Clarkesworld 128

Clarkesworld 128, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke leitet die Mai Ausgabe mit einem weiteren Hinweis auf sein neues Leben als freischaffender Magazinherausgeber ein. Dabei geht er auch auf den fehlenden Durchhaltewillen im Markt sowohl auf der Herausgeber als auch Autorenseite ein, wobei nicht jeder eine Frau hat, die unbedingt in den Beruf zurück möchte und die Löcher in der Haushaltskasse stopft. Viel interessanter ist A.M. Dellamonicas "The Elizabeth Effect", in dem die Autorin erläutert, dass in einem begrenzten Rahmen jede Geschichte in der Theorie eine neue "Parallelwelt" erschafft. Das Beispiel ist eine bislang fiktive Darstellung der Beerdigungszeremonien nach dem Tod der momentan noch amtierenden britischen Königin, veröffentlicht als Fortsetzungsartikel in "The Guardian". Mark Cole greift auf die Kindheitsalpträume der meisten Leser dieses Magazins zurück, wenn er in "Cut, Fold and Conquer the Universe: The best Models in the Galaxy" nicht nur über die spärlichen Baukastensätze zu populären Filmen in den siebziger  und achtziger Jahren schreibt, sondern einen besonderen Schwerpunkt auf die Papiermodelle legt, die es nicht zuletzt dank des Internets inzwischen in einer akzeptablen Hülle und Fülle gibt.

Chris Urie spricht mit der Autorin Aliette de Bodard vor allem über ihre Science Fantasy Serie mit Wasserdrachen und einem auf vietnamesischen Wurzeln basierenden Reiches, das nach außen strebt. Es ist ein lesenswertes Gespräch, in dem Chris Urie nicht nur über den Tellerrand hinausschaut, sondern vor allem auch verschiedene Antworten de Bodards aufnimmt, um ihr Werk ausführlicher vorzustellen.  

"Clarkesworld 128" besteht aus zwei längeren Nachdrucken.  Kage Baker hat mit "Running the Snake" vor einigen Jahren die Alternativweltkriminalanthologie "Sideways in Crime" eröffnet. Es ist eine stimmungsvolle, in einer Alternativversion des Shakespeare´schen Englands spielende phantastische Geschichte, deren Kriminalelemente solide in den eher Science Fantasy mäßigen Hintergrund eingebaut worden ist.

Will Shakspur soll zu einem Druiden ausgebildet werden. Die Druiden mit ihren Doktrinen beherrschen England. Als Shakspur den Versen der Druiden eigene Kompositionen hinfügt, muss er fliehen. Er gerät in die Fänge eines Kults, der gottähnliche Statuen opfert, während der Schwiegersohn der amtierenden Königin ermordet wird. In einer der wenig originellen Wendungen der Geschichte soll Shakspur den Mörder finden. Kage Baker gelingt es nicht zuletzt wegen ihrer geschickten Nutzung von Akzenten und pointierten Beschreibungen, dieses alternative England zum Leben zu erwecken. Der Kriminalfall an sich klar strukturiert, wobei Kage Baker sich weniger auf die eigentliche Fußarbeit konzentriert, sondern Shakspur quasi die Erkenntnis schenkt, ohne das diese Wendung für den Leser aus reiner Logik nachvollziehbar ist. Wie alle von Kage Bakers Kurzgeschichten und Romanen ist die Handlung stilistisch ausgesprochen ansprechend, vor allem auch akzenttechnisch zeitgemäß verfasst worden. In einem direkten Vergleich mit ihrer "Company" Serie als roten Faden durch ihr ganzes Werk fokussiert sie sich in dieser Alternmativweltgeschichte auf eine gänzlich andere Epoche und nutzt nur eine durch den Namen erkennbare Figur, um ihre Handlung zu erzählen. Sie verzichtet auf die Interaktion zwischen der Gegenwart des Lesers und den Veränderungen in der Vergangenheit.  

 Der zweite Nachdruck ist die 1972 entstandene Kurzgeschichte „The Man who Walked Home“ von James Tiptree jr. Schon in den siebziger Jahren stand James Tiptree jr. dem technischen Fortschritt vor allem in einem direkten Vergleich mit dem intellektuellen Rückschritt der Menschen skeptisch gegenüber. Major John Delgano hat sich als Freiwilliger gemeldet, um eher mittels einer Übertragung als einer tatsächlichen Reise weit in die Zukunft geschleudert zu werden. Kaum ist er aufgebrochen, geht die menschliche Zvilisation impliziert in einem weiteren Weltkrieg unter und Delgano führt eine Art Schattendasein. Er taucht immer wieder als „Geist“ zu einer bestimmten Zeit auf. Auf der einen Seite beschreibt die Autorin die erneute gestartete Evolution der in die Steinzeit zurück geworfenen Menschheit, während auf der zweiten Handlungsebene Delgano eher ohne Kontrolle verzweifelt versucht, seine Gegenwart wieder zu erreichen. Stilistisch eindrucksvoll, mit staken visuellen Bildern und mit nur wenigen Strichen dreidimensional gezeichneten Protagonisten ragte der Text zur ursprünglichen Zeit seiner Veröffentlichung schon aus der Masse der Kurzgeschichten heraus, was für die Gegenwart genauso gilt.

 Vier längere Texte sind in diese Mai „Clarkesworld“ Ausgabe Erstveröffentlichungen. Den Reigen eröffnet Nick Wolves mit „Streams and Mountains“. Die Ausgangslage ist interessant. In dieser Zukunft können sich Menschen entscheiden, eine genetische Veränderung in Richtung Neandertaler vollziehen zu lassen und wieder wie ihre Vorfahren anscheinend in abgegrenzten Gebieten zu leben. Die Protagonistin Mary erfährt, dass eine dieser Behandelten schwanger ist. Ein Widerspruch zu den bisherigen Forschungen.

Nick Wolves versucht eine originelle Idee in der tiefsten Bedeutung des Wortes zu zerreden. Der Handlungsbogen ist klar und die Botschaft, dass selbst die künstlich initiierte Evolution ihren Weg geht, von den ersten Zeilen an zu erkennen. Anstatt aber diesen Kontext in einen stringenten Handlungsrahmen zu packen und die Ansätze entsprechend zu extrapolieren, wird über mehrere Seiten im Grunde nur debattiert und abschließend zu wenig gehandelt. Nick Wolves möchte alle Flanken ansprechen. Bei einem Roman ist das legitim und Ronbert W. Sawyer hat das zum Beispiel in seiner Trilogie um den intelligenten, aus einer Parallelwelt stammenden „Zwischenmensch“ exzellent vor allem auf der soziologischen wie sozialen Ebene exzellent getan. Aber Nick Wolves hat bei einer Kurzgeschichte nicht diesen Raum und vor allem muss er seinen Lesern auch Antworten anbieten. Alles wirkt eher ambivalent und angerissen, aber gedanklich zu wenig vollendet. Selbst die Figuren sind eher konstruiert als vielschichtig gelebt worden, so dass „Streams and Mountains“ in der vorliegenden Form unvollendet erscheint und deswegen wahrscheinlich nicht unbedingt seine Leser anspricht.

 „Baroness“ von E. Catherine Tobler nimmt den Faden auf, den James Tiptree jr, in ihrer hier nachgedruckten Story zu exzellent gesponnen hat. Nur sind es bei Catherine Tobler zwei Figuren, die nicht mehr nach Hause finden können und im Gegensatz zu Tiptrees John Delgano reisen sie auch nicht durch die Zeit, sondern durch die Tiefen des Alls.  Die beiden Figuren werden einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterworfen, wobei die technischen Hintergründe eher ambivalent beschrieben werden. Die Charaktere werden – wie es sich für derartige Storys gehört – verschiedenen Herausforderungen unterworfen, wobei insbesondere das Training der einen Figur ihre Traumata zu überdecken beginnt. Stilistisch eher modern und stellenweise sprunghaft geht Tobler insbesondere in einem direkten Vergleich zu beispielsweise James Tiptree jr. bei ihren Figuren nicht sonderlich in die Tiefe. Gegen Ende zeigt sie allerdings mit einem gewagten, aber erfolgreichen Bogenschlag, das aus Verzweifelung und tiefer Trauer auch eine „neue“ Mission entstehen kann, die im Umkehrschluss ihren Figuren Hoffnung schenkt. Es ist eine ambitionierte Kurzgeschichte, deren Facetten aber eher in einer Novelle hätten ausgebaut werden können und vielleicht auch müssen. 

 Die längste Geschichte der Sammlung „We Who Live in the Heart“ von Kelly Robson ist eine dieser Novelle, die inhaltlich wie von der handlungstechnischen Struktur her erstaunlich ambitioniert sind, auch wenn sich die Autorin wie in der folgenden Story von Tang Fei auf zutiefst humanistische Themen bezieht. Die Menschen haben nur zwei Alternativen. Auf der einen Seite das aus der Science Fiction bekannte Motiv einer unterirdischen Zivilisation als Fluchtpunkt der Menschen, die hierarchisch dominant als Diktatur aufgebaut worden ist. Den Bewohnern werden in diesem geordneten, reglementierten Leben keine Freiheiten zugestanden. Die Alternative ist phantastischer und erinnert auch ein weniger an Farmers grandiose „Moby Dick“ Hommage. Auf der Oberfläche können die Menschen in gigantischen an Wale erinnernde Kreaturen leben. Sie können die inzwischen unwirtlichen Verhältnisse an der Planetenoberfläche überleben und geben den Menschen wie der Titel impliziert buchstäblich in ihrem Inneren in einer Art unvollständiger Symbiose Schutz. Die Protagonistin Ricci trifft die Entscheidung, unter der Oberfläche zu fliehen und diese Kreaturen aufzusuchen zu Beginn des sich über einen langen Zeitraum abspielenden Plots. Im Laufe der Handlung wird Ricci zu einem Symbol der neuen Freiheit, die bis tief in die sozialen Schichten reicht, obwohl ihr Ambiente herausfordernder und ohne Frage auch gefährlicher ist. Der Leser muss einzelne Aspekte der Geschichte als Fakten anerkennen und nicht wissenschaftlich hinterfragen. An anderen Punkten bleibt der Hintergrund seltsam oberflächlich und vor allem nicht ausreichend genug entwickelt, während vor allem die Figuren und die stetigen Herausforderungen einen überzeugenden Schwerpunkt bilden. Obwohl der Handlungszeitraum weit aus der Gegenwart, der ersten Flucht in die Zukunft reicht und obwohl gleichzeitig ein neues soziales System in einem lebenden Organismus erschaffen werden muss, verfügt die Novelle über ein zufrieden stellendes erzähltechnisches Tempo und sehr viele kleine Ideen, die nach und nach gegen Ende verschmelzen.     

 Aus dem Chinesischen stammt die Geschichte „The Person who Saw Cetus“ von Tang Fei. Es ist eine wunderbare Geschichte um Familie und das Aufrechterhalten der Traditionen selbst gegen alle Logik. Es ist auf der einen Seite eine optimistische Story, da die Protagonistin nicht nur ihren Wunsch, sondern auch die Ideale ihres Vaters aufrechterhält und tatsächlich zu den Sternen fliegt. Es ist eine kleine Familiensaga, die immer auch ein wenig am Rande des Kitsches funktioniert. Der Vater der Protagonistin ist ein Performance Künstler. Nicht einmal ein guter, aber ein leidenschaftlicher Magier und Zauberer. Sein letztes gigantisches Kunststück ist faszinierend wie schockierend zu gleich. Es ist der dunkle Höhepunkt dieser Story. Auf der Parallelebene verfolgt man die Ausbildung der Erzählerin zur Astronautin. Auch wenn Vater und Tochter anscheinend keine offensichtliche Beziehung haben, schenkt er ihr viel mehr als man erwarten darf. Nicht nur die Fähigkeit zu Träumen, sondern vor allem eine Vision, auf der aufbauend alles möglich erscheint. Ihr ganzer Flug wird irgendwie impliziert und ohne Kitsch von seinem Geist begleitet, auch wenn der Leser nur einmal seine Worte, seinen letzten Brief lesen kann. Er selbst taucht als Person immer und überall auf, ist er niemals wirklich greifbar. Wie in vielen chinesischen Geschichten wird ein sehr breiter Bogen gespannt, der plötzlich wie aus dem Nichts zusammenläuft und in einem zufrieden stellenden, in diesem Fall atypischen Höhepunkt mündet. Es ist eine sehr humanistische Science Fiction Geschichte, deren zugrunde liegende Idee wirklich zeitlos ist und positiv keine Utopie darstellt, sondern aus einer gewissen Lebenserfahrung heraus geschrieben sinnbildlich für uns alle erscheint.

 „Clarkesworld 128“ ist eine der besten Ausgaben des bisherigen Jahres. Neben den beiden überzeugenden Nachdrucken sind es vor allem Kelly Robsons originelle Novelle sowie die ergreifende chinesische Geschichte, welche dieser Herz neben originellen Ideen oder Ausführungen ein Herz schenken.