Clarkesworld 114

Titelbild, Clarkesworld 114, Rezension, Thomas Harbach
Neil Clarke (Hrsg.)

Das Vorwort streift nicht nur die NEBULA Nomierungen, sondern blickt auf die eigenen Poolergebnisse zurück. Der sekundärliterarische Teil dieser "Clarkesworld" Ausgabe ist deutlich unterhaltsamer als in der Februarnummer. Neben der Idee, fiktive Charaktere in "Star Wars" Kostümen am besten mit der entsprechenden Attitude zu kleiden, wirkt in der Theorie bizarr und absurd, liest sich aber sehr gut. Mark Cole geht in seinem Essay über psychedelische Science Fiction Bücher und Filme noch einen Schritt weiter. Nicht nur die obligatorischen Musterbeispiele werden erwähnt, sondern beginnend mit Michael Moorcock und seinen Jerry Cornelius Büchern geht Mark Cole auch auf Filme ein, die nicht unbedingt als psychedelisch oder auch nur abgehoben gelten. In dieser komprimierten Form werden meistens nur Titel und einige Hinweise in den Text gestreut, aber als Sprungbrett für weitere Untersuchungen ist dieser Text lesenswert. Chris Urie spricht mit der Autorin Charlie Jane Anders über ihre Kurzgeschichten und ihren ersten Roman. Wie die letzten Gespräche bleiben die Fragen unabhängig von der warmherzigen Atmosphäre zwischen Interviewer und Interviewten sehr oberflächlich, so dass es fraglich ist,  ob man aufgrund dieser Informationen zu den erwähnten Arbeiten wirklich greifen wird. Und wer die Storys oder den Roman kennt, wird nicht mehr viele Fakten zusätzlich erhalten.

Der erste Nachdruck stammt aus der Anthologie "Warriors" von Gardner Dozois. Cecelia Hollands "The King of Norway" ist eine von Action und solider, aber auch nicht unbedingt origineller Charakterzeichnung getriebene eher historische als phantastische Geschichte um einen Krieger, der auf dem Weg nach oben nicht nur seinen König, sondern vor allem auch seine Kameraden verantwortlich macht. Eine dunkle, aber nicht nihilistische Atmosphäre in enger Kombination mit vor allem einer sehr guten historischen Recherche sowie einem nicht vorhersehbaren, aus dem Plot heraus entwickelten subversiven Ende unterhält die Geschichte ausgesprochen gut und unterstreicht noch mal, das Cecelia Holland zu Unrecht aus dem Radar vor allem vieler größerer Verlage in Deutschland verschwunden ist. Der zweite Nachdruck ist "Gray Wings" aus der Feder Karl Bunkers. Ohne einfache Antworten nur aktuelle und in der Zukunft wahrscheinlich noch drängendere Fragen abhandelnd zeigt er die sozialen Unterschiede auf, in dem eine durch Nanotechnologie mit Flügeln versehene Pilotin auf einem transkontinentalen Flug abstürzt und sich leicht verletzt. Sie muss ihre Flügel teilweise dank der handwerklichen Fähigkeiten der Menschen reparieren, die von der Gesellschaft ausgestossen worden sind und unter unwürdigen Bedingungen ihre Existenz fristen. Ohne Polemtik oder der Jagd nach Effekten zeigt Bunker die sozialen Mißverhältnisse überdeutlich auf.   

 Fünf neue Geschichten sind in dieser "Clarkesworld" Ausgabe abgedruckt. Ein sich durchziehender Faden könnte in unterschiedlichen Variationen das Thema Einsamkeit in Kombination mit teilweise selbstgewählter Isolation sein.   Es beginnt mit "Salvage Opportunity" aus der Feder von Jack Skillingstead. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen in einer futuristischen Arbeitswelt. Unwahrscheinlich erscheint, dass ein Android genauso wenig abgeschaltet werden kann wie die Firma nicht merkt, dass die Aufgaben in der vorliegenden Form nicht von einer Person alleine ausgeführt werden können. An keiner Stelle wird erwähnt, dass es sich um eine neue Aufgabe handelt. Badar als handelnde "Person" ist dabei zu differenziert, zu wenig eckig/ kantig charakterisiert worden. Auf der einen Seite sucht er angeblich Gesellschaft, auf der anderen Seite lehnt er sie ab, um während der Pointe festzustellen, welche Richtung er weiter verfolgen will/ soll. Skillingstead steht sich bei seiner Plotentwicklung teilweise sehr stark im Weg, so dass "Salvaga Opportunitiy" sehr bemüht und zu wenig konstruktiv oder gar unterhaltsam nachdenklich stimmend erscheint.  

  „Seven Cups of Coffee“ von A. C. Wise ist einer der zugänglichsten Geschichten dieser Sammlung. Die Idee aus „Die Frau des Zeitreisenden“ nicht extrapolierend, sondern komprimierend ist es eine unglaublich nihilistische Geschichte um Liebe, Bestimmung und vor allem das unveränderliche Schicksal. Die Grundidee ist, dass eine lesbische Frau unbedingt verhindern möchte, dass jemand geboren wird. Während durch die verschiedenen mehr und mehr miteinander verbundenen Handlungsebenen dem Leser die Unabänderlichkeit des Schicksals selbst für einen Menschen, der ohne große Hilfsmittel durch die Zeit reisen kann, überdeutlich vor Augen geführt wird, ist es die doppelte Ironie, dass es zumindest für die Protagonistin einen Ausweg aus diesem Dilemma geben kann. Durch die auf den ersten Blick distanzierte, rückblickend aber auch intime Berichtsform rückt der Leser sehr nahe an das Geschehen heran. Auf der anderen Seite wirkt die Fragmentierung, das Hin- und Herspringen zwischen den einzelnen Zeiten auf hinsichtlich einer kontinuierlichen Plotentwicklung fast kontraproduktiv, so dass sich die Fragmente absichtlich nicht miteinander verbinden lassen wollen.

 Leena Likitalo geht in „The Governess with a Mechanical Womb“ sogar noch einen Schritt weiter. Auch hier wird ein klassisches, jederzeit auch möglicherweise klischeehaftes Motiv – die Menschheit am Rande der Auslöschung – aufgenommen und am Beispiel einer kleinen Gruppe von Menschen durchgespielt. Eine junge Frau und ihre Schwester sind unter der Obhut einer Erzieherin, die wahrscheinlich vor langer langer Zeit auch menschliche Züge getragen hat. Da die Protagonistin Kinder sind, können sie das Geschehen nicht begreifen und versuchen indirekt dem Leser über Hinweise ein komplexeres Bild des Geschehens zu geben. Diese Subjektivität schlägt sich auch in den sowohl den Protagonisten als auch den Lesern unbekannten Regeln nieder, so dass die bizarre Atmosphäre die sich eher langsam entwickelnde Handlung ausgleicht. Deutlich bizarrer wird es in „Coyote Invents the Land of the Dead“  . Vier Semigötter stehen an einem wahrscheinlich symbolischen Abgrund, der ins Reich der Toten führt. Gleichzeitig ist wie bei vielen Kij Johnson Texten ein Coyote unterwegs, der seinen Partner sucht. Vielleicht übertreibt die Autorin die Symbolträchtigkeit der Tiere, da es ihr weniger um einen Fabelhintergrund geht als das sie diese Tiere in menschlicher Hinsicht stilisiert. Die interessanten Charaktere leben von der Bewegung, die wie es sich gehört, immer vorwärts und doch niemals zu einem für den Leser erkennbaren Ziel führt. Zurück bleiben die idealisierten Elemente eines modernen Mythos und ein legendärer  zeitloser Hintergrund. Kij Johnson spricht menschliche Züge wie Treue, Freundschaft und Opferbereitschaft zwar konsequent und originell an, bevor sie aufzeigt, dass man für alles im Leben auch bezahlen muss. Stilistisch sehr anspruchsvoll, vielleicht ein wenig zu verspielt, werden Motive angerissen, Antworten wie bei vielen Geschichten dieser Ausgabe teilweise zum Unwillen des Lesers aber nicht nachgeliefert.

 Die längste Geschichte der Sammlung ist „Chimera“ von Gu Shi, die von Ken Liu und S. Quiouyi Lu auf dem Chinesischen übersetzt worden ist. Der Ausgangspunkt ist wie bei vielen chinesischen Geschichten relativ simpel. Ein Mann und eine Frau – ihr Leben hat sich sehr konträr und unterschiedlich entwickelt – kommen aus Sorge über den schwerkranken Sohn als eine Art Interessensgemeinschaft wieder zusammen. Sie wollen die ethischen Regeln der Medizin und Wissenschaft durchbrechen, um das Leben ihres Sohnes zu retten. Die Geschichte  spielt um die Handlung eher unnötig zu komplizieren als einen komplexen Hintergrund zu geben auf einem Raumschiff in den Tiefen des Alls auf einer besonderen Mission. In der Vergangenheitsebene wird ausführlich beschrieben, wie die künstliche Entwicklung von Organen durch eine Mischung aus Transplantation in Tiere und Kloning vorangetrieben worden ist, ohne auf die ethischen Folgen Rücksicht zu nehmen. In der Gegenwart müssen diese Regeln teilweise aus Eigeninteresse umschifft werden, um das Leben des Sohnes zu retten. Dabei ist es vor allem die Mutter, die Wissenschaftlerin, welche nach anfänglichen Zweifeln die Grenzen überschreitet und für sich neu interpretiert. Aus der Perspektive des Ehemanns und des Sohns wird ein entsprechendes ambivalentes und ambitioniertes Bild einer hierarchisch geordneten Gesellschaft gezeichnet, in welcher das Individuum sich dem Allgemeingut unterzuordnen hat und doch die Nische findet, um außergewöhnlich zu sein. Die Charaktere sind sehr gut entwickelt, die symbolischen Bilde kräftig und die Handlung trotz oder vielleicht auch wegen der lange Zeit bekannten Prämisse ausgesprochen stringent und doch interessant entwickelt. Eine sehr gute Science Fiction und Gesellschaftsgeschichte aus China.   

 Zusammengefasst ist die März Ausgabe von „Clarkesworld“ vor allem dank des roten Fadens Einsamkeit, der sich durch den Text zieht, eine anspruchsvolle interessante, herausfordernde Lektüre, wobei die Geschichten eher als Ganzes funktionieren als das ein einzelner Text sehr weit aus dieser guten Zusammenstellung herausragt. 

    

www.clarkesworldmagazine.com

Online Magazin, 112 Seiten äquivalent