Sherlock Holmes in Russia

Alex Auwaks (Hrsg.)

Alex Auswaks legt mit der Sammlung „Sherlock Holmes in Russia“ insgesamt sieben Geschichten von zwei Autoren P. Orlovetz und P. Nikitin in einer schönen Hardcoverausgabe zum ersten Mal in englischer Sprache auf. Im Gegensatz zur sehr guten, deutlich nach Auslaufen des Copyrights entstandenen russischen Fernsehserie, die Doyles Holmes Geschichten adaptiert hat, stammen die hier vorliegenden Geschichten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
In seinem lesenswerten Vorwort geht George Piliev ausführlich auf den Weg ein, den Doyles Schöpfungen wahrscheinlich nicht vom Engländer autorisiert in Richtung Osten gegangen sind. Im Gegensatz zu offensichtlichen Imitaten/ Parodien wie in Maurice LeBlancs „Arsene Lupin“ Texten war Doyle der russischen Sprache sowie der kyrrileschen Schrift nicht mächtig, so dass ihm ungeachtet der rechtlich schwierigen Situation diese späteren Texte entgangen sind. Sherlock Holmes drang ab 1893 erst über Übersetzungen der Doyle´schen Original und dann über die deutschen Veröffentlichungen von Pennyromanen als Actionheldenimitat nach Russland vor. Von Beginn an derartig populär begannen russische Autoren die Figuren für eigene Texte zu übernehmen, die anfänglich noch in England zu spielen scheinen. Als Holmes und Watson auf ihren implizierten weltweiten Reisen nicht nur in Russland Station machten, sondern vor allem die russische Sprache und indirekt auch eine Reihe von russischen Gewohnheiten annahmen, wurden die beiden Figuren in das literarische Allgemeingut überführt. Leider konnten die Recherchen von Alex Auswaks und seinem Verleger keine persönlichen Informationen über die beiden Autoren ans Tageslicht bringen, so dass nach der Lektüre der unterhaltsamen Geschichten zumindest noch einige Fragen – leider - offen bleiben. P. Nikitin scheint aber über einen ausgesprochen kurzen Zeitraum von zwei Jahren mehrere Dutzend Holmes Geschichten geschrieben zu haben, bevor sich seine Spur wieder verloren hat.

Die ersten beiden Geschichten von P. Orlovetz „The Brother´s Gold Mine“ und „The Railroad Thieves“ sind locker miteinander verbunden. Watson drängt Holmes zu Beginn der beiden Geschichten, in urwüchsige Sibirien aufzubrechen. Vom Plotaufbau ähneln sich die beiden Texte, wobei der Autor in „The Railroad Thieves“ leichte Kritik am zaristisch korrupten Russland einfließen lässt, die er in einem aufgesetzt wirkenden Epilog wieder negiert. Im ersten Fall soll Sherlock Holmes die raffinierten Golddiebstähle des Oberaufsehers enttarnen, der seine Arbeiter mit Naturalien besticht, in der zweiten Geschichte geht es um das Ausrauben von Zügen durch eine gut organisierte Bande. Während Holmes die Golddiebstähle letzt endlich eher durch einen Zufall aufklären kann, obwohl der einzige in Frage kommende Täter schnell erkannt ist, funktioniert „The Railroad Thieves“ eher wie ein in Sibirien spielender Western inklusiv des dramatischen Showdowns. Geschickt füllt Orlovetz seinen zweiten Text mit anschaulichen Beschreibungen der herausfordernden sibirischen Landschaft und dem korrupten wegschauenden öffentlichen Dienst auf. Der eigentliche Plot folgt den Klischees früher Western, wobei Sherlock Holmes beim finalen Showdown mit der Waffe wenig Rücksicht auf die einzelnen Bandenmitglieder nimmt. Als Schwarzmarkthändler lockt der Detektiv die Bandenmitglieder an und zeigt durchaus kaufmännisches Geschick. In „The Brother´s Gold Mine“ schenkt der Autor dem ich- Erzähler Watson eine Reihe von sehr schönen Szenen, er ist zumindest teilweise auf Augenhöhe des Detektivs, wobei das Duo hinsichtlich ihrer Methoden eher das Ausschlussverfahren als wirkliche Deduktion bevorzugen. Zusammengefasst agieren Sherlock Holmes und Doktor Watson eher wie in den späten schwächeren Arthur Conan Doyle Geschichten und geben sich als interessierte Touristen in einem faszinierend, wie fremden Land, das sie gastfreundlich aufgenommen und zumindest von Orlovetz impliziert mit lukrativen wie interessanten Aufträgen förmlich überschüttet hat.
P. Nikitins zweite Geschichte „The Elusive Gang“ folgt dem von Orlovetz entwickelten Muster. Holmes und Watson werden gebeten, Diebstähle bei Verlagen aufzuklären, da verschiedene Buchhandlungen mehr Exemplare ihrer Bücher anböten als von ihnen geordert worden sind. Das Handlungsgerüst ist sehr viel einfacher konstruiert als zum Beispiel in „The Railway Thieves“, wobei Holmes in Russland anscheinend naturalisiert worden ist. Er kann ohne Verdacht zu erwecken verschieden Buchhändler ausfragen und sich zumindest wie in Orlovetzs Geschichte als interessierter Kunde/ Dealer ausgeben. Trotzdem wirkt der Text nicht schlüssig. Anscheinend ist Nikitin im Verlaufe des Plots aufgefallen, dass der Story etwas Dramatik fehlt. Der Showdown ist schließlich eine direkte Auseinandersetzung zwischen Holmes und dem geheimnisvollen Bandenanführer, der die ursprüngliche Prämisse vergessen lässt. Solide geschrieben mit weniger pointierten Dialogen wird der Plot interessant eröffnet, verliert aber im zu langen Mittelteil an notwendiger Kreativität.

Nikitins „The Strangler“ ist eine freche Kopie von Doyles „The Speckled Band“ mit Entlehnungen einiger Ideen aus „The Sign of Four“. Holmes soll wieder einen Mord in einem geschlossenen Raum untersuchen. Damit der Text überhaupt funktioniert, ignoriert der Autor die Doyle´sche Vorlage. Der Kreis der Tatverdächtigen ist extrem klein und eher verzweifelt bemüht sich Nikitin, mit einer geheimnisvollen Botschaft im phlegmatischen Mittelteil den Spannungsbogen aufrecht zu halten. Da Sherlock Holmes diese Nachricht umgehend als Finte entlarvt, negiert der Autor seine Intention quasi in der nächsten Zeile. Das einzig überraschende Element dieser Geschichte ist das Ende. Nicht in Hinblick auf die Auflösung oder Bestrafung der Täter, sondern Nikitin greift nicht zum ersten Mal in seinen vielen Geschichten zur Reichenbachlösung. Watson reist alleine und traurig über den Verlust seines Freundes erstaunlicherweise nach London zurück. Auf das gleiche Ende greift Niktiin ebenfalls unnötig in „Pearl of the Emir“ zurück, wobei sich der grundlegende Plot – auf geheimnisvolle Art und Weise wird ein wertvolles Schmuckstück gestohlen, der Dieb taucht in der Mannschaft eines Flussschiffes unter – auf Vertrautes konzentriert. Die markant melancholische russische Stimmung auf dem Schiff sowie das actionorientierte Ende machen die eher hölzern geschriebene, mit teilweise steif und insbesondere für das Verhältnis Watson/ Holmes unrealistischen Dialogen versehene Story etwas interessanter. Die Reihenfolge, in welcher der Autor seine Texte verfasst hat, ist nicht bekannt, aber das Holmes in den hier zusammengefassten Geschichten zweimal mit seinem Gegner in den Fluten russischer Flüsse versinkt, wirkt nicht nur aus heutiger Sicht fast abenteuerlich. Nitkin verzichtet auf Querverweise zu „The Strangler“, während zu Beginn des Textes zumindest ein weiterer von Holmes in Russland aufgeklärter Fall vom Ich- Erzähler Watson angedeutet wird.
Qualitativ überzeugender sind die letzten beiden Geschichten. Obwohl „The commercial Centre Mystery“ sich enger an Doyle „The red-headed League“ anlehnt, ist der Plot mit seinen anfänglich übernatürlichen Anspielungen, seinem soliden Mittelteil und der allerdings auf der Actionseite zu übertriebenen, fast komödiantischen Auflösung sehr gut geschrieben. Niktiin trifft Holmes Tonfall sehr viel besser und der Detektiv kann wichtige Teile des Falls mittels seiner genauen Beobachtungsgabe lösen, während der Leser noch im Dunkeln tappt. Wie in einigen anderen Geschichten sowohl Nikitins als auch Orlovetzs greift allerdings Holmes sehr viel entschlossener zum Revolver als in den Originalgeschichten. Ein ebenfalls wiederkehrendes Element ist der Epilog, in dem Watson - Holmes ist ja in zwei Storys buchstäblich untergetaucht - dem Leser berichtet, dass die Schurken schon lange in Russland wegen anderer Verbrechen gesucht werden. Spätestens mit der letzten Story der Sammlung „The Mark of Tadjidi“ wird expliziert erklärt, dass Holmes und Watson in Russland Kultstatus erreicht haben und auf ihren Reisen durch das Zarenreich von der Öffentlichkeit höflich, aber auch bestimmt beschlagnahmt werden. Durch einen Zufall werden die beiden Helden Zeuge, wie in einem Korb eine zerstückelte Männerleiche gefunden wird. Es handelt sich um einen einflussreichen Mann. Holmes und Watson besuchen dessen sehr junge Witwe, die anscheinend britische Wurzeln hat. Diese erzählt den Männern, wie sie ihren Mann kennen gelernt hat. Holmes ist allerdings der Ansicht, dass einige Fakten nicht zusammenpassen. Durch einen Zufall erfährt er ihren Mädchennamen und kann - hier muss der Autor allerdings etwas improvisieren - an Hand eines alten Falls eruieren, dass die junge Frau nicht nur in Gefahr ist, sondern dass ihr „verstorbener“ Mann ein gefährliches wie schreckliches Geheimnis gehütet hat. Von allen hier gesammelten Texten Nikitins ist die vorliegende Geschichte die mit großem Abstand beste. Wie Doyles längere Arbeiten - siehe „The Sign of Four“ - können die Protagonisten ihrer nicht ehrlichen Vergangenheit nicht gänzlich entkommen. Obwohl der Leser die endgültigen Zusammenhänge nach guten zwei Dritteln des Textes erahnen kann, erzählt Nikitin die Ereignisse stilistisch ausgesprochen souverän und packend. Im Gegensatz zu einigen anderen seiner Arbeiten überzeugen vor allem auch die dreidimensional gezeichneten Nebenfiguren. Das Ende ist weniger dramatisch actionorientiert als in seinen anderen Arbeiten, dafür stimmiger was den ganzen Text angeht. Eine interessante Story, die sich am Rand dessen bewegt, was insbesondere im westlichen Europa die Hüter von Sitte und Moral zugelassen hätten.

Das Cover dieser interessanten Sammlung zeigt einen Jeremy Brett nachempfundenen jugendlicheren Sherlock Holmes vor einem markanten russischen Gebäude. Es ist ein stimmungsvolles Bild, das den Tenor der insgesamt sieben Geschichten sehr gut trifft.
Die Qualität der einzelnen Texte ist sehr unterschiedlich und die Konzentration auf die Arbeiten zweier Autoren - insbesondere Orlovetz scheint nur wenige weitere Holmes Geschichten geschrieben zu haben - deutet allenfalls an, in welcher Breite und vor allem welchen Auflagen die Holmes Geschichten in der kurzen Periode zwischen dem Aufkommen eines Bürgertums und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieg sowie der anschließenden russischen Revolution in Russland veröffentlicht worden sind. In seinem ausführlichen Vorwort geht George Piliev andeutungsweise auf die Popularität des britischen Detektivs ein und führt weitere Autoren auf, die sich an Holmes Geschichten versucht haben. Das Spektrum der Texte reicht wie schon angesprochen von einfachster/ frecher Kopie über interessante Genrevariationen bis zu den beiden Höhepunkten „The Mark of Tadjidi“ sowie „The Brothers Gold Mine“, die westlichen Kanongeschichten ohne Probleme das Wasser reichen können. Beiden Autoren gelingt es ansatzweise, die Gastfreundlichkeit wie Lebenslust der Russen in einfachen, aber nachhaltigen Bildern zu beschreiben und wenn Holmes/ Watson einmal ein wenig zu russischen agieren, stört es nicht das ganze Bild, das diese Sammlung zu zeichnen sucht. Alleine die Tatsache, dass diese mehr als einhundert Jahre alten Geschichten zum ersten Mal in englischer Sprache einem westlichen Publikum zur Verfügung gestellt worden sind, verdient Anerkennung und Bewunderung. „Sherlock Holmes in Russia“ kann das Titel gebende Thema nur anreißen. Die Auswahl zeigt aber nachdrücklich, wie schnell sich das Phänomen Sherlock Holmes für damalige Verhältnisse mit atemberaubender Geschwindigkeit
um die Erde verbreitet hat.

Alex Auwaks (Hrsg.) : "Sherlock Holmes in Russia"
Anthologie, Hardcover, 224 Seiten
Robert Hale Verlag 2010

ISBN 9-7807-0908-0077

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