Clarkesworld 112

Clarkesworld 112, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Während Herausgeber Neil Clarke in seinem Vorwort auf den Leser Pool hinweist, geht Ken Liu in seiner ironischen Studie zu von Computern geschriebenen Büchern selbst ironisch mit der potentiellen und billigeren Konkurrenz um. Sein Tenor ist, dass der Mensch noch nicht dazu bereit ist, diese um Werke in ihrer ganzen konstruierten Tiefe zu verstehen.  Auch das Interview mit der Graphikerin Julie Dillon wirkt ein wenig künstlich. Untermalt von mehreren farbenprächtigen und thematisch unterschiedlichen Graphiken inklusiv einiger „Clarkesworld“ Cover sind die Fragen zu oberflächlich und die Antworten im Vergleich zu einigen der letzten Interviews dieses Magazins zu seicht. Das unsere Zukunft in einem sehr engen Zusammenhang mit der Erschaffung künstlicher Intelligenzen steht, ist keine Überraschung. Trotzdem fasst Sofia Siren in einer kompakten, sachlich geschriebenen und trotzdem gut verständlichen Übersicht den Stand der Entwicklung gut zusammen.

Der erste von zwei längeren Nachdrucken stammt aus der Feder Robert Silverbergs. Thematisch stammt „The True Vintage of Erzuine Thale“ aus der George R.R. Martins und Gardner Dozois Anthologie „Songs of  the Dying Earth“, der Hommage an Jack Vances so einzigartig melancholische Schöpfung. Stilistisch folgt Robert Silverberg Jack Vance mit dem langsamen Sterben des Poeten Puillane of Ghusz. Er lebt in dekadentem Reichtum, labt sich jedem Tag am exquisiten Wein, besucht seine wertvolle wie umfangreiche Sammlung und schreibt Lyrik, die vor vielen Jahren in umfangreichen Bänden veröffentlicht worden ist. Inzwischen scheint er sein großes Epos über den bevorstehenden Untergang der Welt durch die erlöschende Sonne eher für sich und sein Archiv denn die breite Öffentlichkeit zu schreiben. Ausführlich, detailliert und ironisch beschreibt Silverberg Thale als einen lebendigen Toten im übertragenen Sinne, der sich künstlerisch  und vom Leben wenig gefordert in Selbstmitleid suhlt. Es ist kein Charakter, den der Leser sofort ins Herz schließt, aber im Verlaufe der ruhig vorgetragenen Geschichte entwickelt er sich zu einer sehr interessanten Persönlichkeit. Er wird gewarnt, dass drei halbseidene Gestalten auf dem Weg zu seinem Schloss sind. Anscheinend wollen sie ihn in seinem perfekten, durch Magie geschützten Gefängnis berauben. Dazu greifen sie ihn an seiner schwächsten Stelle – seiner Eitelkeit – an. Auch wenn am Ende die Gier über den Verstand siegt und Erzuine Thale buchstäblich die Art der Bedrohung umdrehen kann, wirkt das Ende zu stark konstruiert. Hier hätte sich der Leser ein wenig mehr Einfallsreichtum gewünscht. Auf der anderen Seite ist der Weg dahin eine der schönsten Arbeiten Robert Silverbergs der letzten Jahre. Stilistisch verspielt gekünstelt lässt er Jack Vance sterbende Welt zum Leben erwachen und dank der Herausforderung durchbricht auch Thale am Ende dieses Kreislaufs aus Melancholie und Depression, um sich zumindest einer neuen Aufgabe zu widmen.    

Megan Lindholms „Old Paint“ könnte positiv gesprochen wie eine SF Variante von Stephen Kings „Christine“ erscheinen.  Die Zukunft ist digital, die Autos brauchen keine fehlerhaften Fahrer mehr. Die Tochter und ihre Enkel erben einen alten Wagen vom verstorbenen Großvater, dessen Technik eingeschränkt ist, aber in dieser Zukunft plötzlich Leben retten kann.  Natürlich machen die künstlichen Intelligenzen passend zur Entdeckung Schwierigkeiten, ohne dass die Autorin leider in die Details geht. In erster  Linie überzeugt der Text aber auf der emotionalen und zwischenmenschlichen Ebene. Durch das Auto und die gemeinsamen Erinnerungen; durch das Erlernen von Fähigkeiten, die in dieser Gesellschaft verpönt sind und schließlich durch den „neuen“ Aufbruch wächst die Familie – eine Mutter und zwei halbwüchsige Söhne – wieder zusammen und auch die Veränderungen an dem Wagen durch die neue Nano Lackierung macht schließlich Sinn.  Neben den dreidimensionalen und warmherzigen Charakteren sind es vor allem die vielen kleinen Ideen – keine Nanobots unbeaufsichtigt lassen –, welche den erstmals vor vier Jahren veröffentlichten Plot so ansprechend machen. Es werden einige Hintergründe nicht unbedingt abschließend erläutert, aber zusammenfassend wirkt „Old Paint“ trotz mancher vorhersehbarer Wendung nicht antiquiert und altbacken, sondern menschlich und trotzdem nicht kitschig.  

"The Algorithms of Value" stammt aus der Feder des vor allem im Bereich der Kurzgeschichte immer wieder präsenten Robert Reed. Seine Geschichten sind nicht immer einfach und nicht selten nimmt die Herausforderung die Freude an den Plots, aber wenn sich Reed in guter Verfassung präsentiert, provoziert er mit seinen Weltanschauungen. In dieser Zukunftsversion gibt es von allen ausreichend. Intelligente Räume versorgen die Menschen und nehmen ihnen vielleicht auch den Drang, sich selbst weiter zu entwickeln. Dabei scheint die Mathematik, der Algorithmus der Werthaltung das Leben dieser Gesellschaft zu bestimmen. Robert Reed folgt dieser  Prämisse mit dem Ansatz des Außenseiters, der sich im Überfluss nicht befriedigt fühlt. Der Impuls des Menschen, vorwärts zu streben und seine Grenzen kennenzulernen, widerspricht dieser perfekten Gesellschaft und könnte auch zu Konflikten führen. Reed schafft es, am Individuum und dessen Stärken/ Schwächen ein soziales Gesamtbild zu erschaffen, das er positiv am Ende nicht zertrümmert, sondern als provokante These im Auge des  Lesers bestehen lässt. 

E. Catherine Tobler greift in „The Abduction of Europa“ eher alte Ideen auf und baut sie auf einer seltsam surrealistischen Basis auf.  Drei Forscher untersuchen auf dem Mond Europa fremdes Leben, das sich unter dem Eis entwickelt hat. Aus den drei unterschiedlichen Perspektiven berichtet die Autorin von dieser Begegnung auf/ unter dem Eis. Dank ihrer differenzierten Lebenserfahrungen sehen sie diese Begegnung ehr unterschiedlich. Die Autorin hat aber auch Probleme, ihrer Geschichte einen wirklich glaubwürdigen Hintergrund zu geben. Obwohl sie immer wieder die Fähigkeiten der Anpassung selbst an unwirtliche Lebensräume anspricht, negiert sie die Idee, dass es Menschen auch aus freien Stücken heraus machen können. Der Kern der Geschichte ist mit dieser ungewöhnlichen Symbiose relativ einfach gestrickt, aber überambitioniert versucht die Autoren zu viel Beiwerk zu erschaffen, das er erdrückt als nachhaltig den Handlungsbogen vorantreibt.  Ein gänzlich anderes Thema – Military Science Fiction – spricht Rich Larson in „Extraction Request“ an. Eine Handvoll Soldaten kämpfen gegen einen ambivalenten Feind, den sie im Grunde nicht besiegen können. Die Soldaten sind desillusioniert, drogensüchtig und teilweise homosexuell, was in einer interessanten, aber nicht vorsichtig extrapolierten Liebesgeschichte gipfelt. Es ist weniger das Kampfgeschehen an sich, das sich chaotisch und planlos entwickelt als die Zeichnung dieser einzelnen gebrochenen Soldaten, welche den morbiden Reiz dieser lesenswerten Geschichte ausmachen. Ganz bewusst verzichtet der Autor nicht nur konsequent auf Antworten, sondern vor allem auch auf ein zu zuckersüßes Happy End.

Der längste Text dieser Sammlung stammt von Bao Shu, übersetzt von Ken Liu. „Everybody Loves Charles“ könnte als virtuelle Truman- Show durchgehen. Charles lebt seit zehn Jahren im Grunde in einer Art goldenen Käfig. Dank der Technik können Menschen rund um die Uhr auf Augenhöhe seinem Leben als waghalsiger Rennflieger – ein derartiges Stratosphärenrennen eröffnet diese Novelle – und Frauenheld folgen. Zu seinen Anhängern gehört der Computertechniker Naoto, der inzwischen seine ganze Freizeit in dieser virtuellen Irrealität verbringt. Es ist interessant, dass Charles mit dem Kennenlernen einer wirklichen Frau sich mehr und mehr von der Öffentlichkeit zurückziehen möchte, um wieder sein eigenes Leben zu haben, während Naoto sich von der jungen Frau, die mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen ein Auge auf ihn geworfen hat, nicht richtig in die Realität zurück ziehen lassen möchte. In seinen Träumen verschmilzt Naoto förmlich mit dem selbstverliebten, arroganten Charles. Kaum hat der Leser dieses nicht unbedingt neue, aber sehr gut präsentierte Szenario akzeptiert, beginnt die Dekonstruktion von Charles Welt durch seine Agentin. Ohne die Öffentlichkeit zu informieren, zeigt es sich, dass die Zuschauer nicht unbedingt eine reale Welt verfolgt zu haben, sondern das wie bei Truman alles inszeniert worden ist, um es für ein Publikum packend zu machen. Aus dem potentiellen Mediensuperhelden wird ein klassischer Verlierer, dessen Leben auf einer Lüge aufgebaut ist. Im Gegenzug kann Naoto zumindest ein wenig Hoffnung haben. Bao Shus Geschichten – es ist nicht die erste längere Story oder kürzere Novelle, die auf den Seiten von „Clarkesworld“ veröffentlicht worden ist – beschäftigen sich unabhängig von den phantastischen Ideen vor allem mit den Menschen. Sie wirken so verletzlich, so emotional unterentwickelt, aber doch neugierig und vor allem lernbegierig. Auch wenn nicht alle Geschichten mit einem Happy End enden oder die technologische Entwicklung ein Grundübel darstellt, gehören Bao Shus humanistische, auf der chinesischen Kultur nur basierende und dann frei sich entwickelnde Geschichten immer wieder zu den Höhepunkten des „Clarkesworld“ Magazins und beginnend mit dem ironischen, fast wie eine Karikatur erscheinenden Titel „Everybody loves Charles“ bis zur bittersüßen Pointe bietet diese Novelle einen innovativen Blick auf das passive Miterleben in der virtuellen Welt eines anderen Menschen.

 Zusammengefasst können nicht alle Geschichten nachhaltig überzeugen. Insbesondere Robert Reed und Catherine Tobler bekommen die überzeugenden Ideen ihrer Arbeiten nicht literarisch nachhaltig genug in den Griff, um überzeugen zu können. Der sekundärliterarische Teil ist in dieser Ausgaben eher unterdurchschnittlich entwickelt, so dass zusammenfassend vor allem die beiden Nachdrucke, „Extraction Request“ und wieder Bao Shus Novelle aus der Ausgabe herausragen.