Clarkesworld 209

Neil Clarke (Hrsg.)

Im Februar setzt Neil Clarke seinen Rückblick auf die potentiellen Preisträger des Jahres 2023 fort. Angesichts von zwölf Titelbildern immer fünf zu nominieren, erscheint wie die Flut von ausgewählten Kurzgeschichten und Novellen fast ein wenig zu viel. Aber diese Auswahl hat Tradition.

Ben Lockwood präsentiert in seinem Essay „Eeriecology“ das Erinnerungsvermögen der Natur und daraus einige Ableitungen für wissenschaftliche Forschung, aber auch Möglichkeiten, die in Science Fiction Texten einzubauen. Ben Lockwood ist ein neues Mitglied des Essayteams, sein Stil ist fließend und sehr lesenswert, ohne das er zu Belehrungen neigt.

Arley Sorg interviewt mit Bogi Takacs und Wole Talabi zwei außeramerikanische Autoren.  Talacs stammt aus Ungarn und spricht nicht nur über die Geschichte seines Landes, sondern  wie sich in seinem Werk Historie und Zukunft verbinden. Wole Talabi ist in Nigeria geboren worden. Er vertritt mit seiner  Art der Science Fiction eine interessante Kombination aus klassisch afrikanischer Kultur, aber auch dem Steampunk. Dazu kommt die Herausgeber einzelner Autoren mit einem Schwerpunkt afrikanischer Autoren, die  bislang nicht in Englisch publiziert haben. Talabi ist allerdings auch Ingenieur und möchte diesen Beruf weiterhin ausüben. Das macht den technischen Ansatz seiner Geschichten überzeugender, zumal er neben dem Schreiben den Kampf gegen die Wasserknappheit als ein wichtiges Element in seinem beruflichen Leben sieht.

Beide Interviews sind wieder sehr ausführlich. Vor allem Wole Talabi kann immer wieder auf die pragmatischen Erfahrungen seiner alltäglichen Arbeit zurückgreifen und antwortet nicht nur beredt, sondern sehr lebhaft.

Insgesamt acht Geschichten- davon eine Novelle -  präsentiert die Februar Ausgabe des „Clarkesworld“ Magazins.  H.H. Pak eröffnet die Nummer mit „Scalp“. Die Menschen sind anscheinend etwas Ambivalentem wie „Bugs“ verfallen. Sie sind in den virtuellen Realitäten gefangen und ihre komatösen Körper werden in speziellen Kliniken behandelt. Auch Babys im Mutterleib sind von dieser seltsamen, aber leider nicht näher definierten Krankheit betroffen, so dass sie niemals die virtuelle Realität verlassen können. Die Geschichte besteht vor allem aus Dialogen des Pflegepersonals. Der Hintergrund ist zu wenig entwickelt, während einzelne Ideen als Extrapolation typischer gegenwärtiger Suchterkrankungen den Lesern schon unter die Haut gehen.

Zohar Jacobs „The Enceladus South Base Named after V.I. Lenin” ist eine Alternativweltgeschichte, in welcher die Sowjetunion eine wissenschaftliche Basis auf den Monden des Saturn errichtet hat.  Der Erzähler ist nicht nur der Leiter der Station, vor allem ist er auch ein treuer Genosse, der als Atheist mit einem religiösen Ausbruch in seiner Crew konfrontiert wird. Millionen von Kilometern von den Genossen im Hauptquartier auf der Erde entfernt.

Geschickt verbindet der Autor den gut recherchierten Hintergrund mit einigen Seitenhieben auf den Kommunismus per se, aber auch die Wohlverhaltensregeln heruntergebrochen von einem Politkomitee, das auf dem Saturn eher ein dunkles Bild aus der Vergangenheit ist.  Zohar Jacobs verzichtet auf eine finale Lösung und stellt die einzelnen Positionen geschickt gegeneinander.

Aus dem Chinesischen übersetzt ist die Novelle „The Peregrine Falcon Flies West“ von Yang Wanqing. Eine junge Frau verlässt ihren Freund, um eine lange Reise zu unternehmen. In den folgenden zehn Jahren ihrer Reise hat ein außerirdischer Mikroorganismus die Erde erreicht und beginnt, die Ökosphäre zu verändern. Die Temperaturen fallen und manchen es für einige Menschen unmöglich, in bestimmten Regionen zu leben. Nach zehn Jahren trifft sie wieder auf ihren ehemaligen Freund.  Dessen Forschung zum Verhalten von Vögeln könnten den Durchbruch bei den Außerirdischen bringen.

Die Geschichte ist nicht in der chronologischen Reihenfolge erzählt. Der Plot springt hin und her. Der Autor  fügt einzelne Informationen aus der Vergangenheit der einzelnen Protagonisten hinzu. Die Geduld zahlt sich aber am Ende aus. Auch wenn die Zusammenfassung einzelne Teile der Geschichte simpel konstruiert erscheinen lässt, ist das Ende stimmig und die Zeichnung der Figuren über die Länge der Geschichte jederzeit überzeugend.

„The Beam Eidolon“ von Ryan Marie Ketterer hat eine Art Überbewusstsein – Geist wäre eine zu einfache Bezeichnung – eines fremden Planeten als Erzähler. Der Geist befindet sich in allen Lebensformen auf dem Planeten und als die Menschen den Planeten hinsichtlich seiner Resourcen ausplündern, beginnt diese Identität Schmerz zu fühlen. Die Geschichte scheint als eine Art mahnende Parabel für jüngere Leser geschrieben zu sein, denn die Menschen sind in Begleitung eines Hundes Jugendliche und viele der mahnenden Beispiele könnten auch heute auf der Erde wichtig sein.

„The Flowers we Intend to Share“ von David Goodman beginnt in einer bizarren fernen Zukunft. Anschließend beginnt der Autor quasi bis in die Gegenwart der Leser zurückschauen. Der Protagonist ist  ein ehemaliges menschliches Bewusstsein, das  sich in einem künstlichen Satelliten befindet. Sei Milliarden von Jahren ist es unterwegs. Zu Beginn der Geschichte beginnt es ein biologisches Abbild seiner Selbst zu erschaffen. Damit erschafft es absichtlich oder zufällig verschiedene Inkarnationen seiner Selbst.

Der Hintergrund der Geschichte erinnert an Olaf Stapledon. Auf nur wenigen Seiten entwirft David Goodman allerdings für die Leser auch herausfordernd einen fremden Kosmos, in  dem sich ein menschliches Wesen befindet, das sich kontinuierlich die Frage stellt, wer er wirklich ist. Was sind seine Wurzeln? Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der Autor allerdings bewegt, da die Frage nach dem Menschlichen zu wenig in den Mittelpunkt der Geschichte gerückt wird, die zu viele Ideen auf wenig Raum zu präsentieren sucht.

„Why Don´t We Just Kill the Kid in the Omela Hole“ von Isabel J. Kim ist eine indirekte Antwort auf Ursula K. Le Guins 1973 veröffentlichte Kurzgeschichte „The Ones Who Walk Away from Omelas“. Es empfiehlt sich, die Geschichte vorher noch einmal gelesen zu haben. Kims Text funktioniert auch ohne diesen Querverweis, macht aber auf diese Art und Weise sehr viel mehr Spass. Kim nimmt eine konträre Position zu le Guin ein und begründet diese auch ausführlich in Form ihrer Geschichte. In der ersten Geschichte stellt sich die Frage, ob  eine Utopie perfekt ist, wenn sie auch nur auf dem Leid eines einzigen Kindes aufgebaut ist. In Kims Storys töten die Rebellen das Kind, bringen Omela den Untergang und warten auf die nächste Chance. Kims Position ist nihilistisch, zynisch, aber soll zum Nachdenken anregen und vielleicht eine weitere Reaktion in Form einer anderen Art von Geschichte heraufbeschwören. Auf jeden Fall ist es interessant, die beiden aus unterschiedlichen Jahrhunderten stammenden Texte gegenüberzustellen und eine eigene Lösung für diesen gordischen Knoten zu finden.

Meghan Feldmans „Lonely Ghosts“ schließt den Februar ab. Eine künstliche Intelligenz – im Gegensatz zu David Goodmans „Menschen“ – lebt seit vielen tausend Jahren auf einem unwirtlichen Planeten. Es kann nur mit einer anderen K.I. auf einem Mond kommunizieren. Vielleicht befinden sich auch irgendwo auf dem Planeten Inkarnationen von zwei Menschen, aber diese Position arbeitet die Autorin zu wenig zufriedenstellend heraus. Die K.I. Charaktere sind überzeugend und dreidimensional, wobei ihre Seelenqualen ein wenig zu stark konstruiert erscheinen. Der Plot ist an sich sehr einfach konstruiert. Die Geschichte ist auch einer der kürzesten Texte, aber am Ende fragt sich der Leser, wie nahe sich dann doch Menschen und K.I. stehen könnten. Für diese Frage reicht die Länge der Geschichte dann nicht mehr aus.

Beginnend mit dem sehr schönen Titelbild präsentiert sich der Februar bei „Clarkesworld“ deutlich stärker. Die einzelnen Storys sind plottechnisch besser herausgearbeitet und die verschiedenen Autoren sprechen eine Reihe von interessanten Themen auf sehr unterschiedliche Art und Weise an. Auch die kürzeren Texte hängen hinsichtlich ihrer jeweiligen Enden nicht so sehr in der Luft, so dass es Spass macht, in der Ausgabe immer wieder zu schmöckern.