Clarkesworld 136

Clarkesworld 136, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neil Clarke gibt einen Ausblick ins Neue Jahr 2018 mit zahlreichen Projekten, aber auch Conbesuchen. Mark Cole liefert mit seinem lesenswerten Essay „Why Science Fiction Detective Stories Aren´t Impossible“ einen Überblick über die Mischung aus Detektiv und nicht unbedingt Thrillerstoffen und Science Fiction Geschichten ab. Dabei wird der Bogen von Jack Vance, Isaac Asimov und schließlich Hal Clement bis in die Gegenwart gespannt, wobei der Autor so viele Anregungen für Wieder- und Neuentdeckungen gibt, dass man ein Jahr mit literarischen Stoff jenseits der 5 Prozent Mischung versorgt ist. Unauffällig handeln auch einige der neuen Geschichten sowohl der letzten Ausgabe des Jahres 2017 als auch der vorliegenden Debütausgabe in 2018 von Mysterien und beinhalten kriminalistische Elemente.

 Chris Urie interviewt Sue Burke, die ein wenig über die Hintergründe einer letzten Romane spricht. Vor allem in Kombination mit dem Essay „Luke Versus Han: An Approach to Characterization“ von Kelly Robson geben Artikel und Interview einen guten Einblick in den Entstehungsprozess nicht nur von den Romanen, sondern auch Kurzgeschichten. Nicht selten stehen die Charaktere konträr den Ideen gegenüber und eine Harmonie muss vor dem Verfassen der Texte gebildet werden.

 Tobias S. Buckell eröffnet mit einer von zwei Novellen das Jahr 2018 literarisch. „A World to Die For“ beginnt vor einem „Toe Road Warrior“ Hintergrund mit der Erzählerin, die in einer versandeten Post Doomsday Welt von einer Söldnergruppe gesucht, gefunden und schließlich zur Befragung gebracht wird. Ganz bewusst spielt Buckell mit den einzelnen Klischees des Genres. Kaum hat sich der Leser an diesen atmosphärisch überzeugenden Hintergrund gewöhnt, zieht der Autor nicht nur seiner Protagonistin, sondern auch dem Leser den Boden unter den Füßen weg und erweitert den Horizont ungemein, in dem er eine Multiversumidee einführt. Für die Protagonistin sind die normaleren Welten Paradiese, auch wenn sie ebenfalls Fallen verbergen. Mit viel Action, sehr viel Bewegung, einer durchaus kritisch ökologischen Botschaft und schließlich verschiedenen zusammenlaufenden Perspektiven erzählt der Autor kurzweilig unterhaltsam eine aus Versatzstücken des Genres zusammengesetzte und trotzdem sehr unterhaltsame Geschichte mit dreidimensionalen Charakteren, die immer wieder gegen die bewusst gesetzten Erwartungen der Leser handeln und so dem Text zusätzlich Tiefe schenken.       

 In drei der insgesamt fünf neuen Geschichten geht es auch um das Vergessen bzw. das Löschen von Erinnerungen.  Eric Roberts beschreibt in "Sour Milk Girls" eine Art Waisenhausagentur, die sich vor allem um minderjährige Mädchen kümmert. Als ein Neuankömmling das "heim" betritt, hat die seit sechs Jahren dort lebende Ghost vielleicht die Chance, in ihre eigene Vergangenheit zu schauen. Eric Roberts präsentiert in rascher Abfolge eine Reihe von teilweise bizarren, aber auch hintergründigen Ideen.  Viele der Kinder haben ihren Eltern bei einem verheerenden Erdbeben verloren, während die Erwachsenen Ersatz für ihr da verstorbenen Kinder suchen und nicht wirklich fündig werden. Anscheinend erhalten zusätzlich die Kinder/ Jugendlichen die Erinnerungen an die Zeit vor dem Heim erst an ihrem achtzehnten Geburtstag wieder zurück, während die Neuankommende über diese Art von Erinnungen verfügt.

Diese Unterschiede muss der Autor auf eine überzeugende Art und Weise herausarbeiten, ohne die zahlreichen Fragen zu früh zu beantworten. Das gelingt ihm hinsichtlich der Pointe nur befriedigend, da der Hintergrund zu spärlich und opportunistisch entwickelt worden ist.

Auch Bo Balders "A Cigarette Burn in Your Memory" handelt von realen oder fiktiven Erinnerungen allerdings mit einer deutlich weniger stimmungsvollen, sondern eher stringenten Handlung. Gouda ist eine Privatdetektiv, die nach verschwundenen Menschen sucht. Nicht unbedingt mit Erfolg, da einige dieser Fälle für sie unergründlich zusammenhängen, aber ambitioniert und vor allem entschlossen. Interessant ist, dass ihre Welt technologisch sich zurück entwickelt und eine gigantische Autobahn zum Beispiel im Nichts endet. Der große Geheimnis ist ein ambitioniertes Geheimnis, ein Ereignis, das vor zwei Jahren stattgefunden hat und an das sich niemand mehr erinnern kann. Es könnte die Landung eine fremden Raumschiffs sein, dessen Einfluss aktiv die Technologie zerstört und passiv die Erinnerungen verdrängt. Dabei bleibt die Autorin sehr oberflächlich und vertraut Impressionen mehr als Erklärungen. Mit einer Detektiv als eine klassisch suchende Figur hat sie einen idealen Protagonisten. Nur muss am Ende eine überzeugende Pointe stehen und hier folgt sie eher Ian McLeod, der auf selbsterklärende Enden hofft und einige seiner besten Geschichten mangels entsprechender Erklärungen selbst unterminiert. 

Aufbautechnisch sehr zugänglich mit einigen interessanten Wendungen ist diese Nori Detektiv Geschichte auch eine frustrierende Lektüre, denn je intensiver die dreidimensionalen Charakteren nach Antworten auf die zahlreichen implizierten Fragen suchen, desto beharrliche verweigert der allgegenwärtige Autor die Antworten und hinterlässt so ein stimmungsvolles, aber neutral betrachtet auch zu offenes Stillleben mit einer originellen, faszinierenden und im Rahmen eines Romans ohne Frage ausbaufähigeren Prämisse.

 Aus dem Chinesischen stammt "The Lighthouse Girl" von Bao Shu, einem oft vertretenen Autoren. Die Ausgangslage ist faszinierend und lange Zeit ist der Leser der Ansicht, das der Plot in eine gänzlich andere Richtung driften kann. Rourou ist ein kleines chinesisches Mädchen, das bei ihrem fürsorglichen Vater aufwächst, sich aber nicht mehr an ihre Mutter erinnern kann. Sie spricht Englisch ohne einen Hinweis, wie sie diese Sprache gelernt hat.  Die implizierte Idee eines Klons und damit verbundenen die verschiedenen ethischen Fragen zieht sich lange wie ein zu auffälliger roter Faden durch die Geschichte, bevor dann der Plot auseinander bricht und der Autor zu sehr auf konstruierten Szenen extrapoliert. Die Idee, das alle Menschen eine Art von Wahrheit kennen, aber sich nicht trauen, den Zirkel durchbrechen und damit dem Geschöpf ein eigenständiges Leben zu schenken. Die Wahrheit ist viel dunkler und brutaler, wobei Bao Shu den Frankenstein Mythos um eine impliziert pervertierte Nuance erweitert.   

 Auch stilistisch herausfordernd ist "Say it Low, the Loud" von Osahon Ize- Iyamu, einem afrikanischen Autoren. Efosa ist aus eigenem Willen zum Militär gegangen und hat zwischen den Sternen gedient. Seine Familie hat ihn dafür ausgeschlossen. Efosa fühlt sich unverstanden und möchte gerne zu in den Kreis seiner Familie und ihrer besonderen Kultur.   Es ist eine "Coming of Age" Geschichte, in deren Verlauf Efosa erkennt, dass er nicht zurückkehren muss, um sich weiter zu entwickeln. Der Stil ist absichtlich lyrisch mathemisch. Nicht die erste Geschichte in "Clarkesworld", welche eine derartig herausfordernde, aber nicht immer befriedigende Basis nutzt, um im Grunde einen fast alltäglichen Inhalt zu erzählen. Vor allem unterminiert der Autor überambitioniert die interessanten Facetten seiner Geschichte und arbeitet gegen die dreidimensionale Hauptperson, so dass die zufriedenstellenden Grundideen verloren gehen und die Leere des Protagonisten auf die Leser übergeht.

    Die beiden Nachdrucke stammen von zwei der besten Kurzgeschichtenautoren des Genres: James Tiptree jr. und zum zweiten Mal in diesem Moment in einem von Neil Clarke zusammengestellten Magazin Michael Swanwick. Beide Geschichten sind im Grunde melancholische Rück- und Ausblicke auf eine Erde, welche es in dieser Form wahrscheinlich nie gegeben hat. In „For I Have Lain Me Down on the Stone of Loneliness and I´ll Not Be Back Again” aus Michael Swanwicks Feder spielt die irische Geschichte eine wichtige Rolle. Bevor der Tourist – es ist ein Mensch – endgültig mit seinem Raumschiff die Erde verlässt, auf welcher seine Familie nach und nach natürlichen Todes gestorben ist, besucht er Irland. Ein Sinnbild nicht nur für den Widerstand gegen die Briten in der Geschichte, sondern zweihundert Jahre in der Zukunft die letzte Bastion der Menschen gegen außerirdische Invasoren, welche sich an den wehrhaften Iren brutal gerächt haben. Es ist die letzte Station auf der Erde des Amerikaners. Ihm wird natürlich eine manipulierte Geschichte vermittelt, in welcher es vor Pathos, Heldentaten und schließlich einem fatalistisch nihilistischen Patriotismus nur so wimmelt. Am Ende muss der Reisende erkennen, dass die Menschen zumindest faule Kompromisse im Zusammenleben mit den Fremden eingegangen sind, während nicht selten andere Autoren auf Aktion und Gewalt in Form von in der Praxis aussichtslosen, in der literarischen Theorie aussichtsreichen Revolutionen setzen.

 James Tiptree jr.s melancholische Geschichte „Her Smoke Rose Up Forever“ – es ist auch der Titel ihrer letzten posthum veröffentlichten Kurzgeschichtensammlung –spielt auf einer ausgebrannten Erde, welche ebenfalls von den Fremden übernommen worden ist. Lange Zeit sind die phantastische Elemente nicht erkennbar und die Autorin konzentriert sich auf die Motivation ihres fatalistischen Protagonisten, bevor sie schließlich auf den letzten Seite den Vorhang zur Seite zieht und ein umfangreicheres Szenario enthüllt, das sich in den Reaktionen, aber nicht mehr eigenständigen Handlungen der wichtigsten Figuren widerspiegelt. Wie in vielen ihrer Geschichten sind ihre Protagonisten ausschließlich getriebene, die sich mit Gewalt nicht selten gegen „schwache“ Frauen zur Wehr setzen, bevor sie am Ende selbst emotional ausgebrannt stranden. Wer sich noch nicht intensiver mit Tiptrees empfehlenswerten Werk auseinandergesetzt hat, sollte vielleicht mit diesem Nachdruck in „Clarkesworld“ starten, bevor er nach und nach die vielen prämierten Kurzgeschichten liest, welche in zahlreichen Storysammlungen vor allem in den siebziger und achtziger Jahren publiziert worden sind.

 Die Januar 2018 Ausgabe von „Clarkesworld“ überzeugt vor allem durch eine erstaunliche thematische Geschlossenheit – Manipulation von Erinnerungen und eine fremdartige „Erde“- sowie die stilistische Stärke ihrer Autoren.