Exodus 38

Rene Moreau (Hrsg.)

Mit der Nummer 38 wird das „Exodus“ Magazin politisch. Ausgangspunkt ist eine von der Redaktion nach ausgiebiger Prüfung abgelehnte Kurzgeschichte von Dirk Alt, die schließlich zu einer interessanten Befragung von neun Science Fiction Autoren zu gegenwärtigen Themen geführt hat. Es ist aber sinnvoll, die zusammengefassten Antworten eher als Spiegelbild der Gesellschaft mit all ihren intellektuellen wie wirtschaftlichen Erfahrungen und Vorstellungen zu sehen. Es ist keine Überraschung, dass der Politologe Dirk van den Boom wie auch Andreas Brandhorst mit seiner langen Zeit im europäischen Ausland nicht nur ausgleichende, sondern vor allem positiv relativierende Elemente in dieser Diskussion darstellen. Die politischen Konstellationen vom Marxismus – hat diese Art der Gleichschaltung irgendwo auf der Welt wirklich pragmatisch funktioniert – bis zu erzkonservativen Ansichten spiegeln mit einer zu kleinen Mitte eben die gegenwärtig durch das Land fließende Diskussion wieder. Uwe Post legt den Finger in die literarische Wunde, weil eben zu wenig extreme Science Fiction geschrieben oder vielleicht auch nur publiziert wird. Ob die Öffentlichkeit dann in der teilweise hysterischen Diskussion Mahnung und/ oder Satire überhaupt erkennen könnten, kann nicht das Thema der Fragerunde sein. Interessant ist, dass Thorsten Küper auf die Frage nach der gegenwärtigen politischen Situation in Deutschland und Europa vielleicht die beste Antwort gibt. Das System ist angeschlagen, weil manche pragmatische und dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden der Bürger Lösungen eben durch die Blockade einer ohne Frage auch überforderten Politik blockiert werden.

Das Thema Zuwanderungsdebatte wird von Frank W. Haubold und Heidrun Jänchen aufgegriffen. Vielleicht ist es falsch, nur die Zuwanderung aus den islamischen Gebieten als Grundlage zu nehmen, zumal insbesondere auch die osteuropäischen Länder in den Augen vieler ein Problem darstellen. Beide Ansichten sind unterschiedlich, vielleicht sogar extrem. Aber während Heidrun Jänchen von der Basis aus argumentiert und tatsächlich den Finger in die Wunde der Bildung/ Ausbildung dieser Menschen legt, versucht sich Frank W. Haubold an einem theoretischen Gedankenmodell, das teilweise der Realität widerspricht. Ohne Frage ist die Kriminalitätsrate bei den Zuwanderern hoch, aber das Problem ist in einem für die Flüchtlinge als Schlaraffenland erscheinenden Paradies auch nachvollziehbar. Eine härtere Hand gegenüber allen Straffälligen inklusiv einer sofortigen Abschiebung der gegen die Gastfreundschaft verstoßenden Menschen könnte das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung befriedigen, während die Menschen, die zu uns gekommen sind, nicht jetzt die neue Generation der Fachleute wird, aber es fehlen in Deutschland nicht nur Fachleute, sondern Arbeitswillige in fast allen Bereichen. Und hier stellt sich auch die Frage, ob das Problem generell auch dank oder durch Harz IV nicht falsch angepackt worden ist. Aber ohne Frage könnten die Kinder der Migranten, aufgewachsen und akzeptiert in Deutschland mit soliden Ausbildungen ohne unrealistische Herausforderungen – muss ein guter Handwerker die deutsche Sprache bis in die letzte Nuance beherrschen oder ist das im Ausland erworbene erlernte Wissen weniger wert als ein Handwerksbrief ? – viele bevölkerungsspezifische Probleme lösen, auf welche weder Heidrun Jänchen noch Frank W. Haubold Antworten haben. In dieser Hinsicht erinnern ihre Argumente an die Parteirichtungen, welche sie vertreten. Opposition bis Polemik ist immer einfacher als Entscheidungen zu treffen und diese auch zu vertreten.

Interessant ist, dass keiner der Autoren den Finger in eine andere Wunde legt. Vielen der Flüchtlinge wird von Schleppern ein unrealistisches Paradies versprochen. Sie sind Opfer von kriminellen Machenschaften, diese Rolle gesteht  Frank W. Haubold aber nur den Deutschen zu. Ein Teil der Flüchtlingsproblematik muss nicht ausgelagert werden, die Wurzeln des Übels sollten bekämpft und ein Konsens zwischen dem Leben in ihren Heimatländern sowie dem möglichen Zuzug von Menschen nach Europa gefunden werden. 

 Perfekt wäre diese „Exodus“ Ausgabe, wenn tatsächlich in diesem Kontext Dirk Alts provokante Geschichte abgedruckt worden wäre. Vielleicht hätten die Herausgeber auch unter ihren vielen Autoren einen Profi gefunden, der für einen Gegenentwurf verantwortlich gewesen wäre.

So bleibt eine zum Nachdenken anregende Diskussion, die viel realitätsnaher geführt wird als man es im Allgemeinen den Science Fiction Autoren zutraut.

 Die Galerie gehört Michael Marrak. Auch hier wäre es für einen derartigen Multikünstler eine tolle Würdigung gewesen, wenn neben den zahlreichen Bildern und der guten Würdigung durch Udo Klotz eine Kurzgeschichte aus seiner Feder entweder abgedruckt oder zumindest nachgedruckt worden wäre. Wann hat man schon die Gelegenheit, einen exzellenten Autoren und einen herausragenden originellen Graphiker gleichzeitig im Portrait vorstellen zu können. Die Qualität der Bilder ist wieder exemplarisch und unterstreicht die Mühe, die sich die Herausgeber auch hinsichtlich der Druck- und Papierqualität immer wieder aufs Neue geben. 

 Herbert W. Franke eröffnet allerdings eher gegen Ende der vorliegenden Ausgabe "Das tellurische Kabinett". Gut geschrieben mit pointierten Dialogen ist die Pointe zwar  erkennbar, aber seine präsentierte Mischung aus moderner Technik und in diesem Fall Museumsvergangenheit unterhält trotzdem zufriedenstellend.

 Norbert Stöbes "Der Wächter" ist die eigentliche Auftaktgeschichte der achtunddreißigsten Ausgabe. Wie bei Herbert W. Franke geht es auch um die Vergangenheit.  In Norbert Stöbes futuristischer Welt leben die Menschen im Grunde permanent in virtuellen Realitäten bis hin zur wahrscheinlich fiktiven Anpassung der Körper. Als eine alte Sonde, die basierend auf Stephen Hawkins Theorien in eines der Nachbarsysteme ausgesandt worden ist, gegen alle  Missionsdaten und Wahrscheinlichkeiten zurückkommt, könnte die bisherige Ordnung auch nach dem Wunsch des Wächters unterminiert werden. Wobei der Titel Wächter eher zu hart klingt. Es handelt sich um Hüter der Vergangenheit, die in minutiöser  Kleinarbeit die Relikte der Menschheit ordnen, reinigen oder reparieren und einer Nachwelt erhalten, die sich im Grunde nicht dafür interessiert. Die Pointe ist interessant und hebt den Text aus der Masse heraus, wobei der Leser sich wünscht, noch ein wenig mehr über diese Welt zu erfahren.  

 Frank Neugebauers „Auferstehung des Fleisches“ und die Abschlussgeschichte „Der Käfig“ von Adrian J. Walker (übersetzt von Horst Pukallus) beschreiben primitivere Post Doomsday Geschichte fast im Frontier Milieu. Während Frank Neugebauer die Züchtung von synthetischen Fleisch und die mutierenden Auswirkungen auf die folgenden Generationen als Ausgangsbasis für seine dunkle Zukunftsvision inklusiv fünf Rassenkriegen  nimmt, scheint bei Adrian J. Walker die Zivilisation  ambivalent zusammengebrochen zu sein. Im ersten Text spielt die Zukunftshandlung in einem kleinen Ort, in dem einer der Rechtelosen vom anreisenden Pabst in der neu erbauten Holzkirche getauft werden soll, während in Adrian J. Walkers Text in klassischer Westernmanier ein psychopathischer Mörder von einem angeheuerten verschuldeten Bewohner des Dorfes in den nächsten Ort zu seiner Hinrichtung transportiert werden muss. Der örtliche weibliche Sheriff ist dazu nicht in der Lage, weil unter anderem die Wassermassen ihre Fahrzeuge zerstört haben. Frank Neugebauers Story wird schließlich zu einer Art grotesken Versammlung vom synthetischen Fleisch gezeichneter Mutationen, wobei die Story fast überdrehend in einer Art zynischer Farce endet. Adrian J. Walker konzentriert sich lange Zeit auf einen geradlinigen Plot und baut impliziert Science Fiction Elemente erst relativ spät und dann absichtlich vage in die Handlung ein. Während Frank Neugebauers Story am Ende zu überdreht erscheint, scheut sich Adrian J. Walker vor einer realistischeren und konsequenteren Auflösung. Über weite Strecken ist seine Story nicht zuletzt wegen der konsequent aufgebauten Atmosphäre, den nachvollziehbaren Herausforderungen und den kantig gezeichneten Protagonisten der zugänglichere Texte, während Frank Neugebauer vor allem in der futuristischen Handlung zu viel auf einmal einzubauen sucht. Hinsichtlich des Endes ist Frank Neugebauer fast in Slapstickmanier konsequenter, während Adrian J. Walker hier das Spektrum unnötig erweitert und einer finalen Lösung ausweicht.

Wolf Wellings "Osmose" funktioniert irgendwie nicht. Ehrgeiziger und selbst verliebter Wissenschaftler diffundiert aus der bekannten Welt. Er wird irgendwie von seinem beruflichen wie privaten Umfeld "vergessen". Später schockiert ihn noch ein Verbrechen.  Wolf Welling liefert keine überzeugenden Erklärungen für das absolute Verschwinden dieser Person, der Autor vertraut er schockierenden "Stimmungen" und einzelnen Versatzstücken. Das aber eine bedingte Kommunikation mit seiner Umgebung noch möglich ist,  zeigen die ersten  Szenen, in denen der unsympathische egoistische Charakter nach und nach auch begleitet von einer Art Vorwarnung/ Einladung aus der Welt vwerschwindet. Die Geschichte  ist nicht schlecht geschrieben und Welling ist auch ein routinierter Autor, der interessante Figuren entwickeln  kann, aber die Plotentwicklung wirkt bemüht und der  Epilog ein wenig zu pathetisch, als das der Text nachhaltig genug überzeugen kann. Der Titel sagt im Grunde alles und gibt das Ende schon vor 

 Eine der besten Geschichten der Ausgabe ist Olaf Kemmlers „Wie man Liebe sichtbar macht“. Dank einer neuen Art der lernfähigen künstlichen Intelligenz kommt der Protagonist auf die Idee, die Partnersuche zu optimieren und die offensichtlichen wie versteckten Signale der Menschen zu archivieren und einer neutralen künstlichen Intelligenz zur Auswertung zur Verfügung zu stellen. Ihn begleitet eine Studentin. Natürlich können sich die Beiden nicht ausstehen. Natürlich ist auch das emotionale Ende erkennbar. Aber dazwischen entwickelt sich die Geschichte flott mit einigen köstlichen Dialogen und guten Ideen. Vor allem handelt es sich um eine Story, in welcher die künstliche Intelligenz nicht gleich mit einem Stigma belegt wird, auch wenn er vor allem die Menschen sind, die stur versuchen, deren Spektrum zu erweitern.   

 Uwe Post präsentiert mit „Die Borussia- Eskalation“ eine der überdrehten Satiren, für welche der Autor so bekannt ist. Ausgangslage des interstellaren Konflikts ist ein Fußballspiel mit einer gewissen Aggression schon auf dem Feld. Natürlich endet dieses gegenseitige Hochschaukeln in einem Desaster. Überspitzt geschrieben will der Funke aber nicht richtig überspringen, da die Grundidee außerhalb des Genres vielleicht zu oft verwandt und die Ereignisse zu klar erkennbar vorgezeichnet worden sind. Thomas Kolbes „Greifen Sie zu“ überzeugt in dieser Hinsicht deutlich mehr. Beginnend und sehr passend von Hubert Schweizer illustriert wie die Expedition auf einer wirklich herausfordernden Welt zu einem anscheinend außerirdischen Artefakt aus der Sicht des unerfahrenen wissenschaftlichen Begleiters beschrieben. Die Pointe lässt den Leser zumindest schmunzeln, aber dank des konsequenten Spannungsaufbaus und der guten Hintergrundbeschreibung gehört „Greifen Sie zu“ zu den besseren Texten in einer leider eher auf dem Storysektor eher durchschnittlichen „Exodus“ Ausgabe.

 Auch zwei andere sehr kurze Texte überzeugen. Angela und Karlheinz Steinmüller spielen in „Begegnung am Terminal oder Das dritte Photon“ auch nicht unbedingt mit einer neuen Idee und liefern für die Phänomene Paralleluniversum/ Zeitreise / Quantenphysik eher eine theoretische Erklärung, aber der Text liest sich nicht nur kurzweilig, sie zeichnen ein beängstigend reales Bild der Stadt der europäischen Beamten- Brüssel, nicht Berlin.

 Christian Endres „Mundtot“ lebt von seinem arroganten, selbst verliebten, aber anscheinend in Hinblick auf Internetsicherheit auch sehr guten Protagonisten. Der Plot entwickelt sich zügig, das Ende weist auf die kleine Schwäche im System – die Vollzugskräfte – gekonnt hin. Auch wenn einige Teile ein wenig zu stark konstruiert erscheinen, liest sich die Story kurzweilig und flüssig.

 Der Höhepunkt sind wieder beginnend mit Titelbild, hinterem Cover und der Galerie die Graphiken. Teilweise in Farbe, manchmal sehr viel effektiver in schwarzweiß begleiten sie die unterschiedlichen Texte. Es ist schade, dass qualitativ diese Exodus Ausgabe ein wenig hinter den letzten überdurchschnittlichen Nummern zurückbleibt. Viele der Geschichten lesen sich gut und flüssig, aber die Ideen wirken nicht innovativ genug und vor allem die Pointen erscheinen nicht nur einmal sehr hektisch und nicht konsequent genug ausgespielt. Wie eingangs erwähnt wäre der provokante Abdruck von Dirk Alts Geschichte eine gute Abrundung der aufgeworfenen gegenwärtigen politischen Fragen und eine Michael Marrak Story hätte diesem besonderen und wichtigen Galerieteil des „Exodus“ Magazines Perfektion vermittelt.

 Weiterhin ist aber „Exodus“ mit seiner Synthese aus überwiegend Science Fiction Stories und phantastischen Graphiken, sowie einigen lyrischen Gedankenblitzen ein Eckpfeiler und Fundament für Kurzgeschichten deutschsprachiger Autoren und deswegen alleine schon empfehlenswert.

  

www.exodusmagazin.de

112 Seiten, Din A 4 mit farblichen graphischen Teil

EXODUS 38