Pol Pots wunderschöne Tochter

Geoff Ryman

Der Golkonda Verlag präsentiert in dieser Originalzusammenstellung insgesamt drei Novellen und drei Kurzgeschichten Geoff Rymans, wobei für diese Ausgabe "Das unbesiegte Land" gegenüber der Einzelveröffentlichung als Heyne Taschenbuch noch einmal gründlich überarbeitet worden ist.

„Das unbesiegte Land“ ist bei der Erstveröffentlichung für viele der wichtigsten Preise nominiert worden. Die Novelle erhielt den Fantasy Word Award. Im Nachwort geht Geoff Ryman auf eine Teilinspiration in Form allerdings einer Reise durch Thailand und weniger Kambodscha ein.  

Es ist eine zeitlose Geschichte. Ein Naturvolk in einer irgendwie fernen und doch so nahen Zukunft wird erobert und im Grunde versklavt. Die Eroberten wollen sich aber nicht unterdrücken lassen, sie beginnen die Mechanismen der Eroberer zu adaptieren und dadurch auch zu verfremden. Die Ausgangslage ist reine Fantasy. Third Child – im Original – ist Mitglied eines Naturvolkes, dessen Blut heiß begehrt ist. Sie leben in lebendigen Häusern, die mit ihren Besitzern leider und schließlich sterben, wenn sie verlassen werden. Die Anhänger dieses Volks können in ihren Leibern wie biologische Drei D Drucker fast alles herstellen. Waffen bringen mehr Geld, sind aber auch gefährlicher. Ryman überschlägt sich mit Ideen und Beschreibungen, der Leser fühlt sich ein wenig desorientiert.

Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die sich immer wieder ihrer Umgebung anzupassen sucht und im Grunde immer zu spät kommt. Sie will nicht rechnen lernen, auch wenn sie es braucht. Später in inflationären Zeiten orientiert sie sich an den Bildern. Sie muss vom Land in die Stadt umziehen, als Fremde beginnen, die Männer zu töten. In der Stadt umgarnt sie ein hässlicher, aber im Herzen auch gütiger Offizier. Sie wird zu spät erkennen, was der Mann eigentlich für sie machen wollte. Anschließend durchlebt sie einen Aufstand, der die herrschende Ordnung auf der einen Seite wegfegen, auf der anderen Seite aber auch ein neues Schreckensregime etablieren wird.

Der Titel ist eine Metapher. Es ist eine Bürgerkriegsgeschichte, deren wahren Ereignisse auf den Revolutionen in Kambodscha  basiert. Ryman impliziert, dass ein Volk und damit eine Kultur, aber nicht ein Land unbesiegbar bleiben kann, in dem es den Konflikten ausweicht und stetig flieht. Das bedingt aber auch eine gewisse Ignoranz den Einflüssen gegenüber und verhindert eine Anpassung an jegliche soziale Veränderung. Die Mitglieder des unbesiegten Volkes bleiben mit ihren ungewöhnlichen, aber niemals erklärten Fähigkeiten Außenseiter. Das dritte Kind wird trotz ihres grausamen Schicksals zu einem Symbol, das manche Menschen sich biegen, aber stoisch nicht brechen lassen.

Wer zu fokussiert schaut, kann die roten Khmer klar erkennen. Das Naturvolk steht dann für die Ureinwohner dieses lange von der Öffentlichkeit vergessenen Landes mit seiner langen Tradition. Aber im Grund umfasst Ryman mit seiner Novelle ein viel breiteres Thema, denn jegliche Art von militärischer Unterdrückung auch unter dem Mantel der Volksbefreiung sieht er kritisch und erkennt, dass vor allem die Ärmsten der Armen darunter leiden.

„Das unbesiegte Land“ ist wahrscheinlich der bekannteste Beitrag zu dieser Sammlung, aber auch mit einem großen Abstand der am meisten Politische wie Nachdenklich stimmende.

Geoff Ryman verzichtet allerdings auf ein klassisches Happy End. Zu viele Flanken bleiben offen. Der Autor fokussiert sich abschließend mehr auf die äußeren Umständen, während die Herkunft und die seltsame Lebensweise die erste Hälfte dieser einzigartigen, surrealistischen Novelle bestimmt haben.  

Die Titelnovelle "Pol Pots wunderschöne Tochter" streift deutlich expressiver die Leidensgeschichte Kambodschas. Es ist eine Geistergeschichte. Es ist aber auch eine Geschichte, die teilweise nicht der Wahrheit entspricht. Das macht Geoff Ryman dem Leser immer wieder klar, wenn er aufzeigt, dass Pol Pot eben nicht nur der Revolutionär gewesen ist, der die kambodianische Gesellschaft buchstäblich auf den Kopf stellte, in dem er die Städter aufs Land zum Arbeiten trieb.

Geoff Ryman hat einige Aspekte Pol Pots aufgenommen. So hat der Dikator tatsächlich eine Tochter gehabt. Sie war aber nicht in diesem fiktiven Kambodscha geblieben und sie verprasste nicht in Malls das Geld ihres Vaters, das immer aus der Schweiz überwiesen worden ist. Auf der einen Seite versucht die Protagonistin verzweifelt ein normales Leben zu führen, auf der anderen Seite genießt sie aber auch den Luxus, den das Geld ihres Vaters dem eigenen Volk gestohlen ihr ermöglicht. Sie scheut sich, in der Öffentlichkeit ihre Herkunft preis zu geben, weil viele Menschen ihren Vater berechtigterweise auch hassen.

Die Liebesgeschichte ist aber in eine andere viel intensivere Hintergrundstory eingebettet. So gibt es ein Haus, dessen Besitzer wahrscheinlich von Pol Pots Schergen ermordet worden sind. Ein Mann kauft es und macht einen Kopierladen auf. Nachts beginnen die Kopierer Fotos der Toten, der Verschwundenen, der Opfer des Regimes auszudrucken. Wie die Totenschädel im Dschungel Kambodschas sind diese sprachlich beeindruckenden wie auch bedrückenden Momente Zeugnisse eines Terrorregimes, das heute fast in Vergessenheit geraten ist. Ein Raum voller kopierter Geisterfotos. Unvergessliche Szenen in einer atmosphärisch stimmigen Geschichte voller Charaktere, die mit den eigenen Lügen leben müssen. „Das unbesiegte Land“ spannt einen weiteren Bogen, aber „Pol Pots wunderschöne Tochter“ ist ein phantastisches surreales politisches Manifest, das unterstreicht, auch Horrorgeschichten können den Zeitgeist erfassen.      

Ebenfalls aus „The Magazine of Fantasy & Science Fiction” stammt “Die letzten zehn Jahre im Leben des Helden Kai“. Gleich zu Beginn definiert Geoff Ryman die Leitlinien seines mystischen Helden wider Willens Kai. Die folgenden zehn Kapitel orientieren sich immer an einer dieser allerdings auch sehr vagen Prämissen.  Es ist eine seltsame teilweise innere Reise in einem mystischen asiatischen Land, welche der Autor beschreibt. Kai hat übernatürliche Fähigkeiten, ein besonderes Schwert und schließlich auch die Entschlossenheit, markante Strukturen zu zerschlagen. Seine Gegner haben auch magische Fähigkeiten, die zum Beispiel in einer grausamen Schlacht quasi mittels Spinnenfäden ausgeschaltet werden können. Die Novelle ist voller eindrucksvoller sprachlicher Bilder wie dem ehemaligen König, der in einen Bernsteinthron lebendig eingeschmolzen wird. Politische Ränkespiele werden fast hektisch abrupt aufgelöst. Vor allem hat der Leser das unbestimmte Gefühl, als wäre das Abarbeiten dieser letzten zehn Lebensjahre inklusiv der Leitlinien wichtiger als ein kontinuierlicher Handlungsverlauf.  Dabei streift der Autor die Frage, ob bei einem Krieg nicht nur im eigenen Land zur Verteidigung, sondern generell alle teilweise grausamen Mittel erlaubt sind, um die schnell zu allgemein extrapolierten Ziele zu erreichen.

Die Zeichnung der Charaktere und die Handlungsführung sind extrem distanziert, stellenweise stilisiert. Ein erzähltechnischer Fluss kommt genauso wenig auf die eine Identifikation mit den Protagonisten. Damit nimmt sich der Autor in dieser eher als Parabel zu verstehenden Geschichte auch einen emotionalen Spielraum und präsentiert inklusiv einer sehr offen entwickelten Pointe eher eine Art roten Faden für diese Art der historisch mystischen Fantasy Geschichte als eine überzeugende Erzählung.  

 Die drei kürzeren Geschichten können nicht so provozierend unterhalten wie die in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen bis herausragenden Novellen.

„Aufgehalten“ erschien im „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ Oktober/ November 2009.  Sie ist die dritte in einem allerdings wieder eher fiktiven Kambodscha spielende Geschichte dieser Anthologie. Ryman verbindet seine Erfahrungen aus dem asiatischen Land mit der Idee, das es sich möglicherweise um eine Art Traum/ Alptraum handelt. Protagonist ist ein reicher Casino Besitzer in Sihanoukville, der eine Invasion von Außerirdischen miterlebt und zusammen mit dem Rest der Bevölkerung in Bunker unter die Erde flieht. Die Ideen wirken zu bizarr, der Hintergrund zu wenig ausgearbeitet und vor allem die Protagonisten wirken unsympathisch.

 Aus „Interzone“ stammen die letzten beiden Storys. „Herzlichkeit“  ( Oktober 1995) ist die zweitälteste Geschichte. Ein Junge wächst mit seiner mechanischen Nanni auf, während die Mutter für ein Modemagazin arbeitet und später auf Entzug gehen muss. Auch wenn die Beschreibungen der mechanischen, mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Ersatzmutter eher rudimentär sind, beschreibt Geoff Ryman die Atmosphäre zwischen Jugendlichem und Maschine überzeugend. Das Ende ist pragmatisch und vorhersehbar. Seit der Erstveröffentlichung hat der Leser eine Reihe von ähnlichen Geschichten goutiert.

„Geburtstage“ (im Original passt „Birth Day“ doppeldeutiger) ist deutlich provokanter. Der Protagonist beschreibt einzelne Geburtstag seines Lebens zwischen dem ersten Coming Out als Jugendlicher und der Fehlgeburt als Erwachsener, Mutter von insgesamt 15 eigenen und adoptierten Kindern. Dabei handelt es sich um einen Mann. Interessant sind die politischen Zwischentöne. Erst wird Homosexualität mittels einer genetischen Korrektur quasi ausgemerzt, später erfindet der Erzähler eine Möglichkeit, wie sich die männlichen Samen nach dem Geschlechtsverkehr im männlichen Körper sich befruchten und so eine Schwangerschaft quasi im Darm möglich ist.  Der wissenschaftlich biologische Hintergrund bleibt vage. Geoff Ryman geht es in erster Linie um die soziologischen Auswirkungen im Grunde dreier Lebensanschnitte. Das Coming Out mit einer coolen Reaktion der Mutter; die Korrektur der „Krankheit“ Homosexualität und die verzweifelte Suche einzelner nach „Normalität“ und schließlich die Bildung neuer Lebensstrukturen, wobei es anscheinend vor allem noch in Brasilien möglich ist. Die Geburtstage und später die Geburten sind das verbindende Elemente.

"Pol Pots wunderschöne Tochter" ist eine herausragende Sammlung von ungewöhnlichen Novellen, aber auch guten Kurzgeschichten. Ryman verbindet teilweise beißende politische Kritik mit einem märchenhaften Ambiente. Er ist ein stilistisch ungewöhnlich wandlungsreicher, aber auch expressiver Autor. Die Texte sind alle sehr gut übersetzt worden und geben einen ersten Einblick in das exzentrische, aber auch positiv gesprochen gegen den Strom schwimmende Werk Geoff Rymans.

Pol Pots wunderschöne Tochter

  • Herausgeber : Golkonda Verlag; Deutsche Erstveröffentlichung Edition (22. Januar 2014)
  • Sprache : Deutsch
  • Gebundene Ausgabe : 218 Seiten
  • ISBN-10 : 3942396971
  • ISBN-13 : 978-3942396974
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