Luna

Luna, Ian McDonald, Rezension, Titelbild
Ian McDonald

Ian McDonald hat sich in seinen letzten Romanen mit den Unterschieden zwischen dem technologischen Fortschritt in der heutigen teilweise zweiten oder dritten, in seiner Zukunft aber ersten Welt sowie dem intellektuellen Standesdünkel der entsprechenden Kulturen auseinandergesetzt.

Mit „Luna“ als erstem Buch eine Trilogie geht der britische Autor einen Schritt weiter und verlegt den Plot einfach in eine wirklich herausfordernde Umgebung: den Mond. Damit folgt der Autor der Tradition, die Robert A. Heinlein in seinem Buch „Der Mond ist eine herbe Geliebte“  angerissen hat. Eine unwirtliche Umgebung, gebändigt durch den nicht zu unterdrückenden Geist der Arbeiterklasse und schließlich von Konglomeraten bedroht. In Robert A. Heinleins Buch sind es die auf der Erde agierenden Konzerne, welche die Mondbewohner schließlich zum Freiheitskampf zwingen. Ian McDonald hat dagegen den Hintergrund seiner Geschichten vergleichbar George R.R. Martins „Game of Thrones“ Serie sehr viel differenzierter entwickelt.  Selbstironisch hat Ian McDoonald davon gesprochen, dass er eine Art „Dallas in Space“ verfasst hat. Auch diese Idee ist grundsätzlich nicht falsch, wobei die Intrigen am Ende des Buches in einer handfesten, den Gegner auslöschenden Mentalität gipfeln, die bei der amerikanischen Fernsehserie in dieser Form nicht zu finden ist. Aber noch in einem anderen Punkt erinnert das Ausgangsszenario an bekannte Plots. Im Grunde erzählt Ian McDonald auch eine klassische Westerngeschichte nur auf die unwirtliche Oberfläche des Mondes versetzt. Es ist nicht nur ein Generationenkonflikt, sondern der Kampf um die Vorherrschaft wie er früher zwischen den Cowboys und den Farmern herrschte. Der Leser wird keine Indianer finden, aber auch keine Kavallerie, da die Ordnungskräfte von Beginn an mit allen Konflikten überfordert sind und die feudalistische Gesellschaft McDonalds Wert darauf legt, die Probleme selbst opportunistisch aus dem Weg zu schaffen und das Gesicht zu wahren.    

Wer in dieses ausgesprochen komplexe und zu Beginn der Geschichte durch die zahlreichen Figuren auch ein wenig verwirrende Universum eintauchen möchte, der braucht nicht unbedingt mit diesem Roman zu beginnen, sondern kann auf die ein Jahr vorher – 2014 – veröffentlichte Novelle „The Fifth Dragon“ zurückgreifen.  Es handelt sich vor allem um die Geschichte der jungen Adriana Corta, die schließlich auf dem Mond einen fünften Konzern, den fünften „Drachen“ mit eigenen Händen erbaut. Dieser Handlungsbogen findet sich auch im Mittelteil des vorliegenden Buches wider. Der Wechsel auf die Ich- Perspektive für diesen Rückblick ist anfänglich verwirrend, rückblickend aber auch effektiv, weil durch ihre lange, sehr persönliche wie tragische Geschichte sich der Leser eher dieser auf der einen Seite bodenständigen Arbeitergesellschaft nähern kann, die auf der anderen Seite durch die Entwicklung eigener sozialer Strukturen und der allgegenwärtigen Nutzung der 3 D Drucker auch mindestens befremdlich erscheint.

Schon im August 2014 hat Ian McDonald davon gesprochen, dass er den Stoff auch in Hinblick auf eine mögliche Fernsehserie angegangen ist. Kurz nach Erscheinen des ersten Buches ist die ganze Trilogie an eine Produktionsfirma verkauft worden.  Ian Mcdonald hat ohne Frage einen Gegenentwurf zu der angesprochenen Fantasy Serie „Games of Throne“ im Hinterkopf gehabt, als er mindestens diesen ersten Band bis zum dramaturgisch geschickten, dunklen Höhepunkt und Cliffhanger verfasst hat. Auf dem Fernsehschirm werden insbesondere zu Beginn die einzelnen, aber dramatisch zusammenlaufenden Handlungsbogen klarer voneinander abgegrenzt präsentiert und die zahlreichen Protagonisten nicht nur durch die Positionierung in ihren jeweiligen Stammbäumen erkennbarer.

McDonald entwickelt den Hintergrund seines Universums im Verlaufe der Handlung. Er beginnt seinen Plot mit einem Paukenschlag.  Jugendliche rennen nackt und ohne Schutzanzüge durch das Vakuum des Mondes von einer Schleuse zur nächsten. Es ist eine Art Männlichkeitsritual, auch wenn Männer und Frauen daran teilnehmen.  Lucasinho ist der jüngste Sohn der Corta Familie, der fünften Drachendynastie. Ihm wird bei dem Mondlauf von Mitgliedern einer anderen Familie geholfen, so dass er keinen Schaden erleidet.

Bevor die eigentliche Handlung mit einer Reihe von Attentaten und politischen Irrungen/ Wirrungen einsetzt,  ist es sinnvoll, sich dem Hintergrund der Geschichte zu nähern. Der Mond ist seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten die letzte große industrielle Herausforderung der Menschheit.  Teilweise mit Unternehmergeist sowie Mut haben sich vor vielen Jahren vier Familien oder besser Clans teilweise mit asiatischen Wurzeln angesiedelt.  Die australischen MacKenzies kontrollieren den Abbau der Bodenschätze, die Asamoahs aus Ghana bauen die Nahrungsmittel in ihren gigantischen unterirdischen Höhlen an. Die Russen Vorontsovs dominieren das Transportsystem und die Söhne  Chinas beherrschen die andere Technik. Aus Brasilien stammen die Cortas. Sie haben mittels eines Tricks die Produktion von Helium- 34 aufgenommen, das auf der Erde die Fusionsreaktoren antreibt. Alle Familien unterliegen der Kontrolle der Lunar Entwicklungsgesellschaft.  Dabei ist die Gerichtsbarkeit teilweise ambivalent und wie in Frank Herberts „Dune“ kann es zwischen den Abgesandten der einzelnen Familien zu Zweikämpfen kommen, deren Ausgang bindender ist als ein Gerichtsurteil. 

Dank des Rückblicks kann der Leser den Grund für die erbitterte Feinschaft zwischen den Cortas als der letzten sich auf dem Mond etablierenden Familie und den Mackenzies als der ersten und damit aus ihrem Blickwinkel auch dominierenden Familie auf dem Mond erkennen. Es ist ein fast klassischer Stoff. Im Mittelpunkt des ganzen Handlungsbogens steht die inzwischen achtzig Jahre alte Adriana Corta. In der Gegenwart tritt sie an ihrem Geburtstag als zumindest proklamiertes Oberhaupt des Corta Konzerns zurück. Am Ende des Buches stirbt sie in einer fast sanft zu nennenden Szene, bevor die Fronten während des fulminanten Showdowns im wahrsten Sinne des Wortes zusammenbrechen und Brutalität sowie Chaos reagieren.

Im langen Rückblick nähert sich der Leser nicht nur ihrer Person und ihrer großen Liebe, sondern er erhält gleichzeitig eine Einführung in den Bau von nicht immer demokratischen Konzernen. Mit welchen Tricks und mit geliehenem Geld sie nicht nur die Helium-3 Produktion angeschoben, sondern vor allem die Mackenzies genarrt haben. 

Während der Plot kontinuierlich an Tempo zunimmt und sich die einzelnen Gruppen wie Frachtzüge aufeinander zu bewegen, verliert „Luna“ einen Aspekt aus den Augen, welcher die erste Hälfte des Buches positiv dominiert hat. Wie in seinen anderen Romanen hat McDonald mit einem kritischen Auge ein soziales System entwickelt, das so freizügig und doch einengend ist. Auf dem Mond kostet alles Geld.  Das ist die Grundprämisse. Wie hart das Überleben auf dem Mond ist, kann der Leser an der zweiten gewichtigen Figur neben Ariel Corta erkennen:  Marina Calzaghe kommt aus einfachsten Verhältnissen und kämpft nicht nur jeden Tag darum, mit Jobs ihre lebenswichtigen Rationen an Wasser, Luft und schließlich Nahrungsmitteln für sich auf dem Mond und ihre kranke Mutter auf der Erde zu erarbeiten, sie weiß nicht, was die Zukunft bringt. Durch einen Zufall – es wirkt wie ein Klischee, ist aber überzeugend herausgearbeitet – schuldet ihr die Corta Familie in Person von Ariel Corta einen Gefallen und sie steigt als Leibwächterin und schließlich Freundin einer der Cortas auf. Sie ist die Stimme der Vernunft und bildet die Brücke zum Leser. Sie ist nicht an allen Brennpunkten zugegen, aber ihr Schicksal kann der Leser nachvollziehen und ihren Handlungen auch folgen.

In diese unwirtliche Umgebung hat Ian McDonald einen im Grunde klassischen Plot modernisiert eingebaut. Es ist eine Geschichte, die sowohl Coppola mit seinen ersten beiden „Paten“ Filmen erzählen wollte oder wie sie sich in den Fernsehserien wie „Dallas“ immer wieder abgespielt hat. Die Konflikte innerhalb der Familie zwischen den so unterschiedlich geratenen Geschwistern mit einer nur noch im Hintergrund agierenden, aber nicht mehr dominierenden Elterngeneration stehen genauso im Mittelpunkt der Handlung wie die andauernde, immer wichtiger werdenden Spannungen zwischen den einzelnen Clans, welche schließlich nach Jahrzehnten wieder zu einem offenen Krieg führen werden, an dessen Ende zumindest impliziert die endgültige Vernichtung einer Familie stehen muss.

Dabei treffen diese eher bekannten Familienstrukturen und Konflikte auf einen futuristischen Hintergrund. Neben den omnipräsenten Drei D Druckern, die fast alles herstellen können handelt es sich um eine Gesellschaft, in der wirklich alles mittels Verträgen geregelt wird.  Liebe gibt es nicht, es geht nur um Macht und Dominanz.  Es ist überzeugend, wie beiläufig der Autor diese Veränderungen in die laufende Handlung ohne weitere Erklärungen einbaut. Spätestens nach den ersten einhundert Seiten hat man diese Ideen akzeptiert und konzentriert sich wieder auf die Konflikte zwischen den einzelnen Familien, wobei Ian McDonald im ersten Drittel die Geduld der Leser durch eine Anhäufung von im Grunde unsympathischen und egoistischen Narzissten überstrapaziert. Da hilft auch nicht, dass einer der Jugendlichen aus der monetären Gewalt seiner Familie entkommen sich Gefallen mittels Kuchenbacken „erkauft“. Dieser laufende Witz nutzt sich irgendwann ab. Aber je länger der zwischenmenschliche Handlungsbogen andauert, um so leichter fällt es, die einzelnen Protagonisten nicht nur voneinander zu unterscheiden, sondern diese absichtliche Distanz zwischen dem Leser und den Figuren -  bis auf die angesprochene Maria Calzaghe als Auge/ Ohr des Lesers sowie Adriana Corta als eine der wenigen Personen, die es mit großen Opfern und der Kraft der eigenen Hände geschafft haben -  als notwendiges Element zu erkennen.   

„Luna“ als Auftaktroman ist ambitioniert und spannend zu gleich. Ian McDonald hat die vielen Protagonisten sehr gut im Griff und grenzt sie immer wieder überzeugend voneinander ab. Ihre Handlungen basieren fast ausschließlich auf durchaus vertrauten kapitalistischen Prinzipien und dem Wohle der eigenen Familie auch zu Lasten der nicht einmal zwei Millionen Menschen umfassenden lunaren Gesellschaft.  Ian McDonald fordert ein wenig Geduld vom Leser ein, aber wenn dieser sich auf dieses Drama einlässt, wird er bis zum frustrierend offenen Ende des ersten Teils überraschend gut und intellektuell ansprechend unterhalten.

  • Taschenbuch: 512 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (12. Dezember 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Friedrich Mader
  • ISBN-10: 3453317955
  • ISBN-13: 978-3453317956
  • Originaltitel: Luna - New Moon