Hotel zum verunglückten Bergsteiger

Arkadi und Boris Strugatzki

Aus dem Werk der Gebrüder Strugatzki ragt der phantastische Krimi „Hotel zum verunglückten Bergsteiger“ in verschiedener Hinsicht heraus. Es fehlt über weite Strecken das sozialkritische Element, der Eulenspiegel gegenüber der russischen Gesellschaft. Stattdessen finden sich an einem isolierten Ort eine Reihe von exzentrischen Charakteren, natürlich isoliert durch eine Lawine. In dem Hotel findet schließlich auch ein „Mord“ statt. Inspiriert scheint die ganze schließlich ausufernde Geschichte eher vom Musical „Rocky Horror Picture Show“ als einem klassischen Krimi. Auch Blatty „Twinkle, Twinkle, Killer Kane“ – die Buchvorlage und weniger die interessante Verfilmung – springt zum Vergleich ins Auge, auch wenn Blattys Buch einige Jahre später entstandenen und das Szenario inklusiv eines Verbrechens in eine Irrenanstalt verlegt. Je länger der Polizeiinspektor Peter Glebski als Mittler zum Leser nach dem Täter sucht, desto verschachtelter wird der Plot. Es gibt mehr und mehr Verdächtige, ohne das der Leser deren Motive oder gar Vorgehensweise nachvollziehen kann. Am Ende könnte der Ermittler auch der Täter sein und sich ein Kreis schließen. Die Faszination des Werkes liegt vor allem in den exzentrischen Charakteren, beginnend mit dem Wirt der in einem abgeschiedenen Tal gelegenen Pension, welche den Namen „Hotel zum verunglückten Bergsteiger“ von einem tödlichen Unfall erhalten hat, der sich vor einiger Zeit in den Bergen abspielte. Der ums Leben gekommene Tourist scheint aber als Geist weiterhin durch die Hallen zu spuken. Polizeiinspektor Peter Glebski möchte eigentlich in dem kleinen Hotel nur zwei Wochen Urlaub machen und auf Ski die Pisten heruntersausen. Von Beginn an wird er lange vor dem Verbrechen in den Bann der einzelnen Figuren gezogen. Neben dem allgegenwärtigen Wirt und seiner drallen jungen Gehilfin Kaia lernt der Leser relativ schnell die einzelnen anderen Gäste kennen. Dabei reicht das Spektrum vom Klassiker bis zum Exzentrischen. Am Ende des Romans, wenn viele der „Masken“ fallen, ist der Leser verblüfft, das er nicht auf diese Möglichkeit gekommen ist.

Das Millionärsehepaar Moses bildet den Auftakt. Moses rennt immer mit einem Krug herum, aus dem nur er trinken darf. Seine hübsche wie junge Ehefrau ist eine Nymphomanin, die nach allem schaut, was nicht bei drei auf den natürlich Schnee bedeckten Bäumen ist. Der Ingenieur Simon Simonet scheint anfänglich der zugänglichste Charakter zu sein. Ruhig, fast scheu verbirgt er in seiner ängstlichen Art etwas vor seinen Mitmenschen. Auch seine Motivation, an diesen abgeschiedenen Ort zu reisen, wird von Peter Glebski kaum herausgefunden. Charismatisch, fast laut ist der Illusionist du Barnstoker, der sich auch für die ersten Streiche mit plötzlich auftauchenden Pantoffeln; einem leeren Badezimmer, in dem heißes Wasser läuft oder andere Hinweise auf ein Wiederauftauchen des toten Bergsteigern verantwortlich zeichnet. Du Barnstoker steht im Grunde für die Scheinwelt, für die alltägliche Illusion. Er ist ein natürlicher Verdächtiger. In seiner Begleitung ist ein Kind – wobei die Strugatzkis diesen Begriff ambivalent benutzen -, dessen Geschlecht weder an seinem Namen Brun noch an seiner Art und Weise, sich zu geben, wirklich zu erkennen ist. Es ist vielleicht auch die Figur, die am schwierigsten zu charakterisieren ist, denn in einer der Schlüsselszenen macht sich ein Erwachsener offensichtlich in sexueller Absicht an ihn/sie heran. Am Abend des ersten Tages kommen nach der Anwalt Filin Hinkus und Olaf Andvarafora hinzu. Der Anwalt leidet anscheinend an einer eingebildeten Lungenkrankheit. Er ist ein Trinker. Den ganzen Tag sitzt er in seinem Pelzmantel eingeschlagen auf dem Dach das Hotels mitten im Schnee. Es sind eindrucksvolle und rückblickend auch wichtige Bilder, welche die Strugatzkis mit dieser exzentrischen Charaktersammlung gleich zu Beginn zeichnen. Der Fokus liegt so sehr auf Stimmungen und Charakterisierungen, das der Leser den schleppenden Beginn der Handlung gar nicht wahrnimmt. Nach einem gemeinsamen Fest als typisches Klischee des gesellschaftlichen in erster Linie britischen Kriminalromans wird Olaf Andvarafora natürlich tot auf seinem Zimmer aufgefunden. Da inzwischen das Tal durch eine Lawine vom Rest der Welt abgeschnitten worden ist, muss Inspektor Glebski die Ermittlungen aufnehmen. Im Zimmer des Toten gibt es auch den ersten Hinweis darauf, dass die Strugatzkis eben keinen klassischen Kriminalroman schreiben wollte, sondern durchaus eine phantastische Science Fiction Geschichte im Sinn gehabt haben. Es ist ein technisches Gerät unbekannter Herkunft und vor allem nicht erkennbarer Nutzungsmöglichkeiten. Wer sich intensiver mit dem Werk der beiden russischen Brüder beschäftigt, wird diese Idee aus einigen anderen ihrer Romane wie „Picknick am Wegesrand“ kennen und den ersten Hinweis verstehen. Allerdings haben die beiden Autoren so viel Vergnügen, diese vagen roten Spuren wieder dank der so unterschiedlichen möglichen Täter wieder in der Masse schwinden zu lassen, so dass sie erst sehr spät sich ins Mosaikstück einpassen. Hinzu kommt, dass in letzter Sekunde eine weitere Persönlichkeit vor der Tür auftaucht. Ein einarmiger Mann Luarvik L. Luarvik kommt unterkühlt und erschöpft in dem Haus an. Er will unbedingt Olaf Andvarafora sprechen, ohne das er ihn schon einmal kennen gelernt hat oder ihn gar identifizieren kann.        

 Die Strugatzkis wollten mit ihrem phantastischen Krimi wahrscheinlich weniger einen klassischen „Who done it“ erzählen, sondern drehen mit einer bizarren, aber hinsichtlich möglicher „First Contact“ Geschichte nicht uninteressanten Wendung den Plot noch einmal auf den Kopf. Hier werfen sie eine Reihe von Fragen auf, welche sich der Leser auch stellen könnte. Alleine das Ende wirkt überstürzt, im Grunde fast alle Spuren vernichtend und teilweise zu pragmatisch. Dass das Verbrechen vielleicht gar kein Verbrechen im eigentlichen Sinne ist, wird eher beiläufig abgehandelt. Sehr viel spannender ist der Mittelteil des Buches. Glebski macht sich als Beamter pflichtschuldigst, aber auch angesichts seines Urlaubs ein wenig widerwillig an die Ermittlungen und kommt schließlich verschiedenen Tätern auf die Spur. Alleine ist es kein Mörder darunter, sondern die Scherze hinsichtlich möglicher Geistererscheinungen des abgestürzten, den Namen des Hotel begründenden Bergsteigers; dem labilen Gesundheitszustandes des eine Waffe tragenden Hypochonders und schließlich der Verführung offensichtlicher Minderjähriger fassen wie ein perfektes Puzzle ineinander und beginnen sich schnell hinsichtlich ihrer Absichten, aber vor allem auch Ausführung zu negieren. Mit Glebski zusammen hat der Leser stetig das Gefühl, mehr und mehr nicht nur in den Schneemassen – je isolierter das Haus erscheint, um so anheimelnder wird die Atmosphäre – zu versinken, sondern einem bizarren surrealistischen Karneval der Eitelkeiten zu folgen, in dessen Mittelpunkt eher ein platzierter Mord geschehen ist. Da alle Figuren ausgesprochen dreidimensional, aber in der Masse auch satirisch unrealistisch gezeichnet worden sind, erscheint es fast folgerichtig, wenn sich eine Person selbst begegnet und nach Ausschaltung aller kräftigen Tatverdächtigen im Grunde der Kommissar sich selbst beschuldigen muss, um überhaupt noch einen potentiellen Verdächtigen zu haben. Jede ihm gegebene Aussage scheint ein Widerspruch in sich zu beherbergen. Es ist fast schade, wenn sich dieses Schattenkabinett einer fiktiven Gesellschaft am Ende durch die Öffnung des Passes und dem Eintreffen der örtlichen Polizei in buchstäblich alle Himmelsrichtungen zerstreut. Es bleibt aber die Frage zurück, warum  eine gewisse Assimilation so perfekt erfolgt ist, während andere früher entstandene Texte unter anderem von Hal Clement doch exotischer erschienen sind. Man mag nicht alle Erklärungen der Autoren wirklich nachhaltig glauben. Vielleicht gehört diese zum vorliegenden kriminalistischen Schelmenroman, den die beiden russischen Brüder in der Frühzeit ihrer Karriere lange vor den gesellschaftskritischen und deswegen auch lange Zeit verbotenen späteren Arbeiten immer mit einem Augenzwinkern niedergeschrieben haben.

Es ist ein eher unbekanntes, aber nicht grundsätzlich nicht etwa schlechtes Werk der beiden Russen, das aber gewöhnungsbedürftig ist und sich sehr viel Zeit lässt, um den eigentlichen Plot zu entwickeln. Der Leser sollte sich mehr von den Stimmen und Stimmungen einfangen lassen, um die Geschichte als Ganzes genießen zu können. Dann warten erstaunlich unterhaltsame Lesestunden auf ihn.     

Hardcover

  • Taschenbuch: 201 Seiten
  • Verlag: Verlag Volk und Welt (1973)
  • ASIN: B001TA4JJI