Der gläserne Fluch

Thomas Thiemeyer

Nach „Die Stadt der Regenfresser“ – in diesem ersten Abenteuer haben die Gefährten um Carl Friedrich von Humboldt ein Luftschiff als Geschenk erhalten, das auch in „der gläserne Fluch“ eine prophetische Rolle spielt – sowie dem zweiten Band „Der Palast des Poseidons“ liegt inzwischen der dritte abgeschlossene Roman der Chroniken der Weltensucher „Der gläserne Fluch“ vor.
Nicht unbedingt negativ, aber ein wenig übermüdend hat sich bei Thomas Thiemeyer inzwischen eine Art Steampunkabenteuerschema herausgebildet. Jeder der Romane beginnt mit einer dramatischen Szene, welche auf die kommenden natürlich bedrohlichen Ereignisse hinweist. Diese Vorgehensweise ist literarisch nicht zu kritisieren, aber vielleicht sollte sich der sympathische Stuttgarter mal einen anderen seichteren Auftakt einfallen lassen.
In Berlin zurück wird Carl Friedrich von Humboldt zu einer Lesung eines alten Studienfreundes Richard Bellheim durch dessen Ehefrau eingeladen. Sie erhofft sich durch den Besuch von Humboldts Erkenntnisse über den rätselhaften Zustand ihres Mannes. Gerade von einer Forschungsreise aus Afrika zurückgekehrt, verfügt Richard Bellheim über ein seltsames Gedächtnis. An Freunde und Bekannte kann er sich nicht mehr erinnern, dagegen ist ihm jede Seite der Bücher seiner Bibliothek bekannt. An dem Abend stehen sich Bellheim und von Humboldt gegenüber. Auf Bellheims Seite gibt es – wie befürchtet – kein Erkennen. Nur leuchten seine Augen plötzlich in einem unnatürlichen grün. Auf der Silvesterfeier, zu der Bellheims Frau aus Verzweifelung alle Bekannten ihres Mannes eingeladen hat, versucht Oskar im Auftrag seines neuen Stiefvaters, Bellheims Tagebuch zu stehlen. Dabei wird er von Bellheim in seinem Studienzimmer erwischt. Als Oskar von einem über Afrika abgestürzten Meteoriten berichtet, stürzt sich Bellheim auf den Jungen.
Entschlossen, das Rätsel um Bellheims Erkrankung zu lösen, brechen von Humboldt, Oskar, Charlotte, Eliza und die Kiwi Dame Wilma nach dem heutigen Sudan auf. Ihr Luftschiff wird über der Wüste von einem Sandsturm schwer beschädigt. Während einer Notlandung verliert sich Oskar im ewigen Sand. Getrennt von seinen Freunden versucht er ums Überleben zu kämpfen, wird von einem einheimischen jungen Mädchen – dessen Suche nach dem geheimnisvollen Stein und seiner verhängnisvollen Wirkung der Leser in einer Parallelhandlung schon vorbereitend verfolgen konnte – aufgenommen, die ihm von einer geheimnisvollen, mit dem gigantischen Luftschiff in einem engen Zusammenhang stehenden Legende erzählt. Parallel versucht eine weitere Gruppe Weißer – typische Kolonisten in dem von den Europäern ohne Mitsprache der Einheimischen schon filettierten Afrika – auch nach dem unendlich wertvollen Stein zu suchen, der im Gebiet der Dogen versteckt worden ist.
Schon Thomas Thiemeyers erster Wissenschaftsthriller „Medusa“ führte seine Helden und damit auch die Leser nach Afrika. Gelang es dem Autoren schon 2004, ein exotisches, farbenprächtiges, aber niemals belehrendes Bild des schwarzen Kontinents zu zeichnen, baut er im vorliegenden, deutlich im Vergleich zu „Der Palast des Poseidons“ – wieder stärkeren Roman dieses Bild weiter aus. Er beschreibt das unter den europäischen Kolonisten und ihrer Großmannssucht, jegliche vorhandene Kultur zerstörend leidende Afrika als einen Kontinent voller Wunder und Herausforderungen. Nicht selten wird man indirekt – ohne den Rassismus und die übertriebene Brutalität – an Sir Henry Rider Haggard und seine zahlreichen Afrikaabenteuer erinnert. Thomas Thiemeyer entwickelt die entsprechenden Kulturen auf wissenschaftlichen Grundlagen und extrapoliert sie nur so weit wie unbedingt notwendig in den Bereich des Phantastischen. Er fügt eine nicht unbedingt neue, aber in diesem Fall effektiv eingesetzte Idee aus den goldenen Pulpzeiten seiner peripher dem „Steampunk“ hinzuzurechnenden Geschichte bei. Um es gleich vorweg zu sagen, die Science Fiction Elemente mit den grünen Augen und einer möglicherweise aggressiven Macht von jenseits der Erde gehören sicherlich zu den schwächsten Passagen des Buches. In diesem Punkt sind die Leser über weite Strecken des Romans den Charakteren meilenweit voraus und auch gegen Ende des Buches gelingt es Thomas Thiemeyer zu wenig, seine Leser ein erstes Mal zu verblüffen. Erst das grüne Leuchten in den Augen der Willenlosen, dann eine durch reine Gier ausgelöst überdurchschnittliche Kristallisierung und schließlich der glücklose Versuch Oskars, das Wesen zu verstehen. Dabei verfügen die Fluchbringer über ein ungewöhnliches großes Potential, das Thomas Thiemeyer insbesondere im Mittelteil zu wenig nutzt. Eine ähnliche Schwäche zeichnete schon „Der Palast des Poseidons“ aus, als wenn der Autor hinsichtlich der „Härte“ seines Buches noch ein wenig unsicher ist. Insbesondere in Bezug auf die gelungene Exposition - nicht unbedingt originell - des gedächtnisschwachen Wissenschaftlers und Freunde macht sich leichte Enttäuschung breit.

Wobei Thomas Thiemeyer zusätzlich den Fehler macht, das Tempo des Romans auf den letzten Seiten insbesondere im Vergleich zum Dialog lastigen und nicht immer kompakten Mittelpunkt überdurchschnittlich anzuziehen. Zusätzlich steht wieder – obwohl er nicht die endgültige Lösung in Händen hält – zu stark - angesichts des inzwischen nicht nur angewachsenen, sondern vor allem was die liebevolle Zeichnung der Figuren ausgeglichenen Team angeht – im Mittelpunkt des Geschehens. Aber diese grundlegende Science Fiction Idee vom Meteoritenabsturz sollte man eher als eine Art MacGuffin sehen, um die Protagonisten nach Afrika mit seinen zahlreichen Kulturen zu bringen.
Ein Blick in das umfangreiche Glossar am Ende des Buches lässt den Leser ahnen, was Thomas Thiemeyers blühender Phantasie und was der historischen Realität entsprungen ist. So erfindet Thomas Thiemeyer nicht etwa afrikanische Stämme, sondern beschreibt das Schicksal der Tellem und der Dogon, welche die Tafelberge von Bandiagara nacheinander kontrolliert haben. Thomas Thiemeyer integriert deren Überlebensstrategien in seine Science Fiction Saga und sucht eine “Waffe” in ihren Traditionen. Immer wenn sich der Autor ein wenig von der eigentlichen Handlung löst und seine Erklärungen aus dem Handgelenk ohne belehrenden Ton wie beiläufig einfügt, wird aus der stringenten Abenteuergeschichte mehr als ein einfaches Garn. Was die Kolonialpolitik der Europäer angeht, arbeitet Thomas Thiemeyer ein wenig zu sehr mit dem Holzhammer. Auch wenn die Deutschen in Afrika im Grunde zu spät gekommen sind und sich mit den noch nicht verteilten Resten des schwarzen Kontinents begnügen mussten, zeichnet der Autor dank von Humbolt ein zu positives Bild der ausschließlich an der Wissenschaft interessierten und die kulturellen Belange der Einheimischen respektierenden Deutschen, denen mit Sir Wilson ein eindimensionaler, überzogener Antagonist gegenüber gestellt wird. Dieser wird schließlich auf den letzten Seiten diskreditiert und eliminiert. Um Spannung zu erzeugen, braucht der Autor eine Figur, die förmlich die Gefahren durch sein unkontrolliertes und wenig geplantes Handeln heraufbeschwört, aber bei Wilson überspannt der Autor den Bogen.
Neben dem exotischen, jederzeit überzeugenden Hintergrund seines Romans bemüht sich Thomas Thiemeyer, das Verhältnis zwischen den Figuren zu extrapolieren. Humboldt beginnt sich daran zu gewönnen, das der junge Oskar nicht nur sein Freund, sondern vor allem auch sein Adoptivsohn ist. Daneben nähern sich Constanze und Oskar nach anfänglichen Diskrepanzen an, wobei Thomas Thiemeyer auch hier im Epilog überambitioniert vorgeht. Die Wahrscheinlichkeit, das eine Minderjährige im kaiserlichen England einen Anwalt findet, der ihre Interessen vertritt, erscheint außerordentlich gering. Vielleicht hätte der Autor eher eine deutsche Kopie Sherlock Holmes als Mischung aus Hommage und Parodie dem Roman beifügen sollen. Das Zusammenspiel der einzelnen Protagonisten in Oskars sich unfreiwillig gefundenem Team ist fast perfekt, die ruhigeren Passagen werden gut durch die solide Zeichnung der Charaktere ausbalanciert. Wie schon angesprochen entwickeln sich die einzelnen Protagonisten - hier seien neben Constanze und Oskar insbesondere der neue Stiefvater von Humboldt ausgesprochen positiv herausgestellt - weiter und geben dem vorliegenden Band noch mehr Tiefe. Während der Einführungsroman durch die Vorstellung einer neuen, fremdartig und doch irgendwie vertrauten Welt überzeugen konnte, wirkte das Verhältnis der einzelnen Figuren zueinander eher in „Der Palast des Poseidons“ wie ein kleiner Rückschritt und deutlich mehr konstruiert.
Was den vorliegenden Roman aus der Masse der Jugendliteratur hervorhebt, ist neben der exotischen, geschichtlich sehr gut recherchierten „Umgebung“ und den über weite Strecken soliden Charakteren - man vermisst manch pointierten Dialog, der insbesondere den Auftaktroman zu einem doppelten Lesevergnügen machte - das sich der Verantwortung jeglicher Art stellen. Verantwortung und Toleranz gegenüber den Andersdenkenden, wobei auch die Dogon ihren eigenen Aberglauben und ihre Verbeugung vor im Grunde nicht präzisen Prophezeiungen überwinden müssen. Immer wenn Thomas Thiemeyer auf nicht um ihren Selbstzweck geschriebene Actionsequenzen zurückgreift, versucht er diese originell und abwechselungsreich zu beschreiben. Zusammengefasst erreicht „Der gläserne Fluch“ fast das Niveau des Auftaktromans und unterhält dank Thiemeyers angenehm zu lesenden, das preußisch viktorianische Zeitalter vorsichtig modernisierenden Stil trotz der angesprochenen kleineren Schwächen ausgesprochen gut.

Thomas Thiemeyer: "Der gläserne Fluch"
Roman, Hardcover, 480 Seiten
Loewe 2011

ISBN 9-7837-8556-5773

Kategorie: