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Polizisten und Ärzte sind Berufsgruppen, die sehr oft in Filmen auftreten. Taxifahrer stehen immerhin in Das fünfte Element, Fletcher's Visionen und Taxi Driver im Mittelpunkt der Handlung. Und Heizungsinstallateure? Jeder, dessen Heizung einmal mitten im Winter ausgefallen ist, wird dieses Handwerks nicht hoch genug schätzen. Cineastisch wurden die Heizungsingenieure dagegen sträflich vernachlässigt – bis Terry Gilliam in Brazil den coolen und rebellischen Installateur Harry Tuttle auftreten ließ.
Der Film beginnt mit einer Explosion um 8.45 Uhr irgendwo im 20. Jahrhundert. In einer weihnachtlichen geschmückten Geschäftsstraße wird ein Laden für Fernseher zerstört. Das nächste Opfer ist dann eine Fliege, welche ein Beamter des Informationsministeriums tot schlägt. Sie fällt in eine Art retrofuturischtische Schreibmaschine und macht dort aus einen T ein B. Dieser vermeintliche kleine Fehler löst in dem von Terry Gilliam erdachten Verwaltungsstaat eine Kettenreaktion aus.
So wird statt dem illegal operierenden Heizungsingenieur Harry Tuttle der unbescholtene Familienvater Buttle von der Abteilung Information Wiederbeschaffung verhaftet. Natürlich steht der Witwe, des während des Verhörs verstorbenen Mannes, eine Entschädigung zu. Der kleine Beamte Sam Lowry bietet seinen Chef in dieser bürokratischen Notlage seine Hilfe an. Er fährt persönlich zu Mrs. Buttle, um ihr den Scheck überreichen.
Dort trifft der Beamte auf Mrs. Buttles Nachbarin Jill Layton. In ihr meint Lowry, die Frau seiner Tagträume zu erkennen. Um Jill wieder zu sehen, nimmt er die von seiner Mutter arrangierte Beförderung zur Abteilung Information Wiederbeschaffung an und stellt sich letztlich dennoch gegen das herrschende System.
Ein anderer Regisseur hätte aus so einen Stoff einen düsteren Actionfilm gemacht. Terry Gilliam geht die Geschichte hingegen mit Humor und skurrilen Ideen an. Seine Karriere begann er bei der britischen Komikergruppe Monty Python, für die er Die Ritter der Kokosnuss und Das Leben des Brian inszenierte. Später drehte er unter anderen Time Bandits (1981), König der Fischer (1991), 12 Monkeys (1995) oder The Zero Theorem (2013). Viele seiner Komödien besitzen unterhalb der Oberfläche eine ernsthafte Ebene. Dies wird besonders in den 1985 erschienenen Film Brazil deutlich.
Als Sam Lowry ist Jonathan Pryce zu sehen, der zuletzt kleinere Rollen in der Fluch-der-Karibik-Reihe und Game of Thrones übernahm. Seinen Kollegen und Widersacher Jack Lint besetzte Gilliam mit einem Freund aus der Monty-Python-Truppe. Michael Palin (Jabberwocky, Ein Fisch namens Wanda) beweist sehr schön, dass man komisch und fies zur selben Zeit sein kann.
"Ich brauche einen Heizungsingenieur hier!"
Palin hatte einen berühmten Mitbewerber. Auch Robert De Niro (Taxi Driver, Joker) wollte Jack spielen – Gilliam hatte die Rolle aber schon Palin versprochen. Da De Niro trotzdem unbedingt in Brazil mitwirken wollte, bekam er die Rolle des Heizungsingenieurs Harry Tuttle. Obwohl er nun nur eine Nebenrolle spielte, ging der Filmstar die Arbeit mit großer Liebe zum Detail an und war immer erst nach mehreren Versuchen mit einer Einstellung zufrieden – was dem Regisseur und seiner Mannschaft viel Geduld abverlangte. Später bezeichnete De Niro die Dreharbeiten als eine wundervolle Zeit und erklärte, er würde immer wieder gerne mit Gilliam zusammenarbeiten – wozu es bisher aber nicht kam.
Die relativ unbekannte Schauspielerin Kim Greist setzte sich bei der Rolle der Jill Layton gegen Rosanna Arquette, Ellen Barkin, Jamie Lee Curtis, Rebecca De Mornay und Kathleen Turner durch. Sie bekam den Zuschlag, weil Gilliam bei den Probeaufnahmen ihre noch unverbrauchte Präsenz auf der Leinwand schätzte. Nach Drehende war der Regisseur nicht sehr zufrieden von ihrer Leistung, sodass er ihre Szenen kürzte.
In weiteren Rollen sind Katherine Helmond (Time Bandits), Ian Holm (Das fünfte Element, Der Herr der Ringe), Ian Richardson (Dark City), Peter Vaughan (Das Dorf der Verdammten) und Bob Hoskins (Hook, Super Mario Bros.) zu sehen.
Die erste große Inspirationsquelle, die einen beim Betrachten von Brazil in den Kopf kommt, ist sicher 1984. So war als Titel zuerst auch 1984 ½ vorgesehen. Die Idee scheiterte jedoch am Einspruch der Erben George Orwells. Gilliam benannten seinen Film schließlich nach einem Schlager des spanischen Sängers Xaver Cugat, den er zufällig an der Küste Wales hörte, wie er in dem Making Of zu Brazil berichtet. In einer anderen Version bezieht sich der Titel auf den Samba Aquarela do Brasil von Ary Barroso aus dem Jahr 1939. Das Stück ist im Film in verschiedensten Variationen zu hören, welche dabei oft den gezeigten Schrecken entgegenwirkt.
Die Behördenwillkür und der Verwaltungswahnsinn erinnern noch an eine weitere literarische Vorlage: Der Prozess von Franz Kafka. Auch dort sieht sich der Protagonist mit einer bedrohlichen staatlichen Behörde konfrontiert, deren Forderungen ihm bis zum Ende des Romans rätselhaft bleiben.
Stilistisch besitzt der Film noch einige andere Vorbilder. So erinnern die Kulissen und die realen Drehorte (gefilmte wurde unter anderen in einer alten Getreidemühle, in dem Kühlturm eines stillgelegten Kraftwerks und dem französischen Gebäudekomplex Espaces d'Abraxas) an Fritz Langs Filmklassiker Metropolis (1927). Die deutschen Stummfilme der zwanziger Jahre arbeiteten viel mit Licht und Schatten. Diese Technik verwendet auch Gilliam, wenn sein Held durch die nächtlichen Straßen wandert.
Der Stil des deutschen Expressionismus wurde in den 40er Jahren im Film noir übernommen – und auch dieses Genre zitiert der Regisseur in Brazil. So erinnert Sam Lowrys Kleidung mit grauem Anzug, Mantel und Hut stark an Humphrey Bogarts Outfit als Privatdetektiv in Die Spur des Falken (1941) oder Tote schlafen fest (1946). Verstärkt werden diese Anleihen an den Film noir wiederum in den kunstvoll ausgeleuchteten Szenen und dem Spiel mit dem Schatten.
Gegen Ende zitiert Gilliam eine Szene aus dem russischen Stummfilmklassiker Panzerkreuzer Potemkim (1925) von Sergei Eisenstein. Im Original wird bei der Niederschlagung des Matrosenaufstandes eine Frau auf einer großen Freitreppe erschossen. In einer Großaufnahme sieht man, wie ihr Kinderwagen die Stufen herunter rollt. Nicht so in Brazil: Hier wird bei einer Schießerei im Foyer des Informationsministeriums eine dort tätige Reinigungskraft nieder geschossen. Anders als bei Eisenstein rollt nun aber kein Kinderwagen die Treppe hinab, sondern ein Staubsauger. Unverkennbar bleibt der Film bei allen ernsthaften Themen, das Werk eines Regisseurs, der seine Karriere bei Monty Python begann.
So spart Gilliams in Brazil auch nicht an Humor, Satire und Slapstick. Da kämpft Lowry im Büro mit seinen Zimmernachbarn um den Schreibtisch, eine Sekretärin erfasst während der Folter jeden Schmerzensschrei des Opfers im Protokoll und die Schönheitsoperationen nehmen im Laufe des Film immer skurrilere Formen an.
Der Staat ist in Brazil ein bürokratisches Unrechtssystem, in dem die Unschuldigen die Kosten für ihre Folter selber zahlen müssen. Diese bizarre Atmosphäre aus Schrecken und Spaß wird durch die Kulissen unterstützt. Der altmodische Eindruck der Zimmer und Büros wird von den überall sichtbaren übergroßen Heizungsrohren und den retrofuturistischen Bildschirmen gebrochen.
"Erzählen Sie mir gerade, dass das illegal ist?"
So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Filmstudio mit dieser düsteren Mischung aus Humor und Dystopie wenig anfangen konnte. Der damalige Chef der Universal Studios Sid Sheinberg, wollte eine eigene Fassung des Films in die Kinos bringen. Die von Gilliam herausgenommenen Szenen mit Kim Greist fügte Sheinberg für ein Happy End wieder ein.
Die folgenden Streitigkeiten führten dazu, dass Brazil vorerst nicht veröffentlicht wurde. Allerdings hatte der Regisseur schon einige Kopie seiner Version auf Videokassette in Hollywood im Umlauf gebracht. Manche Filmkritiker fragten nun, ob ein fertiggestellter, aber noch nicht veröffentlichter Film, für einen Oscar nominiert werden könnte. Um dieser, für das Studio recht peinlichen, Situation aus dem Weg zu gehen, gab Sheinberg nach und Brazil wurde ohne Happy End veröffentlicht.
Als Resultat der Unstimmigkeiten veröffentlichte Universal aber dennoch zwei unterschiedlichen Schnittfassungen. Die in Europa gezeigte Version ist mit 142 Minuten ein wenig länger als die in den USA gezeigte Fassung. Bei der Oscar-Verleihung 1986 war der Film in den Kategorien bestes Originaldrehbuch und bestes Szenenbild nominiert – ging aber leer aus.
"Sie wissen ja, wir haben Weihnachten und so."
Dank des gelungenen Szenenbildes ist Brazil optisch sehr gut gealtert. Die Mischung verschiedener Kino-Epochen und Genres verleihen dem Film etwas Zeitloses. Auch inhaltlich funktioniert die Geschichte heute genauso gut wie 1985. Trotz all seiner überdrehten Ideen zeigt der Film das Böse sehr realistisch. Die Menschen im Film dienen der Verwaltungsdiktatur nicht um ihre eigene Herrschaft auszubauen oder geniale Weltherrschaftspläne zu verwirklichen. Sie halten sich einfach an die Regeln und Vorschriften.
Manche aus Trägheit, manche dienen dem System, weil ihnen Ordnung wichtig erscheint. Wer sich nicht an die aufgestellten Regeln hält – und mögen sie auch noch so unsinnig sein – wird mit Gefangenschaft, Folter und Tod bestraft. Reale Vorbilder für solche Diktaturen gab es im 20. Jahrhundert viele. Terry Gilliam gelingt es, eine solche Schreckensherrschaft darzustellen und mit seinem ganz eigenen Humor aufzulockern. Und es gibt Hoffnung in Person von Harry Tuttle, dem rebellische Installateur, der auch an Weihnachten gegen das Unrechtssystem und kaputte Heizungen kämpft.