Die Geister von Iskenderun

Alexander Röder

Mit „Die Geister von Iskenderun“ liegt der zweite und abschließende Teil des Doppelromans „Der Sultan ohne Namen“ von Alexander Röder in der Reihe Karl Mays magischer Orient vor. Es ist nicht unbedingt notwendig, die bisherigen zehn Romane gelesen zu haben, um sich diesem Text zu nähern. Auch wenn die Geschichten verschiedener Autoren in einzelnen Teilen des Hintergrunds aufeinander aufbauen, sind sie im Allgemeinen alleinstehend. Eine Ausnahme bildet die Tetralogie Alexander Roeders als Einstieg in einen fiktiven Kosmos, in dem Karl May magische Fantasy geschrieben haben könnte und natürlich dieser Doppelband. Ohne die Lektüre des ersten Teils „Die Seelen von Stambul“ ist es unmöglich, der vielschichtigen und vor allem ausgesprochen komplexen Geschichte – auch wenn sich die Grundhandlung in wenigen Worten zusammenfassen ließe – zu folgen.  

Empfehlenswert ist es, im Vorwege auch Alexander Roeders Tetralogie um eine erneute Suche nach dem Schut gelesen zu haben. Während die Geschichten alleinstehend sein mögen, entwickelt sich dieser magische Orient erst beim „Gehen“, bzw. mit dem Erscheinen eines jeden Buches weiter. Das ist vielleicht der größte Unterschied zu Karl Mays Originalgeschichten, in denen vor allem ein erfahrener Kara Ben Nemsi sich nur wenig von den Sitten und Gebräuchen, allenfalls der Hinterlist seiner Feinde überraschen ließ. Im magischen Orient ist es ein wenig anders. In der ersten Geschichte „Im  Banne des Mächtigen“ begegnen Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar und Sir David Lindsay der ersten Magie in  Form eines TARDIS Zeltes – innen deutlich größer als außen und es baut sich von alleine auf – erst nach einem Viertel der Handlung, während der Ausgangspunkt mit der Begegnung mit einem jungen Dieb und die beginnende Suche nach Al- Kadir, dem Mächtigen ein klassisches Karl May Sujet ist.

Im Laufe des Plots beginnt der rationale Kara Ben Nemsi beim Besuch einer Dämonenkult Tempelruine erstmalig daran zu glauben, dass es so etwas wie Magie geben könnte und Al- Kadir eher ein Zauberer denn ein normaler Schurke ist, der sich einem Werkzeugkasten voller Illusionen gegenüber den leichtgläubigen Arabern bedient.

Mit der Duologie „Ein Sultan ohne Name“ hat Kara Ben Nemsi inzwischen vollständig akzeptiert, dass es magische Kräfte gibt und mittels roter Fäden aus dem Nichts heraus seine Freunde und Weggefährten wie normale Menschen zu Marionetten einer ihm bislang unbekannten Macht werden können, die ihnen einen fremden Willen aufzwingt, sie töten lässt und notfalls für die sie auch sterben.

Der erste Teil der Geschichte endete mit einem erfolglosen Kampf gegen den Sultan ohne Namen. Kara Ben Nemsi findet sich in Gefangenschaft wieder und wird aus Istanbul nach Anatolien verschleppt. Allerdings befreit sich sein Geist mit einer gewaltigen Explosion aus den Fängern seiner Häscher, welche die meisten der unschuldigen Karawanenmitglieder tot zurücklässt.  Kara Ben Nemsi hat anfänglich Probleme, sich zu orientieren und „tötet“ den einzigen Überlebenden, der anscheinend mit hinter seiner Entführung steckt. In dessen Kleidern begibt sich Kara zwar in die nächste Siedlung, aber die Jagdhunde der Hayalbas folgen ihm. Nur eine besondere Pfefferart – verabreicht von einem der zahlreichen hilfreichen Geister und Zauberinnen, denen Kara Ben Nemsi bei der jeweils ersten Begegnung nach negativen Erfahrungen skeptisch gegenüber steht – rettet ihn genauso wie Amscha, die aus dem Nichts kommen wie eine Amazone seine Gegner vertreibt.

Amscha ist ja die streitbare, aggressive aber auch furchtlose Mutter von Hanneh, Hadschi Halef Omars Frau und die Tochter von Scheik Malek. Während Amscha im Originalkanon schnell an Bedeutung verliert und nicht mehr nach Kara Ben Nemsis Reise gen Mekka erwähnt wird, rückt Alexander Röder sie als eine von zwei herausragenden Frauengestalten – die andere ist ursprünglich als albanische Freiheitskämpferin angelegte Qendressa – durchaus in den Mittelpunkt der Handlung.

Auch wenn Amscha und Kara Ben Nemsi gemeinsame Ziele verfolgen, agiert Amscha immer im Sinne ihres Stammes und folgt auch stillschweigend den Wünschen ihres Vaters Malek. Das führt zu einigen Missverständnissen und nicht immer kann Kara  Ben Nemsi ihren indirekten Handlungen folgen. So schickt sie einen Vogelmann – einen Narren, den Kara Ben Nemsi in der Wüste aufsammelt – zusammen mit dem betäubten Hadschi Halef Omar zu Kara Ben Nemsi, damit dieser ihm helfen kann, es aber nicht wie eine Flucht aussieht.

Vorher reisen Amscha und Kara Ben Nemsi mitten ins Zentrum der Gefahr, denn der unter dem Bann des  Sultans ohne Namen und einem lebendigen purpurnen Schleier stehende Hadschi Halef Omar hat die einzelnen Stämme versammelt und plant einen grausamen Rachefeldzug. Das Titelbild des vorliegenden Bandes zeigt Hadschi Halef Omar auf seinem hölzernen Thron, auch wenn Kara Ben Nemsis kleiner Begleiter nicht unbedingt gut getroffen ist.

Den ersten Teil der Geschichte zeichnete eine Reihe von unheimlichen, phantastischen und eindrucksvollen Szenen aus. Einer der Höhepunkte war die Kutschfahrt durch eine unwirtliche Landschaft mit dem Bild Istanbuls, am Gängelband von unzähligen roten Marionettenfäden, die alles unter ihrer Kontrolle hatten. Alexander Röder baut auf diesen Bildern auf. Es finden sich allerdings nicht mehr so viele surrealistische Szenen im zweiten Teil des Bandes, denn Kara Ben Nemsi muss nach dem ganzen Reagieren im ersten Handlungsabschnitt die Initiative – meistens alleine – ergreifen, um nicht nur seinen Freund Hadschi Halef Omar zu retten, sondern die Macht des bislang unsichtbar im Hintergrund agierenden, aber scheinbar allgegenwärtigen Sultans ohne Name zu brechen. Hier folgt Alexander Röder auch der Tradition Karl Mays. Wie in den ersten sechs Büchern um den Schut und auch in der eigenen Tetraologie bleibt der eigentliche Gegenspieler unsichtbar. Sein Name wird voller Angst ausgesprochen, aber es kommt zu keiner offensichtlichen Begegnung mit dem Feind. Die Helfershelfer müssen ausgeschaltet werden. Bei Alexander Roeder handelt es sich zusätzlich  um Freunde, die unter den magischen Bann gefallen sind, während bei Karl May der Schut über eine Vielzahl lokaler Verbrecher verfügte, aus denen natürlich der Mübarek herausragte.          

“Aber Murat selbst gab mir Preis, dass ich als Teil der Seelen Stambuls gelte, weil ich dem Orient verbunden bin und andere mit ihm verbinde: all jene, die meine Abenteuer lesen. Sie tragen mit ihren Gedanken ihrerseits zu dem umfassenden Bildnis bei”  (Seite 326). Bezeichnend ist zusätzlich, dass sich die Geister von Iskenderum als in einer anderen Welt eingeschlossene Forscher, Wissenschaftler und einen Bibliothekar namens Wolfgang Thadewald entpuppen. Sie sind nicht mit den roten Seelenfäden dem Sultan ohne Namen angeschlossen, ihre Fäden sind grün.  Alexander Roeder hat den in Hannover lange Zeit lebenden Wolfgang Thadewald schon einmal kurz nach seinem Tod in Karl Mays magischen Kosmos übertragen und dem bekennenden Jules Verne Fan/ Sammler ein literarisches Denkmal gesetzt. In seiner Studenten Höhle ähnelt Wolfgang Thadewald auch hinsichtlich der Kleidung und des Bartes dem Franzosen. 

 Kara Ben Nemsi muss auf seiner finalen Mission - in diesem Doppelband - nicht nur wieder in eine andere Welt treten, sondern der Sultan ohne Namen entpuppt sich als Mann mit verschiedenen Gesichtern. Es gibt allerdings während dieses Showdowns auch zwei Besonderheiten. Zum Einen wird Kara Ben Nemsi stellvertretend für den Leser mit der möglichen Identität seines Feindes überrascht. Der Sachse hat ihn schon zweimal im Laufe dieses Doppelbandes mit einem Schuss ins Herz getötet. Alexander Röder liefert für diese Tatsache eine fast schnöde Erklärung hinter, die höflich gesprochen unmagisch ist. Zum Anderen ist der Sieg über den Sultan ohne Name nicht unbedingt ein Sieg der Magie, übernatürlicher Kräfte, auch wenn Kara Ben Nemsi in letzter Sekunde - nicht zum ersten Mal in dieser Geschichte - einen Schutzengel zur Seite bekommt. Alexander Röder lässt seinen Protagonisten fast in Anlehnung an den Steampunk vermuten, dass sich einfach die “Maschine” überladen hat. Ein fast profanes Bild angesichts der apokalyptischen Szenen, denen sich Kara Ben Nemsi auf seiner Kutschfahrt durch die Höhle über Stambul mit tausenden von herabhängenden roten Fäden stellen musste. Zumindest verzichtet Alexander Röder auf Science Fiction Implikationen und führt seinen Roman wieder an den Anfang zurück. Ganz an den Anfang des Karl Mays Kosmos mit dem Ritt “Durch die Wüste”. 

So weit will es Thomas le Blanc allerdings nicht kommen lassen. Er hat einen umfangreichen Epilog geschrieben, in welchem sich Quendressa nach Auflösung ihrer Doppelehe und Kara Ben Nemsi nicht nur geistig, sondern auch körperlich näher kommen. Zwei Jahre nach dem Ende von Alexander Röders Geschichte kehren sie noch mal nach Iskenderum zurück und besuchen den Palast des Sultans ohne Namen.  Quendressa will das Haus gar nicht betreten, auch wenn es im Grunde notwendig wäre, um ein weiteres Geheimnis zu erkunden. Aber Thomas le Blanc beendet die Geschichte auf einer offenen Note und widerspricht damit ein wenig dem Hauptautoren dieses Doppelbandes. Zusätzlich deutet Thomas le Blanc mindestens zwei weitere Abenteuer an. Einmal die Reise von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar in den vergangenen zwei Jahren und ein weiteres, zukünftiges Abenteuer mit der attraktiven und nicht auf den Mund gefallenen, aber über keine Hexenkräfte mehr verfügenden Quendressa und Kara Ben Nemsi. Beide Geschichten sollten in den nächsten Romanen des Reiseschriftstellers erzählt werden. 

 Alexander Röders “Der Sultan ohne Namen” präsentiert sich im direkten Vergleich zu seiner Auftakt-Tetralogie in der perfekten Länge. Die vier ersten Romane wurden inhaltlich teilweise ein wenig in einzelnen Sequenzen gestreckt, damit alle vier Bücher den gleichen Umfang hatten. Auch die beiden Teile dieses Doppelromans  weisen fast die gleichen Seitenzahlen auf, aber die Geschichte verfügt über deutlich mehr Tempo, auch wenn die zugrundeliegende Handlung komplexer und vielschichtiger ist.   

 Auch wenn Alexander Röder gegen Ende der Geschichte zwei fast irdische Erklärungen in seine Geschichte einfügt, dominieren die magischen Ideen. Dem Leser wird ein breites Spektrum präsentiert. Beginnend mit den mehrfach angesprochenen Marionettenfäden, an denen der Sultan ohne Namen fast alle wichtigen Männer des Vorderen Orients kontrolliert und nur auf den richtigen Moment für den Aufstand wartet. Ein Mann und eine Frau, die Kara Ben  Nemsi Manna reichen, dessen  winzige Portion einen Mann sättigt und kräftigt, während ihr Zelt scheinbar bewegungslos große Strecken zurücklegt. Kara Ben Nemsi kann nicht sagen, ob sie geflogen oder direkt über den Boden geschwebt sind. Auf jeden Fall schrumpft mit deren gütiger Hilfe eine Reise von Tagen auf Stunden zusammen und bringt den Helden viel schneller als das Ziel seiner finalen Konfrontation. Vier Höllenhunde, groß und gefährlich aussehend, welche Kara Ben Nemsi im Palast des Sultans ohne Namen einschließen, während dieser die Ebene wechselt und den Geistern von Iskenderum begegnet. Halef willenlos in dem lebendigen purpurnen Tuch, gewoben aus besonderen Fäden und jetzt eine weitere Marionette, die droht, andere bislang befreundete Stämme zu überfallen und auszurotten. 

Wie die erste Hälfte dieses Doppelromans setzt Alexander Röder magische Momente effektiv ein.  Kara Ben Nemsi hat deren die Exiet  die Existenz von Magie inzwischen akzeptiert, auch wenn er mit seinen bisherigen bodenständigen Fähigkeiten an seine Grenzen kommt und mehrmals in letzter Sekunde von Hexen, Zauberern oder übernatürlichen Wesen gerettet werden muss. Auch während der finalen Konfrontation mit dem Sultan ohne Namen ist Kara Ben Nemsi eher ein kommentierender Beobachter, als dass er den Sieg in den eigenen Händen hält. Alexander Röder hält für diese Sequenz eine bekannte Figur in der Hinterhand, welcher der Leser mehrfach in den bisherigen Teilen des magischen Orients begegnet ist. 

Einen großen Teil der Geschichte nimmt die Reise zum neuen Despoten Hadschi Halef Omar in sein Lager, dessen Ausschaltung und schließlich Entführung zwecks Heilung ein. Schnell lässt sich argumentieren, dass es verboten ist, einen der wichtigsten Protagonisten - Hadschi Halef Omar - zu töten. Aber der Tod ist sowieso in Karl Mays magischem Orient eher relativ. Unabhängig von der Ambivalenz eines echten und ewigen Todes fehlt einem wichtigen Teil des Romans durch das exzentrische, aber auch vertraute Szenario eine unterliegende Spannung. Im direkten Vergleich mit der Hadschi Halef Omar Ebene ist die finale Konfrontation mit dem eigentlichen Antagonisten, dem Sultan ohne Namen, fast ein Randeffekt. Aber auch in den ersten sechs Bänden des ursprünglichen Orient Zyklus dauerte die Suche nach dem Schut länger und war komplizierter als der finale Sieg über den Erzschurken. 

“Der Sultan ohne Namen“ ist – wie mehrfach angesprochen – inhaltlich eine der bisher besten Geschichten in Karl Mays magischen Orient und es empfiehlt sich, „Die Seelen von Stambul“ und „Die Geister von Iskenderum“ als einen Roman zu lesen.

 

Die Geister von Iskenderun: Der Sultan ohne Namen - Teil 2 Karl Mays Magischer Orient, Band 11

  • Herausgeber ‏ : ‎ Karl-May-Verlag (1. März 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 440 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3780225115
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3780225115
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