Auslöschung

Auslöschung, Southern Reach I, Titelbild
Jeff Vander Meer

„Auslöschung“ ist der erste Band der „Southern Reach“ Trilogie des vor allem durch seine New Weid Arbeiten bekannt gewordenen Amerikaners Jeff Vander Meer. Die Bücher sind schon im Verlag Antje Kunstmann in einer überschaubaren Auflage veröffentlicht worden, bevor der KNAUR Verlag sie mit schönen, fast surrealistischen Titelbildern noch einmal einem breiteren Publikum vorstellt.

 Schon in den USA ist die Reihe vor allem mit J.J. Abrams „Lost“ Serie verglichen worden. Wie in „Lost“ werden die Protagonisten vor allem in diesem vorliegenden Auftaktband im Grunde isoliert mit seltsamen lebensbedrohlichen Phänomenen und Geheimnissen konfrontiert. Im Gegensatz allerdings zu „Lost“ gehen die Wurzeln des Autoren deutlich tiefer. Aus der nächsten Vergangenheit erinnert der inzwischen überwachsene Kontinent ein wenig an die Welt, die Charles Anton Wilson in „Darwinia“ erschaffen hat. Viele Ideen wirken auch wie eine respektvolle Hommage an die unkontrolliert wuchernde Natur mit ihrer exotischen und surrealistischen Flora und Fauna, die James Ballard in seinen ersten Büchern von einem schaurig schönen Untergang der Menschheit entworfen hat.

 Die Trilogie als Ganzes lässt sich nur beurteilen, wenn im abschließenden Band hoffentlich alle Fragen zufrieden stellend beantwortet und eine überzeugende Lösung gefunden worden ist. „Lost“ hat vielleicht den Fehler gemacht, sich auf dem Weg dahin zu verlaufen und ein fatalistisches Ende zu präsentieren, das mit seinen religiösen Untertönen nicht jedem der zahllosen Handlungsarme der Fernsehserie in dieser Komplexität entsprochen hat. James Ballard hat am Ende in Romanen wie „Karneval der Alligatoren“ den Mensch mit dieser so lebendigen Natur „verschmelzen“ lassen, um aus dem Untergang der technokratischen Zivilisation neues Leben zu erschaffen. Am Ende des ersten Buches der "Southern Reach" Trilogie könnte der Leser ebenfalls dieser These zustimmen.

 Im Gegensatz allerdings zu „Lost“ oder vielen von James Ballards Romanen verzichtet Jeff Vander Meer auf eine klassische Exposition und wirft den Leser dank der Ich- Perspektive der Biologin ins kalte Wasser. Wie bei „Lost“ werden zahllose Informationen nachgereicht und vor allem die Anweisungen/ Thesen der Regierenden des South Reach Instituts in Frage gestellt.

 Der Roman ist in der Ich- Perspektive geschrieben worden. Was normalerweise intim und handlungstechnisch auch einschränkend ist, wird durch einen Kniff allgemeingültig. Das Southern Reach Institut versucht die Ausbreitung der Natur im Area X zu untersuchen. Diese entfesselte Natur dehnt sich entlang der amerikanischen Küste mehr und mehr aus. Es scheint die Bewohner der „Stadt“ zu bedrohen, wobei in dieser fiktiven Welt anscheinend alle modernen Kommunikationsmittel wie Internet oder Handys ausgeschaltet worden sind oder durch ein unbestimmtes Ereignis nicht mehr funktionieren. Es ist ohne Frage kein Zufall, dass die erste Expedition noch Filmaufnahmen gemacht hat, während die anderen elf Expeditionen ausschließlich auf Tagebücher vertrauten. In einer tropischen Umgebung ein erster Fingerzeig auf die Sinnlosigkeit dieser Expeditionen. Die bisherigen Freiwilligen der Expeditionen kehrten bislang nicht zurück. Nur der Ehemann der Biologin tauchte aus dem Nichts heraus in ihrem Haus wieder auf. Seltsam verändert, in einer Art Tranche oder Starre hat er ausgeharrt, bis er schließlich abgeführt worden ist. Seinen Aufzeichnungen folgend wollte er allerdings alleine in der Area X in Richtung Meer aufbrechen, nachdem seine immerhin zwölf Männer umfassende Gruppe zerbrochen ist. Die zwölfe Expedition besteht nur aus vier Frauen, nachdem eine Freiwillige in letzter Sekunde abgesprungen ist. Sie haben keine Namen mehr, sondern sprechen sich anonym mit ihren Funktionalitäten an.

 Später stellt sich heraus, dass sie wahrscheinlich in einer bizarren und atmosphärisch brillanten, „Lost“ nachgestellten Szene nicht die zwölfe Expedition sind, sondern es vermutlich mehrere Dutzend vorher gegeben hat, die irgendwann in dieser seltsamen Atmosphäre ihre Ziele aus den Augen verloren haben. Auch eine Art Geisterwesen erinnert an den schwarzen Rauch, der vor allem in den ersten Staffeln die auf der Insel gestrandeten Protagonisten tyrannisiert hat. In beiden Fällen bleiben die Beschreibungen ambivalent, so dass die ursprünglich angedachte Wirkung verfehlt wird.

 Der Auftakt ist ausgesprochen stringent. Die Expedition ist unterwegs, die einzelnen Frauen bleiben Chiffre. Die erste Begegnung ist mit einem Tunnel bzw. Turm. Anscheinend verwirrt die Area X ohne weitergehende Erläuterung die Sinne, so dass der Leser nicht unbedingt jeder der Erklärungen folgen kann. Es kommt zu Konflikten innerhalb der kleinen Gruppe, der sich schließlich eine „Flucht“ und mindestens ein Todesfall anschließen. Jeff Vander Meer erzeugt auf der einen Seite ein sehr hohes Tempo mit einer Reihe überraschender Effekte, während er auf der anderen Seite in fast bekannter Manier den Handlungsbogen aus dem Nichts heraus unterbricht, um mittels subjektiver Rückblenden „Informationen“ hinzufügen, deren Authentizität der Betrachter nicht nachvollziehen kann. Ein roter Faden ist die Angst vor Manipulation, vor den Lügen durch das „Southern Reach“ Institut, das um Ergebnisse zu erhalten, die Expeditionseilnehmer biss zu einer Art Selbstmordbefehl kontrollieren und hypnotisieren lässt. Wie es sich für diese Art der Paranoia Literatur gehört, ist die Frau mit dem Zündbefehl die Verrückteste der Gruppe. Die zwischenmenschlichen Spannungen sollten ein gutes Gegengewicht zu den immer bizarrer werdenden Funden bilden. Da der Fokus aber wahrscheinlich angesichts der Gesamtkonstellation absichtlich auf Chiffren liegt, ist es schwierig, eine Sympathieebene zu dieser Figuren aufzubauen. Einige wichtige Tagebuchszenen scheinen aufgrund dieser Konstellation ins Leere zu laufen.

 Auch das offene Ende – spätestens in diesem Moment scheint auch Joseph Conards „Herz der Dunkelheit“ um die Ecke zu schauen – impliziert eher eine Art langen Wachtraum anstatt den Handlungsbogen wirklich abzuschließen. Selbst die Frage bleibt offen, wie der Leser indirekt durch das Southern Reach Institut zu diesen Informationen gekommen ist. Im ersten Band der Trilogie ist es wahrscheinlich opportun, kontinuierlich Fragen aufzuwerfen und alle Informationen mittels konträrer subjektiver Empfindungen, Beobachtungen oder Erkenntnissen zu hinterfragen bis sie schließlich zu negieren. Ein abschließendes Urteil kann nur nach der Lektüre des dritten Buches erfolgen.

 Zu den Stärken des Romans gehört der Aufbau einer surrealistischen, fremdartigen Atmosphäre. Das Schicksal der unbekannten Zahl von Expeditionen ist ungeklärt und am Ende der Tagebuchaufzeichnungen fragwürdiger denn je. Die Funde beginnend beim Turm/ Tunnel bis zum Leuchtturm mit seinem fototechnisch „unsterblichen“ Wächter; den Schriftzeichen an den Turmwänden sowie der ungewöhnlichen, sich anscheinend ständig auch ändernden dschungelartigen Natur inklusiv der eher ambivalent bedrohlichen Tierwelt werden ausgesprochen stimmig präsentiert. Die Tagebuchaufzeichnungen der Biologin wirken fast zu stark durchgeplant. Immer wieder wird ein neuer Paukenschlag durch einen Hinweis am Ende eines Kapitels und der Aufnahme des roten Fadens im nächsten Kapitel angekündigt. Kritisch gesprochen ist es das ungewöhnlichste Tagebuch einer Expedition.

 Dieses stilistische Manko gleicht Jeff Vander Meer durch die surrealistischen Beschreibungen aus. Es ist wie bei James Ballard unmöglich, sich ein komplettes Bild zu machen und für jede Schublade, welche aufgemacht wird, scheint ein Boden unter den Füßen der Tagebuchautorin weg gezogen zu werden. Das ganze Buch wirkt durch das kontinuierliche Arbeiten gegen eine literarische Struktur wie ein Fiebertraum, geschrieben von einer Halbwahnsinnigen, die irgendwann und irgendwo durch Recht hat.

„Auslöschung“ als Ganzes betrachtet erinnert positiv an die ersten Folgen von „Lost“, in denen mittels Paukenschläge vor allem die Einzigartigkeit dieser wunderschönen wie gefährlichen Insel mit drastischen Einzelschicksalen vorgestellt worden ist. Aber Vander Meer kopiert die Erfolgsserie nicht, sondern den Spuren Ballards folgend hat er eine eigene Welt, ein eigenes Area erschaffen, das nach den ersten zweihundert Seiten der Trilogie immer noch gefährlich unschuldig wie sich stetig verändernd vor dem teilweise überforderten Leser ausgebreitet daliegt.