Die erste Kooperation von Jack McDevitt und Mike Resnick basiert auf McDevitts gleichnamiger, schon 2010 in "Lightspeed" veröffentlichter Kurzgeschichte. Im Gegensatz zur Vorlage haben die beiden Autoren der grundlegenden Plot nicht nur überarbeitet und erweitert, sondern geschickt in andere Richtungen gelenkt. "Das Cassandra Projekt" ist ein paranoider Verschwörungsthriller, der auf Gewalt und Brutalität verzichtet. Weiterhin könnte man - hier vergibt insbesondere Jack McDevitt eine riesige Chance - den Plot ohne Probleme in seine Alex Benedict Serie einordnen. Ein Geheimnis, das durch einen Zufall der Vergangenheit entrissen worden ist. Eine Verschwörung des Schweigens; vage Hinweise, die sich konkretisieren; ein Wettlauf in diesem Fall weniger mit der Zeit, sondern einen nicht böswilligen Konkurrenten; eine langwierige Suche, die sich auf eine Reihe von Augenzeugen konzentriert und schließlich eine Expedition zum Ausgangspunkt, der im Vergleich zu den Alex Benedict Romanen "nur" zum Mond führt. Wie Jack McDevitt beste Romane präsentiert "Das Cassandra Projekt" eine Handvoll von sympathischen Figuren, von denen der exzentrische Milliardär trotz seiner Arroganz im Verlaufe des Romans nicht nur dem ehemaligen Pressesprecher der NASA sympathisch wird. Im Gegensatz zu vielen Paranoiathrillern ist die amerikanische Regierung per se nicht schuldig. Wenn selbst ein umstrittener Präsident wie Nixon - auch Watergate wird aus einem gänzlich anderen Blickwinkel betrachtet - in diesem Abenteuer überzeugend rehabilitiert wird, dann zeigt das schon, wie weit das Misstrauen gegen die gegenwärtige amerikanische Politik aufgeweicht worden ist. Viel wichtiger ist, das am Ende des Buches die Entscheidungen Nixons nachvollziehen kann. Zwar wirkt der implizierte Brückenschlag zur Religiosität ein wenig konstruiert und selbst der gegenwärtige amerikanische Präsident Cunningham sieht große Chancen für Fehlinterpretationen, aber der Leser muss sich vor Augen halten, das Nixon sich in den späten sechziger Jahren zu einer Zeit des kalten Krieges - nur in diesem Punkt nicht - entscheiden musste, ob er einen nicht unerheblichen Teil der Menschheit schockieren sollte oder nicht. Bis zu dieser Entdeckung, die deutlich überzeugender und interessanter ist als in den letzten Alex Benedict Romanen, ist "Das Cassandra Projekt" ein über mehrere, gut zusammenlaufende Handlungsebene funktionierender realistischer Thriller, der nahe der Gegenwart angesiedelt worden ist. Das Buch ist so dynamisch und spannend geschrieben, das der Leser wie die Protagonisten vergisst, dass das "Cassandra Projekt" eine Art Parallelprojekt gewesen ist, dessen Titel immer wieder erwähnt, dessen Bedeutung aber nicht aufgedeckt wird.
Der Roman setzt mit einem Fehler ein. Die inzwischen zur Bedeutungslosigkeit verdammte NASA gibt einen Teil ihrer Archive anlässlich ihres Jubiläums frei. Während einer Pressekonferenz wird dem NASA Sprecher Jerry Culpepper eine Aufzeichnung vorgespielt. Es handelt sich um die Funkgespräche einer der beiden Apollo Missionen, die als Vorbereitung der Mondlandung durch Amstrong im Frühjahr 1969 den Mond umflogen haben. Der Astronaut berichtet Houston, das er in das Landemodul in der Front der Kapsel steigt. Die Bodenstation wünscht ihm viel Glück. Sollte nicht Neil Amstrong der erste Mensch auf dem Mond gewesen sein? Culpepper weist diese Spekulationen von sich. Aber kaum ist die potentielle Büchse der Pandora geöffnet, findet er selbst Unstimmigkeiten. 50 Stunden lang ist nur einer der Astronauten über Funk zu hören. Ein Augenzeuge meldet sich, der nach der zweiten die eigentliche Landung vorbereitenden Mission einen Astronauten an Bord des sie nach der Rückkehr aufnehmenden Flugzeugträgers gesehen hat, der stolperte und aus dessen Beutel Steine gefallen sind. Das deutet auf eine zweite Landung auf dem Mond vor Amstrong hin. Bald steht Culpepper zwischen weiteren eher indirekten Beweisen wie Tagebuchaufzeichnungen und der Möglichkeit, das die NASA und die amerikanische Regierung unter Mithilfe der Russen ein gigantisches Geheimnis mehr als fünfzig Jahre verschwiegen hat. Und der Möglichkeit, dass die beiden geheimen Apollo Missionen auf dem Mond etwas gefunden haben. Der relativ ehrliche Culpepper kündigt schließlich seinen NASA Job, als er merkt, dass ihm mehr verschwiegen wird als er selbst ahnt. Der amtierende amerikanische Präsident dagegen erhält Druck vom Milliardär Morgan "Bucky" Blackstone, der in einer privat finanzierten Operation fünfzig Jahre nach Amstrong wieder auf dem Mond landen möchte. Obwohl Culpetter und Blackstone gleichzeitig versuchen, hinter das Geheimnis zu kommen, finden sie nur Bruchstücke. Der "neutrale" Leser ist der einzige Zeuge, der über alle Informationen verfügt. Den Leser auf Augenhöhe des Geschehens zu halten ist die große Stärke des Romans. Bis auf einige Kapitel, die mit einem kleinen, verzeihbaren Cliffhanger enden, verfügt niemand über mehr "Fakten" als der Leser. Das gilt selbst für den amerikanischen Präsidenten, der ebenfalls eher Verschwörungsopfer als Täter ist. Das gilt bis zur Auflösung, deren endgültigen Abschluss der Leser allerdings einen Moment nach dem Präsidenten zusammen mit dem Milliardär Blackstone erfährt, der den letzten Schritt vom medienaffinen All American Big Boy zum Amateurpolitiker macht. Nachdem ihm ein letztes Mal in einer eher unnötig überzogenen Anspielung auf Sherlock Holmes die Politik eine Nase gedreht hat.
Wie schon angesprochen ist die Handlung des Romans sehr gut konstruiert. Die verschiedenen Hinweise fügen sich nur mit sehr viel Geschick zu einem komplexen Puzzle zusammen. Bis weit in die zweite Hälfte des Buches könnten sie noch unterminiert werden. Es gibt keine stichhaltigen Beweise und alle präsentierten Fakten sind verschiedentlich interpretierbar. Diese ambivalente Stimmung macht „Das Cassandra Projekt“ zu einem besonderen Lesevergnügen, das sich positiv von den Alex Benedict Geschichte abhebt, da Mike Resnick und Jack Mcdevitt so viel wie möglich in der dem Leser vertrauten Geschichte belassen. Sie haben nur die Namen der Astronauten an Bord von Apollo 9 und 10 ausgetauscht. Ebenfalls verlagert wurde der erste Test der Mondlandefähre während der Mission von Apollo 9 aus dem erdnahen Orbit in eine Umlaufbahn um den Mond, während Apollo 10 tatsächlich in 14 Kilometern Mondentfernung den „Eagle“ testete. Aber diese Diskrepanzen zur tatsächlichen Raumfahrtgeschichte fallen allerhöchstens Experten auf und werden sehr gut in die temporeiche, aber nicht auf Klischees zurückgreifende Handlung eingebaut.
Neben der gut zu lesenden Handlung sind es aber die dreidimensional gezeichneten Figuren, welche „Das Cassandra Projekt“ zu einem sehr empfehlenswerten Roman machen. Auch wenn der Verzicht auf Schurken und keinerlei körperliche Bedrohung der immerhin an einem amerikanischen Geheimnis bohrenden Helden auf den ersten Blick verblüffend erscheint, passt es sehr gut zum im Mittelabschnitt mit Culpeppers Suche nach einem neuen Job und zahllosen Seitenhieben auf die ausschließlich kommerziell orientierten Verlage und die Exzentrik zahlloser Autoren etwas zu komödienartig erscheinenden Roman.
Im Mittelpunkt steht Jerry Culpepper. Er ist zu Beginn ein alleinstehendes Arbeitstier, das mit Elan und Freude als „Gesicht“ der NASA fungiert und versucht, das wenig aufregende restleben der amerikanischen Weltraumbehörde interessant zu gestalten. In der ersten Hälfte des Buches wird er mehr und mehr zu einem Opfer von Umständen, die er nicht zu vertreten hat. Niemand hat den Informationsausfluss kontrolliert und noch weniger konnte sich jemand vorstellen, dass ein Funkgespräch über weniger als eine Minute seine Welt zusammenbrechen lässt. Culpepper ist eher ein Gewohnheitstier, denn ein charismatischer Held. Ein Mann, der sich durch das Zurückhalten von Informationen in seiner Ehre gekränkt fühlt und weniger als falschen Ehrgeiz, denn Pflichterfüllung das Geheimnis des Jahres 1969 gegen alle Widerstände in der eigenen Behörde aufklären möchte. Die Erfahrungen in der Welt der Verlage sind eher eine interessante Satire denn eine Charakterentwicklung und fairerweise geht Culpepper im letzten Drittel des Buches im Schatten des Milliardärs Blackmorgan förmlich unter. Er wird eher zu einer Art Dr. Watson degradiert, was dieser Figur nicht gut bekommt.
Bucky Blackmorgan dagegen ist ein typischer arroganter Unternehmer, der alles mit positiven Einschränkungen dafür tut, um seine Ziele zu erreichen. Er heuert und feuert seine Angestellten mehrmals am Tag – ein Running Gag -, zeigt sich knausrig bei Belohnungen und hinterfragt jede ihm gegenläufige Bewegung in der ihm verhassten politischen Szene. Auf der anderen Seite ist er ein Macher, der seine Mittel zielstrebig, aber auch mutig einsetzt. Der privat finanzierte Flug zum Mond mit einem ausgesprochen modernen Raumschiff, das weniger an die Space Shuttles oder gar die Apollo Eagles erinnert, stellt für ihn in mehrfacher Hinsicht einen Lebenstraum dar, den er ohne Frage später kommerziell ausnutzen wird. Anfänglich eine Art Poltergeist in der versnoppten Gesellschaft wandelt sich die Figur nicht zuletzt nach einem Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten und wird zu einem abgerundeten Charakter. Resnick und McDevitt versuchen die Figur anfänglich nicht zu negativ zu beschreiben. Seine Motivationen über die kapitalistischen Erfolge hinaus sind klar umrissen. Während Culpepper sich wegen der Verschleierungstaktik in seiner Ehre gekränkt fühlt, schlägt Blackmorgan liebend gern zurück und sucht seine “Gegner“ auf dem endlosen Feld der Geschäfte bloß zu stellen. Blackmorgan verfügt über die Art von teilweise sehr simplen Machocharme, der Culpepper gänzlich abgeht.
Das Trio von mehr oder weniger einflussreichen Männern rundet der amerikanische Präsident Cunningham ab. Anfänglich bei der Bevölkerung sehr beliebt drohen ihn die Räder der Verschwörungsfanatiker zu zermalmen, obwohl er selbst – es will ihm nur niemand glauben – über keine Informationen verfügt. Resnick und McDevitt kritisieren seine vorgeschobenen humanitären Informationen, aber die seit vielen Jahren blühende Liebe zu seiner Frau, seine Liebe zu alten Filmen und schließlich seine im Grunde fehlende ehrgeizige Rücksichtslosigkeit machen ihn zu einem sehr menschlichen Präsidenten, der wie alle anderen wichtigen Protagonisten am Gängelband der Geschichte hängt. Immerhin hat er es geschafft, alle Atomwaffen aller Nationen zu verbannen. Am Ende erscheint als langer Schatten aus der Zeit des kalten Krieges noch Richard Nixon, der wie seine Mitarbeiter zum Wohle des ganzen Erdballs die Sünderrolle übernommen hat. Diese Wendung wirkt bizarr, reiht sich aber in die fast devote Pflichterfüllung aller Zeitzeugen der ersten beiden „Landungen“ ein, denen der Leser zusammen mit den Protagonisten auf der Suche nach der „Wahrheit“ hinter den offiziellen Verlautbarungen begegnet. Vielleicht wirkt das Auffinden des „einzigen“ nachhaltigen Beweises ein wenig zu stark konstruiert, das Versteck auf offenen Feld, ohne dass jemand über fast eine Generation den Wunsch des Ex- Präsidenten ignoriert sowie neugierig nachgeschaut hat und der Informationsträger gegen alle Wahrscheinlichkeiten noch funktioniert, zu offensichtlich, aber diese reinigende Katharsis tut dem ganzen Roman auch gut.
Nicht zuletzt wegen der handlungstechnischen Stringenz bei mehr als fünfhundert Seiten Umfang- ein positiver Einfluss Mike Resnicks, dessen Bücher immer sehr kompakt sind – überzeugt „Das Cassandra Projekt“ nicht nur inhaltlich, sondern auf der Charakterebene. Es ist einer der besten Jack McDevitt Romane seit vielen Jahren mit nicht nur einer Figur, die an Alex Benedict erinnert, sondern drei sehr konträren Männern auf ihrer Suche nach der historischen Wahrheit, welche im Umkehrschluss die Verantwortung mit sich bringt, auch mit ihr leben zu müssen.
- Verlag: Bastei Lübbe
- 2013
- Ausstattung/Bilder: 2013. 510 S. 186 mm
- Seitenzahl: 509
- Bastei Lübbe Taschenbücher Nr.20729
- Altersempfehlung: ab 12 Jahre
- Deutsch
- Abmessung: 185mm x 123mm x 40mm
- Gewicht: 490g
- ISBN-13: 9783404207299
- ISBN-10: 3404207297
- Best.Nr.: 36770225