Charlie Chan vor verschlossenen Türen

Charlie Chan vor verschlossenen Türen, Titelbild, Rezension
Earl Derr Biggers

“Keeper of the Keys” ist der sechs und letzte Charlie Chan Roman aus der Feder Earl Derr Biggers. Ein Jahr nach der Veröffentlichung 1933 verstarb Biggers.  Im Gegensatz zum fünften Abenteuer „Charlie Chan carries on“ ist der chinesische Detektiv nicht nur von Beginn der Handlung an als wichtiger, allerdings auch privat ermittelnder Polizist dabei, sondern auf der ersten Seite begegnet Charlie Chan zum ersten Mal in seinem Leben Schnee.  Er ist wie einige andere Gäste in die Region um den Lake Tahoe eingeladen worden. 

Bei allen Gästen und dem Gastgeber handelt es sich um Lebensgefährten bzw. Ehemänner einer berühmten Sängerin.  Der Gastgeber möchte herausfinden, ob das Gerücht wahr ist, dass er Vater ihres Sohnes ist. Anscheinend ist die Diva während der letzten Wehen ihrer Ehe schwanger gewesen und hat es ihrem Mann verschwiegen. Nach der Geburt hat sie den Jungen zu Pflegeeltern gegeben. Inzwischen sind 20 Jahre vergangen.  Um den Abend mit den ehemaligen und aktuellen Liebhabern noch interessanter zu gestalten, hat der Gastgeber Ward die Diva ebenfalls eingeladen.

Earl Derr Biggers kann vorgeworfen werden, dass er spätestens mit dem sechsten „Charlie Chan“ Roman eine gewisse Formel  sich zu eigen gemacht hat.  Es handelt sich fast immer um eine isolierte Gruppe, unter denen sich der Mörder befindet. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Geschehen wie hier in einem mondänen Landhaus – eingeschneit, aber nicht isoliert – spielt oder es sich um eine damals noch sehr exotische Gruppe von reichen Weltreisenden handelt oder der Plot ausschließlich auf Hawaii spielt. Die Gruppe der Verdächtigen ist immer „überschaubar“ und wird auch in keinem der sechs Romane erweitert.  Alle Mitglieder der Gruppe könnten ein Motiv haben, wobei nicht selten diese Motive aus der teilweise gemeinsamen Vergangenheit heraus resultieren.

Es findet immer ein Mord statt. Nicht selten wird auch eine unsympathische Figur ermordet. In diesem Fall ist es natürlich die Diva, nachdem sie während des ersten Abends zumindest die meisten ihrer ehemaligen Ehemänner, ihren sie pilotierenden Geliebten und ihren neuen jugendlichen Freund wieder getroffen  oder die Männer entsprechend mitgebracht hat.

Dieser ersten Tat folgt in allen Charlie Chan Romanen mindestens ein zweiter Mord. Nur in „Charlie Chan carries on“ werden nach und nach die einzelnen Mitglieder der Reisegruppe ermordet.  In vier der sechs Romane sind die beiden Morde die einzigen gegenwärtigen Verbrechen, im zweiten Abenteuer kommt auch noch eine Entführung hinzu.

Auch wenn es sich um Charlie Chan Abenteuer handelt, ermittelt der kleine Chinese niemals alleine. Vor allem in den ersten Büchern dient er als Resonanzkörper der nur vordergründig erfahrenen Beamten sowohl auf Hawaii als auch bei Scottland Yard. In allen Büchern ist es aber schließlich Charlie Chan, der den Täter zur Strecke bringt. In allen Romanen werden die überlebenden potentiellen Verdächtigen quasi an einem Fleck – es muss nicht immer ein Raum sein – zusammengebracht, damit Charlie Chan entweder direkt oder indirekt durch eine absichtlich anfänglich falsche Verdächtigung den Täter überführen kann.  Wie bei Sherlock Holmes füllt er schließlich die Indizienkette auf.

Körperliche Gewalt spielt nur selten in den Charlie Chan Romanen eine Rolle.  Tragisch ist, dass in „Charlie Chan carries on“ der in der Reisegruppe mitreisende Scottland Yard  Inspektor dem Täter auf die Spur kommt und erschossen wird. Erst dadurch übernimmt Charlie Chan passend auf Hawaii den Fall. Charlie Chan wird einmal niederschlagen oder wie im vorliegenden Roman ist er Opfer einer Verwechselung, aber meistens geht es um eine intellektuell getriebene Überführung des Täters.

Die Romane bestehen in erster Linie aus pointierten, sehr gut geschriebenen und dank Charlie Chans kryptischer Bemerkungen ironisch originellen Dialogen. Charlie Chan verhört alle Verdächtigen. Aus ihren Äußerungen und mehrfach wie im vorliegenden Fall Aufzeichnungen wird das abschließende Puzzle zusammengesetzt. 

Auch wenn immer wieder ein Schema verwandt worden ist, sind die Charlie Chan Romane durch die in erster Linie der gehobenen Gesellschaft angehörenden potentiellen Verdächtigen, auf welche der im übertragenen Sinne Proletarier Charlie Chan mit seinem nur vordergründig devoten Verhalten trifft, sehr unterhaltsam. Teilweise bis zur Karikatur entlarvt Biggers diese elitäre „Elite“ als heimtückisch, neidisch, falsch, verlogen und bei mindestens einem innerhalb der Gruppe auch zu zahlreichen Verbrechen beginnend bei Diebstahl und endet in allen Romanen bei Mord fähig. Das macht auch den Reiz dieser Bücher aus. Auf der einen Seite sind die Abläufe der Leser inzwischen bis auf den mehrfach angesprochenen „Charlie Chan carries on“ so vertraut, dass er sich auf die Ermittlungen konzentrieren kann.  Auf der anderen Seite aber sind die zugrundeliegenden Fälle trotz der angesprochenen Schemata so unterschiedlich, dass es wirklich Spaß macht, dieser Lektüre zu folgen.   

Auch wenn „Keeper oft he Keys“ alle angesprochenen „Klischees“ bestätigt, ragt der Roman in mehrfacher Hinsicht auch aus der „Charlie Chan“ Serie heraus. Es fehlen die verschiedenen rassistischen Exzesse. So scheint der alte chinesische Diener des Hausherrn der einzige in Frage kommende Mörder zu sein. Alle „Beweise“ sprechen gegen ihn. Wie Sherlock Holmes lässt Charlie Chan für den Leser überraschend Milde vor Gerechtigkeit walten, um ihm nächsten Schritt  dann über die Verhältnisse gerade zu rücken. Sherlock Holmes hat mehrmals Schuldige nicht der Bestrafung zugeführt, da sie entweder aus nachvollziehbaren Motiven heraus gehandelt haben oder ihre „Bestrafung“ schon von der Geschichte durchgeführt worden ist. Biggers ist in dieser Hinsicht unerbittlich. Wenn am Ende Charlie Chan wegen weiterführenden Fragen – er will kein Geheimnis im Dunkeln lassen – angegriffen wird, dann zeigt das, wie minutiös der Fall literarisch vorbereitet und schließlich auch stoisch zu Ende geführt wird. 

Das erste Opfer und der Täter bilden in dieser Hinsicht auch eine Überraschung. Die Identität des Täters, sein Motiv und schließlich die Hintergründe der Tat werden noch einmal relativiert und ein anderer Fokus auf den Mordabend gelegt. Die weltberühmte Sängerin ist lange Zeit als eine Art Diva dargestellt worden. Ihre Memoiren und einige Aussagen bestätigen diesen Eindruck nicht. Auch der Grund, warum sie ihren Sohn vor seinem Vater versteckt hat, wird erst am Ende des Buches klar. Die sehr detaillierte, wenn nicht sogar teilweise penible Zeichnung der einzelnen Figuren macht diese Wendung der Ereignisse nicht nur nachvollziehbar, sondern auch verständlich.

Earl Derr Biggers hat aber noch eine weitere Idee in den Plot eingebaut. Charlie Chan greift zum ersten Mal wie Sherlock Holmes auf die Wunder der Wissenschaft zurück und lässt die beiden möglichen Tatwaffen miteinander vergleichen. Anfänglich skeptisch und nicht unbedingt davon überzeugt gelangt Charlie Chan zumindest zur Überzeugung, dass die Wissenschaftler/ Techniker seine Gedankenspiele positiv begleiten können. Biggers macht aber auch deutlich, dass der Chinese ohne diese Unterstützung den Mörder gefunden hätte.  

Wie bei fast allen Charlie Chan Geschichten ist die Liebesgeschichte ein romantisches wie schwaches Element. Im vorliegenden Roman verliebt sich der junge Polizist- sein Vater ist blind und scheint Charlie Chan eher kontinuierlich als ehemaliger Ermittler unabsichtlich auf falsche Spuren zu lenken -  in eine Angestellte im Haushalt. Charlie Chan hat am Ende wie immer beste Wünsche für das neue Paar. Interessanter ist der Konflikt zwischen der Hausangestellten und ihrem Mann, der als Pilot die Sängerin durch die Welt geflogen hat und phasenweise auch während ihrer Ehe schon mit der Diva fremdgegangen ist. Für einen Roman aus den dreißiger Jahren sind die außerehelichen Beziehungen vielleicht nicht offensiv beschrieben worden, aber sie sind deutlich erkennbar.

Die Wendungen auf den letzten Seiten sind wie erwähnt stärker ausgeprägt als bei den bisherigen Charlie Chan Romanen. Eine Identifikation des Täters ist wie bei den fünf Vorgängern für den Leser nicht vor dem Detektiv möglich. Es werden zwar dieses Mal keine Hinweise versteckt, aber das Verbrechen  ist durch eine zweite „Tat“ überdeckt worden.  Diese Dualität basierend auf bedingungsloser Treue ist für die Reihe neu und macht den Fall sehr viel interessanter als es anfangs den Eindruck macht. Biggers folgt aber in einem Punkt seiner bisherigen Linie.  Da es sich um Ex Ehemänner, aktuelle und ehemalige Geliebte sowie deren Anhang und schließlich ihr Personal handelt, kommt jeder im Grunde in Frage.  Nur ist der Täter immer derjenige, mit dem Charlie Chan am meisten spricht, ohne ihn direkt zu verdächtigen.

Ein würdiger, leider durch Biggers frühen Tod fast abrupter Abschluss einer der heute noch unterhaltsamen Kriminalserien, die durch die zahllosen sehr lockeren Adaptionen mehr in den Bereich der Krimi Farce gerückt worden ist.  

  • Broschiert Taschenbuch
  • Heyne Verlag, 224 Seiten
  • ISBN-10: 3453106628
  • ISBN-13: 978-3453106628
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