Die Republik der Diebe

Scott Lynch

Erst sechs Jahre nach „Red Seas under Red Skies“ veröffentlichte Scott Lynch den dritten Teil seiner wahrscheinlich sieben Romane umfassenden Locke Lamora Serie „The Republic of Thieves“. Die Gegenwartshandlung schließt an den Cliffhangar des zweiten Bandes der Serie an, während auf der Vergangenheitsebene mehr über Lamoras erste Liebe berichtet wird. So unterhaltsam kurzweilig der Roman auch geschrieben worden ist, setzt er sich aus einer Reihe bekannter Versatzstücke zusammen, die modern und archaisch zugleich erzählt werden. Problematisch ist vielleicht, dass im letzten Drittel des Buches Locke Lamoras Identität weiter aufgehellt und die Idee eines Fantasy- Doktor- Frankenstein eingeführt wird,  der möglicherweise unbewusst Teile seines Bewusstseins in den Körper des damals jugendlichen Diebes auf der Suche nach ewigen Leben transferiert hat. So bizarr und hinsichtlich des komplexen Mythos auch originell diese Idee auch erscheinen mag, insbesondere in enger Kombination mit dem bis dahin geradlinigen Handlungsgeschehen und der Idee, dass zwei Diebesgruppe eine wichtige Wahl mit unterschiedlichsten Methoden zugunsten der jeweiligen Partei entscheiden sollen, wirkt diese Szene aufgesetzt und bringt die Handlung mit zahllosen Fragen nicht nur der direkt oder indirekt beteiligten Protagonisten zum Stehen.

Es ist wichtig, die Betrachtung des umfangreichen Buches mit der Vergangenheitsebene anzufangen. Locke wird mehr und mehr zu einem perfekten Dieb ausgebildet, wobei seine Überlebenschancen angesichts der drakonischen Strafen – auf Diebstahl steht der Tod durch öffentliches Erhängen – gering sind. Er verliebt sich in die ältere Beth, die ihm nicht nur mehrfach hilft, sondern zumindest im Geheimen seine Gefühle erwidert. Um die Lehre abzuschließen, sollen sie sich in eine benachbarte Stadt begeben und dort sich als Theatertruppe unter der Leitung eines erfahrenen Managers etablieren und seinen Weisungen folgen. Das aufzuführende Stück heißt „Die Republik der Diebe“. Nicht nur die Reise ist schwierig, sondern an Ort und Stelle erfahren sie, dass der Intendant einen Adligen geschlagen hat. Und deswegen sitzt er voraussichtlich nicht nur ein Jahr im Gefängnis, anschließend wird ihm die Hand abgeschlagen. Die einzige Chance der Diebe ist es, den Adligen davon zu überzeugen, dass der Schlag nicht absichtlich gewesen ist und ihn wieder zum Mäzen der Truppe zu machen. Obwohl auch in der Gegenwartsebene eine Herausforderung auf Locke wartet, wirkt die Vergangenheitsebene kompakter und interessanter. Lockes Persönlichkeit bildet sich genau wie die Freundschaft zu Jean intensiver aus. Die Aufgabe erinnert teilweise weniger an George R. R. Martins „Game of Thrones“ Serie, sondern an die Slapstickkomödien der dreißiger Jahre allerdings unterlegt mit einem ernsten Hintergrund. Vor allem hat sich im Laufe der letzten sechs Jahre der Fokus verschoben. Während Locke in den ersten beiden Abenteuern immer der glückliche, vielleicht manchmal aber auch unrealistische Sieger gewesen ist,  wächst er im vorliegenden Abenteuer aus seinen Niederlagen heraus. Scott Lynch hat zugegeben, dass die ersten beiden Teile der Serie aus seinem Drang heraus, eine Geschichte neben seinen beruflichen Herausforderungen zu erzählen, entstanden sind. Beim Schreiben des vorliegenden dritten Teils agierte er nicht nur das erste Mal als professioneller Schriftsteller, er musste mit der Erwartungshaltung der Fans fertig werden. Das führte zu Depressionen, einer Schreibblockade und schließlich auch zu einer öffentlichen Bekenntnis, warum das Projekt nicht weiter fortschritt. Nach dem hoffentlich endgültigen Überwinden der Krankheit hat Scott Lynch den Band mindestens zur Hälfte umgeschrieben und das Endergebnis präsentiert sich trotz der zahlreichen, exotischen dreidimensional beschriebenen Abenteuer reifer, abgerundeter und deswegen auch emotional ansprechender. Und das liegt nicht nur daran, dass Locke durch die Höhen und Tiefen seiner ersten Liebe schreiten muss. Natürlich ist es ein schwieriger Gang, einen bislang nicht selten aus dem Hintergrund voranschreitenden Charakter plötzlich fehlerhaft, verletzlich und damit auch angreifbar zu beschreiben. Aber ebenso interessant ist, dass die Wurzeln dieses Wandlungsprozess am Ende von „Red Seas under Red Skies“ gelegt worden sind. Lockes großartiger Plan scheitert und er bleibt vergiftet zurück. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Gift seinen Körper vollständig eingenommen hat. In der Vergangenheitsebene muss Locke mit dem Tod seiner gleichaltrigen Mitdiebe fertig werden und am Ende der kurzzeitigen Theaterkarriere steht ein Tötungsdelikt, wobei der betroffene Adlige es verdient hat. Dumm ist nur, dass niemand dem einfachen Volk glauben wird und das auf den Tod eines Adligen automatisch ohne Frage nach Motiv oder Ablauf der Tod steht. Wie schon angedeutet ist die Vergangenheitsebene geradliniger aber nicht weniger interessant. Der grundlegende Plot ist komplex und kompliziert zugleich. Unterschiedliche Interessen müssen miteinander verwoben und Lockes/ Beths Auftrag darf dabei nicht zu früh aufgedeckt werden. Der Höhepunkt mit den ersten Aufführungen der „Republik der Diebe“ entspricht ohne Frage Filmen wie „Der Clou“, in denen der Weg interessanter als die abschließende Auflösung ist. Während dieser Teil von Lockes Erziehung und Entwicklung am ehesten nach dem alten Locke entspricht, wirkt die Gegenwartsebene deutlich reifer, nuancierter und vor allem emotional zufrieden stellender mit einem bittersüßen Schuss Humor und zwei Meistern im gegenseitigen Hereinlegen. Die emotionale Beziehung zwischen Locke und seiner einzigen Liebe ist der rote Faden, der die politisch eher ambivalent und stellenweise zu stark konstruierte politische Rahmenhandlung zusammenhält. Beide erfahren von ihren anscheinend sehr, aber nicht allmächtigen Auftraggebern, wer der mehr oder minder willige Helfer an Ort und Stelle ist. Ihre Aktionen, die Wahl zu gewinnen, steigern sich von Situation zu Situation. Verführung inklusiv Entführung ist der erste Schlagabtausch, wobei hier Scott Lynch eine „Deus Ex Machina“ Lösung mit dem Stranden des Schiffs braucht, um Locke und seinen besten Freund im Spiel zu halten. Bestechung – ein opportunes Mittel nur in einer Pattsituation, wie dem überforderten Locke vorgerechnet wird – ist der Gegenschlag. Dabei liegen und betrügen sich die beiden inzwischen gereiften, aber doch irgendwie innerlich noch kindischen Menschen. Der Unterschied – immerhin sind mehr als fünf Jahre zwischen den beiden Handlungen vergangen – hätte nachhaltiger herausgearbeitet werden können. Insbesondere Lockes einzige Liebe durchläuft eine zu ambivalente Wandlung und offenbart zu wenig ihrer Vergangenheit. In die Ecke getrieben und im Grunde das Spiel, aber nicht die Frau verloren zu haben, entpuppt sich die letzte Wendung als Enttäuschung. Der Leser erfährt sehr viel mehr über Lockes Hintergrund, aber wie schon angesprochen wirkt der Versuch, eine dem Leser bislang unbekannte Persönlichkeit und ihre egoistischen Motive hinter Lockes unfreiwilliger Maske zu etablieren, untergräbt den bisher in der Tradition eines dunklen Alexandre Dumas gehaltenen Plot mit seinem „Indiana Jones“ Tempo. Nicht nur seine Liebe ist enttäuscht und verstört, die Beziehung zum Leser geht ein wenig verloren. Während der Cliffhangar zwischen dem und zweiten und dritten Buch als Ausgang eines vielschichtigen Abenteuers mit hohem Tempo akzeptiert werden kann, verweigert Scott Lynch dem Leser zu früh zu viele relevante Informationen und steuert zu offensichtlich auf den vierten Band hin. Diese Konstruktion erscheint rückblickend genauso schwach wie die Grundidee, Locke an einem langsamen Gift sterben zu lassen. Niemand glaubt wirklich, das dieses traurige Ereignis eintreten könnte und die einzige Frage ist, welchen Preis Locke an die Lohnmagier zahlen muss. Dieser erscheint angesichts des eher ambivalenten Auftrags und vor allem dem Faktum, dass Lockes Leben auf jeden Fall gerettet ist, nicht nur akzeptabel, sondern großzügig. Vielleicht fehlt den Rückblenden noch die Passage, in denen Locke von dieser besonderen Söldnermagiergruppe hinters Licht geführt worden ist, um dessen Skepsis und sein grundsätzliches Misstrauen besser einordnen zu können. Während die anfänglich bekannten Mechanismen gut umgesetzt worden sind, leidet das Ende wie schon angesprochen an der Ambivalenz, die vor allem zu vielen Klischees des Fantasy- Genres folgend nicht nur zu einem ausgesprochen talentierten, aber bodenständigen Dieb macht, sondern ihn aufgrund seiner angedeuteten Herkunft zu entscheidenden Spielball in einem gigantischen, um die Macht ringenden Konflikt macht. Das ist zu viel des Guten und nimmt dieser Figur die Leichtigkeit, die Fritz Leiber seinen beiden wichtigsten Fantasy- Figuren in vielen Geschichten einhauchen konnte.  

Während der gereifte Locke bis auf die Auflösung am Ende – sie entzieht einer Figur ohne Vergangenheit auch ihre Legende und macht sie damit natürlich auch noch verwundbarer – als Charakter überzeugen kann, kümmert sich Scott Lynch noch mehr um den Freundeskreis in Vergangenheit und Gegenwart. Er bietet jedem Charakter eine große Szene an und über diese Vorgehensweise definieren sie sich trotz des Umfanges des Romans und der zahlreichen Anta- und Protagonisten zufrieden stellend. Wie schon angesprochen funktioniert diese Vorgehensweise in Kombination mit dem hohen erzählerischen Tempo und des weiterhin an eine Mischung aus Fantasy- und Mittelalterwelt  erinnernden Hintergrundes sehr gut, so dass „Die Republik der Diebe“ – der fiktive Titel lässt sich ohne weiteres auch auf Lockes Welt übertragen – trotz der angesprochenen Schwächen vor allem vor dem extrem schwierigen Entstehungsprozess als würdige, gereifte Fortsetzung der Lebenslügen des Locke Lamoras gesehen werden kann. 

 

 

  • Taschenbuch: 944 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (14. April 2014)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453531949
  • ISBN-13: 978-3453531949
  • Originaltitel: Republic of Thieves
Kategorie: