Spliff 85555: Ebersberg

Spliff 85555, Eberberg, Titelbild, Rezension
Gerhard Schneider

Die neue Story Center Anthologie von Gerhard Schneider herausgegeben stiftet anfänglich durch ihren Titel Verwirrung. Im Anhang werden zwar einzelne Aspekte erläutert, aber den Autoren ist dann inhaltlich so viel Freiheit gegeben worden, dass diese Hommage an die Krautrock Gruppe Spliff, ihr Album 85555 und die Stadt Ebersberg vor allem Überschriften technisch erfolgt.  Wie Michael Haitel auf der Verlagshomepage schreibt, ist 85555 die Postleitzahl von Ebersberg. Deswegen hat er ihren Namen im Titel ergänzt.

 Vielleicht liegt es auch daran, dass die ersten Lieder auf dem Album von ihren Titeln her sehr allgemein gehalten sind, während im wahrsten Sinne des Wortes mit dem bekanntesten Lied der Gruppe „Carbonara“ die individuellen Herausforderungen deutlich stärker anziehen.

 Die einzelnen Abschnitte sind durch farbige Graphiken voneinander abgetrennt. Uli Bendick hat zusätzlich zu seinen Innenillustrationen auch das stimmungsvolle Titelbild kreiert.   

 Im ersten Kapitel „Deja Vu“ haben Gabriele Behrends „Hugo“ und „Bruchlandung“ von Albertine Gaul eine gemeinsame Handlungsbasis. Die Protagonisten treiben hilflos im Wasser. Einmal an Bord einer Vergnügungsplattform, die wegen der steigenden Meere immer mehr vor den Küsten der Städte vertäut worden sind, bei Albertine Gaul handelt es sich um die Überlebenden an Bord eines über einer ihnen unbekannten Wasserwelt abgestürzten Raumschiffs. Während Albertine Gauls Story geradlinig und vielleicht stilistisch auch ein wenig sperrig auf den zynischen Höhepunkt zusteuert, entwickelt Gabriele Behrend durch Rückblenden um den toten, über dem Deck hängenden Hugo eine verzwickte Story um Zwillingsschwester, das ultimative Vergnügen und schließlich die entsprechende Katastrophe, die hinsichtlich ihrer Visualität in der überdrehten, verkoksten Welt spielen könnte, die Kathryn Bigelow vor vielen Jahren in dem unterschätzten „Strange Days“ entwickelt hat. 

 Der Abschnitt „Heut´Nacht“ besteht aus Liebegeschichten. Johann Seidl versucht dem Thema Generationenraumschiff mit „Küss mich, bevor du gehst“ eine neue Facette zu geben. Die Intention ist klar, aber vielleicht ist der Text zu kurz, um gänzlich auf der charakterlichen Ebene überzeugen zu können.

 Galax Acheronian „Die letzte Nacht“ ist deutlich vielschichtiger. Vor vielen Jahren haben die Menschen einen Planeten besiedelt und teilweise mittels einer bestimmten Substanz zu einem langsamen Aussterben der Ureinwohner gesorgt. Die Ausgangsprämisse erinnert an die Besiedelung des Wilden Westens und das Ausrotten der Indianer. Der Protagonist versucht nicht nur das Unheil wieder gut zu machen und ein Gegenmittel den verbliebenen Ureinwohnern zu schenken, sondern er verliebt sich auch in ein Mitglied der anderen Rasse. Es ist eine behutsame Liebesgeschichte, die sich absichtlich entlang einiger Klischees entwickelt, bevor der Autor auf den letzten Seiten den Spieß buchstäblich umdreht, einen weiteren Langzeitplan enthüllt und den Protagonisten stellvertretend für den Leser mit einigen Fragen entlässt. Überzeugend, vielleicht ein wenig übertrieben kitschig anfänglich geschrieben ist „Die letzte Nacht“ eine interessante sehr gut strukturierte Story mit tiefen Wurzeln in der menschlichen Vergangenheit, aber vor allem einer trefflichen Pointe.  

 Die zweite Geschichte aus der Feder Gabriele Behrends in dieser Anthologie „Küss mich noch mal heut´Nacht“ ist die Liebesgeschichte zweier Frauen, die auf unterschiedlichen Positionen in der Raumwacht arbeiten. Die Erzählerin hat sich schließlich auf einen Außenposten versetzen lassen, wo sie das Eindringen unbekannter Raumschiffe bemerkt und das Feuer eröffnet. In Rückblenden erfährt der Leser ihren Weg über die Ausbildung zum Transporter und eine tragische Liebesgeschichte mit Jessie zu dieser isolierten Station. Die Geschichte ist gut geschrieben und die Atmosphäre mit ihrer Mischung aus Melancholie und distanzierter Technik, aus provokanten Machogarn und schließlich der ultimativen Aufgabe überzeugend. Nur wirkt das Ende ein wenig zu stark konstruiert und hinterlässt zu viele offene Fragen als das abschließend Antworten geliefert werden.

 Der Abschnitt „Notausgang“ besteht aus zwei Kurzgeschichten. Anna Noah „Cicada – 401“ wird dem Titel des ganzen Kapitels auf eine zynische, allerdings für den sehr aufmerksamen Leser auch frühzeitig erkennbare Art und Weise gerecht. Es ist eine dieser Geschichten, in denen der Aufbau mit dem perfekten, die Gefangenen koordinierenden Gefängnis in den Tiefen des Alls, zu ambitioniert für die finale Pointe erscheint.  Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wenn die Autorin ihren Text rückwärts gehend aufgebaut hat.   Auch Christina Wermescher „Flieh mit mit“ leidet ein wenig unter dem Ende. Nach einem Angriff aus dem All fliehen die beiden verliebten Protagonisten mit einem Raumschiff zu einem geheimen Punkt im All, wo sie auf eine paradiesische neue Welt geschleust werden können. Dramaturgisch überzeugt der Text, aber es schwer, mit den vielleicht zu funktionalen und zu wenig dreidimensionalen Protagonisten warm zu werden. Der Ablauf der Ereignisse ist hektisch, der Leser ist mit dem Hintergrund nur oberflächlich vertraut. Die wenigen starken Szenen finden an Bord der seltsamen Raumstation statt, als es um den entsprechenden Tauschhandel geht. Wahrscheinlich wäre es sinnvoller, den Text zu einer Novelle auszuarbeiten, die Hintergründe intensiver zu beleuchten und der zu wenig überraschenden Handlung ein oder zwei entsprechende Wendungen zu geben.

 „Carbonara“ ist der bekannteste Spliff Song. Kein Wunder, dass die meisten Erwartungen an diesen Abschnitt des Buches gerichtet sind. „Traditionen“ von Diane Dirt mit der Patentanwältin inklusiv entsprechender Vergangenheit und dem Weltraumpaten mit der Idee, die unbewohnbar gewordene Erde zumindest fördertechnisch mittels Androiden wieder zu erschließen ist eine interessante Achterbahnfahrt, die dank des flapsigen, verspielt gekünstelten Untertons heiterer und amüsanter erscheint als sie vielleicht grundlegend ist. Diane Dirt hat viele interessante Ideen wie das Ausbeuten der alten Erde mit einer besonderen Methode, die bekannte italienische Patenfamilie im All und schließlich die Patentanwältin mit einer vorlauten Zunge aneinander gereiht. An einigen Stellen wünscht man sich nicht nur bei ihrem Text, sondern einigen anderen Arbeiten ein wenig mehr Ruhe, ein wenig mehr literarischen Platz, um die Geschichte breiter und damit auch ambitionierter zu erzählen. Das kommt an einigen Stellen zu kurz.

 Aus zwei Perspektiven – subjektiv in Briefform und erzähltechnisch dann objektiv – berichtet Regina Bott in „Strange Encounters“ vom Besuch eines Außerirdischen in einem bestimmten Etablissements. Die Story ist humorvoll und kurzweilig zu lesen, bleibt allerdings auch sehr oberflächlich. Sehr viel umfangreicher ist Merle Arianos „Carbonara“. Gegen Ende verrät die Autorin die pseudowissenschaftliche Prämisse. Sie ist nicht unbedingt neu und selbst auf der großen Leinwand hat die Adaption des Kulturcomics „Howard, the Duck“ eine entsprechende Idee geliefert. Aber es sind die liebevoll gezeichneten Charaktere mit dem verliebten Koch, dem italienischen Pizzabesitzer inklusiv des entsprechenden Porsches und schließlich der intelligente, tanzende Pinguin mit einem unendlichen Fundus an Liedern inklusiv natürlich „Carbonara“, welche über diese bekannte, positiv für die Geschichte aber später offen gelegte Ausgangsbasis hinweg trösten. Vor allem überzeugt die Story, wenn sich der Leser diese Ideen visuell vorstellt. Ein singender und tanzender Pinguin in einem italienischen Restaurant auf einer erhöhten Bühne im Scheinwerferlicht.

 Die drei Geschichten zum Thema „Computer sind doof“ verfehlen die wahrscheinlich in den achtziger Jahren sogar passende Aussage auf dem Spliff Album. Der kürzeste Text „Türöffnerzauber“ von Sven Haupt zeigt, die geschickt inzwischen Virenprogramme vorgehen und dabei die Kinder ausnutzen. Das Ende der Geschichte mit einer zu stark versteckten Botschaft wirkt allerdings aufgesetzt. Auch Paul Sankers „Schöne Aussichten“ mit einer perfekten Wohnung inklusiv Panikroom und vor allem auch behütender künstlicher Intelligenz müht sich ab, gegen Ende eine originelle Pointe zu finden. Zu oft ist diese Idee in anderen, längeren Texten verwandt worden. Das meiste Potential hat Thomas Jordans „Mondo Utopia“. Der Text zerfällt auch am stärksten gegen Ende. Ein Stealth Virus hat die Computerindustrie lahm gelegt. Das Internet ist zu einem raren Gut geworden, die Menschen besinnen sich wieder auf sich selbst und natürlich treten auch die üblichen Exzesse wie Drogen, Alkohol und Gewaltbereitschaft stärker ans Tageslicht. Auf den ersten Seiten entwirft der Autor ausgesprochen überzeugend das Portrait einer degenerierenden Gesellschaft, die aber wieder zu den Methoden zurückkehrt, die in der Zeit vor dem Internet Gang und Gäbe gewesen sind. Ein faszinierendes Kontrast. Das dann aus dem Nichts heraus eine weitere Idee einige dieser persönlichen Exzesse wieder negieren kann, wirkt kontraproduktiv. Aus Sicht der drei eher jungen Protagonisten wäre es sinnvoller gewesen, den sozialen Zerfall weiter zu extrapolieren und noch mehr konträre Ansätze zwischen dem jetzigen Gestern und der Vor Internet Ära herauszuarbeiten. Das alleine hätte schon ausgereicht, um eine originelle wie auch lesenswerte Geschichte zu entwickeln. Mit dem abschließenden pragmatischen Schwenk lenkt der Autor von seiner Grundidee zu sehr ab, ohne wirklich innovative oder zumindest zufrieden stellende Ideen einzubauen.  

 „Kill“ ist das schwierigste Kapitel. Die beiden Geschichten sind nicht schlecht geschrieben und solide entwickelt, aber der Funke will nicht überspringen. Nele Sickels First Contact Story „Keine Asche“ ist zu kurz und zu hektisch entwickelt, um nachhaltig zu überzeugen. Und die deutlich längere Arbeit „Kill!“ von Andreas G. Meyer ist so leid es einem tut eine Variation von Orson Scott Cards „Ender“ Geschichte, reduziert auf ein entsprechendes Gamerszenario.  Natürlich ist die Umdrehung der Pointe am Ende der Story Ziel führend und provozierend zugleich, aber der Autor schafft nur einen weiteren kleineren Dreh. Außerirdische Schaben haben eine Kolonie der Erde – eine der wenigen und rohstofftechnisch wichtigen Kolonien der Erde im All – ausgerechnet in der Phase überfallen, in welcher sich die Kolonisten vom Joch der Erde los sagen wollen. Die Spielindustrie hat ein perfektes Virtuell Reality Game entwickelt, in dem einzelne Teams sich untereinander einen Wettkampf liefern, aber vor allem auch gegen die Schaben vorgehen und sie „virtuell“ auslöschen. Die Kampfszenen sind gut geschrieben worden und auch die Atmosphäre überzeugt inklusiv der Hommage an die Brutkammern aus Alien, aber viele Elemente fallen abschließend zu schnell zusammen und es stellt sich die Frage, ob ein derartiger Aufwand tatsächlich das Ergebnis lohnen würde. Eine konzentrierte Aktion unter Ausschluss jeglicher Presse und Manipulation der Öffentlichkeit wäre ohne Frage effektiver gewesen. Aber es sind die rückblickend aus anderen Werken vertrauten Grundelemente, welche schließlich negativ zu Buche schlagen. 

 Scharfe „Frauen“, wilder Sex, Drogen und jeweils eine Reise ins All bzw. zurück zur Erde verbindet die beiden Geschichten im Kapitel „Duett komplett“. Herausgeber und unter Pseudonym schreibend Gerhard Schneider hat dabei trotz der ganzen Exzentrik und einer fast surrealistischen Handlung bei „Der rote Kadett“ das Hintertreffen, da „Duett komplett“ aus der Feder Francis Bergens trotz des bekannten wie markanten Endes beginnend mit dem Raumfahrergarn, dem unmöglichen Auftrag des naiven Helfers inklusiv der entsprechenden Bezahlung in Naturalien der wildere Ritt ist. Beide Geschichten ragen aus der Masse der teilweise zu bodenständig angelegten Geschichten dieser Sammlung durch ihre grellen Farben, ihre Verspieltheit inklusiv entsprechender Anzüglichkeiten im Rausch der Drogen positiv heraus.     

 Der Kontrast ist im Kapitel „Jerusalem“ schärfer. Enzo Asui geht in „Mannriegel, ungesüßt“ auf die Gründung einer neuen Religion bzw. zumindest der Variation bestehender Gemeinsamkeiten am Fuße der Klagemauer inklusiv eines neuen Propheten ein. Kurzweilig geschrieben mit einem leichten Unterton kann der Leser sich aber angesichts des eher offenen Endes keine abschließende Meinung bilden. Deutlich ambitionierter beginnend mit einer eigenen Sprache ist Friedhelm Rudolphs „Hirngespinste“, in denen als Ausgangslage die Frauen die Männer mit der Technik, Klone zu erschaffen, quasi von der Erde ins All verfrachtet hat. Der Kommandant führt eine alte Weisung, fast schon Weissagung aus und versucht im All ein gigantisches Kunstgebilde zu erschaffen, während seine Leute rebellieren. Sprachlich interessant, mit einigen sehr guten Ideen ist „Hirngespinste“ von der Grundstruktur her eine klassische Novelle. Viele Ideen werden im Zeitraffer überflogen, die Zusammenhänge sind eher subjektiv erkennbar und die abschließende Pointe pragmatisch. Der Aufbau erscheint ein wenig rudimentär, zu wenig auf den einem Leser nicht vertrauten Hintergrund vertrauend und deswegen kontraproduktiv. 

 Episch ist die indirekte Überschrift des letzten Kapitels. Auch wenn es in Wirklichkeit mit „Damals“ überschrieben worden ist. Gard Spirlin alias Gerhard Schneider schließt die Sammlung mit „Säulen der Ewigkeit“ ab. Eine Raumfahrerin findet eine Reihe von Monolithen, welche eine dem Leser zu bekannte Geschichte eines egoistischen Volkes erzählen. Auch wenn der Text kompakt und intensiv geschrieben worden ist, beinhaltet er zu wenige Überraschungen. In der Tradition der chinesischen Sagen angelehnt ist Robert Kollers „Damals“ eine vielschichtige, belehrende Story, die aus der Gegenwart mit durch eine Superwaffe explodierenden Sternen in die Vergangenheit, zu den Wurzeln des Konflikts schaut. Der Autor verzichtet fast gänzlich auf direkte Monologe und konzentriert sich durch das Hin und Her Springen zwischen den die einzelnen Äonen der Menschheitsgeschichte verbindenden Gegenwartselemente auf eine großartig wie brutal angelegte Saga.

 Der distanzierte Stil ermöglicht vielleicht nicht das Eintauchen in den Plot, aber eine andere Erzählstruktur hätte wahrscheinlich eine Trilogie von mindestens den Dimensionen Ken Lius „Seidenkrieger“ Saga bedingt. Unabhängig von dieser Distanz zwischen überwiegend fiktiv historischen Geschehnissen und den inzwischen fatalen Auswirkungen auf die Gegenwart ist „Damals“ ein deutlich interessanterer Abschluss dieser Anthologie als „Säulen der Ewigkeit“.

 Auch wenn sich die Autoren eher an den Spliff Liedertiteln orientieren, um ihre eigenen Geschichten zu erzählen und Musik erstaunlicherweise in keiner der Storys wirklich eine elementare Rolle spielt, ist die neue Story Center Anthologie unabhängig von einigen ausführungstechnisch nicht gänzlich überzeugenden Geschichten ein interessanter Streifzug durch die Science Fiction Literatur mit einigen neuen Namen, einigen großen Ideen und bei einigen Storys einem Hang zur in anderen Texten schmerzlich vermissten Exzentrik des heute fast in Vergessenheit geratenen Krautrocks.

  • Taschenbuch: 364 Seiten
  • Verlag: p.machinery Michael Haitel; Auflage: 1 (30. Januar 2018)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3957651190
  • ISBN-13: 978-3957651198