Gast aus der Zukunft

Gast aus der Zukunft, Silverberg, Rezension
Robert Silverberg

Robert A. Heinleins 1962 veröffentlichter Roman "Stranger in a Strange Land" hat ohne Frage teilweise gegen den Willen seines Autoren einen sehr langen Schatten geworfen.  Sechs Jahre später veröffentlichte Robert Silverberg in seiner zweiten produktiven Phase mit "Gast aus der Zukunft" einen ähnlich sozial provokativen Roman. Das Buch ist für den Nebula Award nominiert worden, unterlag aber schließlich Alexei Panshins Coming of Age Story "Rite of Passage".

 Viele Romane setzen sich mit den verschiedenen Auswirkungen der Zeitreise auseinander und fokussieren sich vor  allem auf den Reisenden per se. Die Begegnung mit dem Gast aus der Zukunft ist fast  ausschließlich aus einer dritten, neutralen Perspektive erzählt worden.  Im Rahmen greift allerdings Leo Garfield mit einem düsteren Ausblick zum Einen in die Zukunft, zum Anderen beschreibt er im Grunde sein eigenes inhaltsleeres  Leben.  Er ist Physikprofessor.  Einer seiner talentiersten Schüler zieht sich in die Wüste zurück und lebt dort mit seiner Freundin als eine Art Hippie.  Garfield darf in die Kommune einbrechen. Die Beschreibungen des Lebens in der Wüste nehmen einen sehr breiten Raum ein.  Im finalen Akt wird Robert Silverberg den Bogen noch einmal dorthin schlagen und aus der  bislang implizierten Dreierbeziehung einen intellektuellen Vierer machen. Aus heutiger Sicht wirkt diese alternative, im Grunde Welt abgeschiedene, isolierte und technologiefeindliche Lebensweise gewöhnungsbedürftig, aber in einem Ende der sechziger Jahre spielenden Roman attackiert Robert Silverberg den im Grunde aus seiner Sicht von Scheuklappen dominierten "Way of Life". Auch Heinlein hat im Mittelpunkt seines Buches eine beißende Kritik an  der aus seiner Sicht einengenden Ordnung, wobei beide Autorin vordergründig der Hippie Kultur mit ihren Drogen und fatalistischen Einsichten huldigen, sie aber in ihrem tiefsten Herzen auch ablehnen. 

 Es sind diese widersprüchlichen Situationen, welche den Reiz beider Bücher auch heute noch ausmachen. Bei Heinlein ist es ein Marsianer, der mit seiner fehlenden Prüderie, seiner Neugierde und schließlich seinen Fähigkeiten die soziale Ordnung auf der Erde zum Einsturz bringt. Auch Robert Silverbergs Besucher aus der möglichen Zukunft hat einen ähnlichen Effekt allerdings auf eine Gesellschaft, die am Rande der Jahrtausendwende trefflich vorher gesagt sich selbst am liebsten vernichten möchte. 

 Über dem Petersplatz Roms erscheint vom Himmel schwebend ausgerechnet zu Weihnachten Vornan- 19. Ein Gott von einem Mann. Er behauptet, aus der Zukunft zu kommen. Eine Zeitmaschine hat ihn abgesetzt und wird ihn auch wieder aufnehmen. Er gibt nur allgemeine Auskünfte über die Zukunft, welche den Verdacht nähren könnten, er sei ein Scharlatan.  Er reist durch Europa, gibt sich der freien Liebe hin und wird überall hofiert,  ohne eine Gegenleistung anzubieten oder zu versprechen.

 In den USA beschließt die Regierung, ihn von einem Spezialisten Team begleiten zu lassen.  Neben Leo Garfield besteht die Gruppe aus einem Historiker, einem Anthropologen, einem Philosophen sowie einer Esoterikerin. Sie sollen Vornan-  19 im Grunde nicht nur begleiten, sie sollen herausfinden, ob der Mann aus der Zukunft echt ist und welche Geheimnisse die USA aus seinem Besuch/ Aufenthalt gewinnen kann. Nur gibt es in der Gruppe  selbst zwischenmenschliche Spannungen und diese Reise durch die USA wird mehr und mehr zu einer Herausforderung an die Menschen und weniger in der Beziehung zu Vornan- 19, der mit seiner fast naiven Art anscheinend selbst die Menschen zu beobachten/ untersuchen sucht.

 Die besten Robert Silverberg Romane leben von einer stringenten Handlung, welche nicht selten mit den Versatzstücken des Genres spielen und dreidimensionalen Charakteren. Vor  allem in zweiter Hinsicht ist „Gast aus der Zukunft“ ein hervorragendes Beispiel. Beginnend mit dem ambivalenten Garfield hat der Autor zwei Handvoll von ungewöhnlichen Figuren entwickelt. Garfield steht zwischen allen Stühlen. Er  liebt seinen Job, die Ehren an der Universität, auf der anderen Seite ist er einsam,  an schnellen Beziehungen eher oberflächlich interessiert. Er bewundert seine unkomplizierten Freunde Jack und Shirley, die sich mit ihrem freien Leben in der Wüste ein Paradies erschaffen haben.  Still und heimlich liebt er auch Shirley, will aber die Freundschaft  nicht zerstören.  Jack dagegen ist der Ansicht, dass der Zeitreisende Theorien und Techniken genutzt hat, die auf seinen Forschungen basieren. Zu Beginn soll ihm Garfield nur berichten, am  Ende will er den Zeitreisenden selbst kennenlernen. Mit natürlich fast klischeehaften schrecklichen Folgen für seine Beziehung und sich selbst. Mit dem Eindringen des sexuell sehr aktiven wie anscheinend ambivalenten Vornan-  19 droht das Idyll zu zerbrechen.

Robert Silverberg führt diesen Handlungsbogen nicht abschließend zu Ende und belässt  es an einigen wichtigen Stellen bei Implikationen, aber generell deutet er an, dass die klassischen Zweisamkeit nur eine Illusion ist. Vornan-  19 bleibt dabei absichtlich im Gegensatz zu Heinleins Marsianer eine Chiffre.  Seine Andeutungen der Zukunft sind derartig vage und unbestimmt, dass der  Leser an vielen Stellen an einen Scharlatan denkt, der tragisch durch den Wind umkommt, den er gesät hat. Vornan- 19 ist die unsympathische Katalysatorerscheinung, welche die inneren Sehnsüchte und  Ängste nicht nur der handelnden Protagonisten, sondern einer hysterischen, den Höhepunkt des Wachstums überschrittenen Zivilisation symbolisiert.  Seine Ansichten sind so bizarr, so kindlich kindisch, dass der Leser ihn nicht ernst nehmen kann.  Vielleicht absichtlich macht Silverberg aus ihm fast einen Rockstar ohne eigene Stimme, eigene Musik und vor allem eigene Visionen. Und trotzdem huldigen ihm vor allem die weiblichen Massen.

Das Expertenteam symbolisiert die verschiedenen wissenschaftlichen Strömungen und Ansichten der sechziger Jahre.  Jedes Mitglied des Teams darf eigene Ansichten äußern. Es gibt auch sexuelle Beziehungen, wobei vor allem die Frauen aktive Rollen übernehmen und die Männer eher als  emotional unterentwickelte, eifersüchtige große Kinder darstellen lassen. Im mittleren Abschnitt des Buches droht die eigentliche Idee des Gastes aus der Zukunft hinter den verschiedenen, mehr oder minder philosophischen Diskussionen zu verschwinden.  Da wird die Börse inklusiv der Seitenhiebe auf den Kapitalismus genauso besucht wie ein automatisiertes Bordell  in Chicago oder schließlich als abschließende Science Fiction Exkursion   sogar eine Amüsiermeile auf dem Mond. Vornan- 19 reagiert auf diese Reise überraschter als der Silverberg Anhänger, denn den Hintergrund hat der Amerikaner auch in seinem Roman „Thorns“ verwandt,  während Vornan- 19 als Mann aus der Zukunft zumindest wissen muss, dass die Menschen  über eine  primitive Raumfahrt verfügt  haben. Es ist schade, dass gegen Ende des Buches Silverberg nicht noch einmal intensiver auf die Idee eines Scharlatans eingeht und die einzelnen Widersprüche in Vornan- 19s Auftreten analysiert. 

Neben den dreidimensionalen Figuren, die gegen eine Parodie auf Heinleins seltsame Ansichten in „Stranger in a strange Land“ sprechen ist es aus heutiger Sicht die fast surrealistische Reise über eine Erde der Zukunft aus Sicht der sechziger Jahre, aus der Gegenwart einer fiktiven nicht eingetretenen Vergangenheit. Neben den Weltuntergangsjüngern angesichts der Jahrtausendwende – auch auf das falsche Datum lässt  Silverberg seinen Protagonisten eingehen, denn der Roman spielt natürlich von 1999 auf das Jahre 2000 -  finden sich unglaublich viele kleine Szenen beginnend mit der  „Landung“ auf dem Peterplatz über die Orgien in einer New Yorker Luxusloft oder die Reise in die Wüste  bis hin in das hysterische, noch am Rand der industriellen Revolution stehende  Brasilien. Mit einem Auge für die Details, aber  auch am Hang zur schelmischen Übertreibung zeichnet Silverberg in diesem auch heute noch lesenswerten Roman eine  hysterische,  sich selbst überschätzende Gesellschaft, deren finaler Funke schließlich der mögliche Gast aus der Zukunft ist.      

Ohne Frage ist es eine Sozialsatire, eine Art Bildungsroman mit einem unzuverlässigen Erzähler und einem ambivalenten nicht zu fassenden Gast.  Diese Mischung aus alternativer Zeitreiseerzählung und sozialer Kritik macht neben den ausgezeichneten Protagonisten den Reiz dieses interessanten Buches seit mehr als fünfzig Jahren aus.

  • Format: Kindle Edition
  • File Size: 1479 KB
  • Print Length: 249 pages
  • Publisher: Heyne Verlag (27 April 2017)
  • Sold by: Amazon Media EU S.à r.l.
  • Language: Deutsch
  • ASIN: B06X9V3VV8