte Eisbrüchige.
Gleich zu Beginn des Romans stellt der Autor ausführlich die bunt gemischte Gruppe von Abenteuern und Angestellten der Hudson Bay zusammen mit einem Astronomen Thomas Black vor, die im Auftrag der mächtigen Hudson Bay Company über dem siebzigsten Breitengrad einen neuen Stützpunkt errichten sollen. Unter dem Kommando von Leutnant Jasper Hobson bricht die bunt gemischte Gruppe auf, der sich auch die Abenteuerin Paulina Barnett mit ihrer Dienerin Madge anschließt. In den meisten seiner Abenteuergeschichten geht die Initiative immer von Männern aus und Frauen sind nicht selten auf das klassische und klischeehafte Begleiterniveau reduziert. Mit Paulina Barnett und ihrer überwiegend stillen, am Ende aber auch entschlossenen Dienerin Madge sowie einem später dazu stoßenden Indianermädchen verfügt der Roman über drei erstaunlich robuste Frauenfigur. Paulina Barnett hat die Welt laut ihren eigenen Angaben von Tibet über die weißen Flecken Australiens bis in den Golf von Carpentaria bereist.
Wie für Jules Verne typisch vielleicht auch wenig belehrend wird der Hintergrund der Expedition ausführlich zu Beginn erläutert. Er politische Hintergrund ist der geplante Verkauf Alaska an die USA durch Russland. Vor allen anderen Handelsfirmen möchte die Hudson Bay nicht zuletzt auch aufgrund der geschrumpften Fellreservoirs in den ausgewilderten Gebieten ihren Einfluss nach Norden ausdehnen. Zusätzlich will die Hudson Bay in Erwartung des Entdeckens der Nordwestpassage eine Basis für den Export der Fälle mittels Dampfschiffen über den Pazifik haben. Sehr ausführlich und anfänglich aufgrund der angenehmen Reise auch wenig spannend beschrieben verfolgt der Leser die Expedition der insgesamt neunzehn Menschen in zwölf Hundeschlitten. Am Großen Bärensee vorbei errichten sie schließlich ein neues Fort jenseits des für die Beobachtung der Sonnenfinsternis auch wichtigen siebzigsten Breitengrades. Jules Verne beschreibt ausführlich den Tagesablauf bis zur Geburt eines Kindes. Sie übernachten in der kalten Polarnacht, die aufgrund ihrer extremen Witterungsbedingungen tatsächlich eine Herausforderung für die kleine Gruppe darstellt. Für Spannung sorgen der Überfall einer Gruppe von Bären, das drohende Ausgehen von Holz, das zu weit vom Haupthaus entfernt gelagert worden ist und schließlich der Ausbruch eines Vulkans mit dem folgenden Erdbeben. Mit minutiösen, aber niemals ermüdenden Details beschreibt Jules Verne das Leben in dieser herausfordernden Atmosphäre. Der Wendepunkt der Geschichte ist tatsächlich der Tag der Sonnenfinsternis. Thomas Black kann keine vollständige Verdunkelung der Sonne beobachten. Dafür gibt es zwei Erklärungen. Entweder sind die Berechnungen der Astronomen falsch oder sie befinden sich nicht jenseits des siebzigsten Breitengrades. Relativ schnell stellen sie fest, dass der Vulkanausbruch und das Erdbeben einen gigantischen Eisberg mit ihrem Fort im Mittelpunkt aus dem ewigen Eis gebrochen haben, der unkontrollierbar in Richtung Süden driftet. Das bedeutet, dass die neunzehn Menschen auf einem stetig sinkenden da abschmelzenden „Floss“ ohne die Möglichkeit ans rettende Ufer zu kommen förmlich den Gezeiten und den Unbilden des Meeres ausgesetzt sind.
Der Versuch, dem gigantischen Schwimmkörper zu entkommen, nimmt den zweiten Teil des Doppelbandes ein. Während der erste Teil des Romans in erster Linie exotische Extrapolation ist, beschreibt Jules Verne die verschiedenen Versuche, der Insel im Winter über die zugefrorenen Teile des Meeres zu entkommen genauso intensiv wie den Bau eines Floßes; das Ausgehen des Süßwasser durch ein stetiges Wegschmelzen der Insel von unten; den seltsamen Burgfrieden, en die wilden ebenfalls auf der Insel gefangenen Tiere mit den plötzlich ihnen „überlegenen“ Menschen geschlossen haben und schließlich die wilde Idee, die Existenz ihrer Insel um einige Stunden zu verlängern. Jules Verne steigert dabei nicht gleichmäßig das Tempo, sondern variiert die einzelnen, immer verzweifelter werdenden Rettungsaktionen. Dominierten zu Beginn des Romans in erster Linie neben dem scheinbar allwissenden, durch nichts aus der Ruhe bringenden Leutnant Jasper Hobson die resolute, manchmal ein wenig affektierte Paulina Barnett und schließlich die hilfreiche, zu sehr an Klischees entwickelte Indianerin Kalumah, sind es die Nebenfiguren, die dem zweiten Teil ihren Reiz geben. Am Ende des ersten Teils der in sich gekehrte Astronom Thomas Black, der schließlich Gott anfleht, um den Nebel am Tag der Sonnenfinsternis weg zu blasen, nachdem er eher aus seiner Schwermut als einer tatsächlichen Krankheit erwacht ist. In der zweiten Hälfte des Romans verschwindet er förmlich aus der Handlung, um gegen Ende aufgrund seiner wissenschaftlichen Vorbildung eine gewagte Idee zu präsentieren, die alle retten könnte. Oder die Dienerin Madge, die schweigend die Exzentrik ihrer „Herrin“ ertragen hat. Im Verlaufe der Reise werden die beiden Frauen endgültig zu gleichberechtigten Freundinnen, wobei ihre eher stumm gezeigte Willensstärke die ganze Gruppe mit zieht. Ein wenig antiquiert und vor allem kitschig wird der Mut der Soldaten beschrieben, denen Hobson anfänglich ihr Schicksal mit der sich losgelösten gigantischen Eisscholle vorenthalten hat, um sie nicht zu beunruhigen. Als er es ihnen schließlich mitteilt, wissen sie es schon lange und haben nur aus Pflichterfüllung geschwiegen.
Auch wenn nicht alle Figuren wirklich dreidimensional und abgerundet entwickelt erscheinen, fügen sie sich in die diversen Naturschauspiele ein, die Jules Verne literarisch immer wieder packend für seinen Lesern ausbreitet. Im Gegensatz zur Expedition in die „Eissphinx“, dessen Grundlage sich eher an Edgar Allen Poe denn Jules Vernes Reiseromanen orientiert hat, bewegt sich der Autor immer auf dem schmalen Grad, sein Publikum zu fesseln und weniger zu schockieren. Es erscheint unwahrscheinlich, dass nur so wenige Verletzungen angesichts der teilweise unwirtlichen Bedingungen passieren und wenn Thomas Black zu Beginn des Buches förmlich aus dem Schlitten seines Fahrers gepuhlt ins Leben zurück gebracht werden muss, dann wirkt es fast wie eine Persiflage auf die theoretisierenden Wissenschaftler. Aber die einzelnen Herausforderungen beginnend mit den unwirtlichen Temperaturen, den unendlichen Weiten und dem Schaffen von Überlebensgrundlagen sind so überzeugend und packend beschrieben worden, dass der Leser sich förmlich ins neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt fühlt. Alleine Dan Simmons in der ersten Hälfte seines ebenfalls im ewigen Eis spielenden Romans „Terror“ hat eine vergleichbare Faszination und unwiderstehliche Anziehungskraft des ewigen Eises beschreiben können.
Die Jagd auf Tiere um ihrer Pelze willen im Gegensatz zu den Indianern, welche den Tierbestand als Überlebensgrundlage ansehen, wird heute eher schockieren. Zumal Jules Verne die Folgen der Überjagung deutlich und drastisch beschreibt. Selbst die Verführung der Ureinwohner durch den zweifelhaften Einfluss der Hudson Bay Company wird eher ambivalent und oberflächlich beschrieben. Der Leser muss diese Abschnitte aus dem Zeitgeist heraus sehen, wobei spätestens mit der Isolation der Gruppe und ihrem alltäglichen Überlebenskampf sich das Verhältnis zu den ebenfalls eingeschlossenen Wildtieren drastisch ändert. Zusammengefasst ist „Im Land der Pelze“ unabhängig von seiner Länge ein interessanter, ein lesenswerter Stoff, den Jules Verne in seiner stilistisch so markanten, allerdings manchmal auch ein wenig belehrenden Art unterhaltsam und spannend erzählt. Manche Leser werden die technischen Ideen vermissen oder eine Reise auf einer gigantische Eisscholle über mehrere tausend Kilometer als übertrieben empfinden, aber während der Lektüre wird der Leser einfach wie die „verlorenen“ Seelen förmlich mit gerissen.
- Dateigröße: 5028 KB
- Seitenzahl der Print-Ausgabe: 489 Seiten
- Verlag: andersseitig.de (9. Oktober 2014)
- Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
- Sprache: Deutsch
- ASIN: B00OD4REEE