Anno 2222/ Die Weltensegler/ Vom Mars zur Erde

Anno Daiber, Titelbild, Rezension
Albert Daiber

Vor mehreren Jahren hat Dieter von Reeken die drei wichtigsten längeren utopischen Texte Albert Daibers in individuellen Ausgaben veröffentlicht. Die überfällige Neuauflage erfolgt gesammelt in einem Band.

„Anno 2222: Ein Zukunftstraum“  ist vor  "Die Weltensegler" (1910) und der Fortsetzung "Vom Mars zur Erde" (1914) der erste utopisch aufklärend angelegte Text des Schwaben Dr. Albert Daiber.

 Weniger der Drang, eine phantastische Geschichte zu erzählen als die Suche nach einem Ventil, um seine Unzufriedenheit mit den politischen Umständen auszudrücken, prägt diesen über weite Strecken auf die klassischen Reisestoffe zurückgreifenden kurzen Text. Neben einer sachlichen, umfangreichen Einleitung finden sich in diesem sehr sauber gestalteten Paperback einige Reproduktionen der Originalausgabe.

In seinen Zukunftstraum des Jahres 2222 baut der Autor zwei parallel laufende elementare Grundhandlungen ein. Einmal die politischen Schwierigkeiten zwischen der der Großmannsucht erlegenen USA mit ihren proletarischen Wurzeln und den Vereinigten Staaten von Europa, einem Nachfolger der verschiedenen adligen Staaten und einem Naturereignis. Der Mond verlässt seine Umlaufbahn und droht auf die Erde zu stürzen.

Im ersten Kapitel setzt sich der Autor mit den politischen Strategiespielen auseinander. In den Mittelpunkt stellt der Autor geschickt das Sprachrohr der Welt, den Inhaber der Weltposaune, einer der mächtigsten Zeitungen Europas, deren Herz in Berlin schlägt. Der Inhaber blättert am 01.April 2222 - dem Beginn dieses Traumes, kein anderes Datum stellt die Narretei besser dar als dieser Tag - in einem Almanach des Jahres 1905. Vorsichtig sieht er die heutigen Wurzeln des politischen Übels im Fehlverhalten der politischen Führer dieser Zeit. Es folgt ein kurzes Hohe Lied auf Bismarck, dann allerdings offene Kritik am politischen Gebaren der englischen Verräter, die intensive Kontakte zu Japan suchen. Wenige Jahre später wird ausgerechnet Nazideutschland den Bogen in den Fernen Osten schlagen. Eine Depesche aus den Vereinigten Staaten trifft ein, der Präsident verlangt, dass die Vereinigten Staaten von Europa innerhalb der nächsten 22 (!) Tage ihren Namen ändern und ihre Unterlegenheit durch verschiedene peinliche Gestern anerkennen. Das trifft die Ehre des Redakteurs und er beschließt, eine Pressekampagne gegen die USA zu inszenieren.

Die Problematik mit dem abstürzenden Himmelskörper - da der magnetische Pol im Bereich der Vereinigten Staaten liegt, besteht Hoffnung, dass die Natur den politischen Feind eliminiert - ist eng mit dem weltfremden, hochintelligenten und stotternden Professor Gemütlich verknüpft, der den Auftrag erhält, einen gerade durch den Aufschlag auftauchenden Kontinent auf der südlichen Halbkugel zu erforschen. Hier ist interessant, wie Daiber abenteuerliche Stoffe des Trivialromans mit seinen eigenen Reiseerfahrungen verknüpft.

Der Roman stammt aus dem Jahre 1905, also knappe fünf Jahre vor seinem nächsten utopischen Stoff - Die Weltensegler. Daiber verfasste die boshaft ironische Karikatur der gesellschaftlichen und politischen Gegenwart zu einer Zeit, als er sich selbst enttäuscht von den Freimaurern abgewandt hatte und nach einer Reihe von Geschichten für die Jugend. Diese "Geschichten" stellten in erster Linie klassische Reiseliteratur dar, in der er seine Australieneindrücke schriftstellerisch verarbeitete. Darum ist es nicht verwunderlich, dass dieser Text überwiegend ein Reiseroman mit phantastischen Anklängen ist. Ein bisschen provozierend und mit Seitenhieben auf die arroganten Amerikaner beschreibt er die Reise durch den gerade entstandenen Panamakanal genauso wie das Eintreffen auf dem fremden Kontinent - der ausgerechnet Lemuravida genannt wird . Dabei gelingen ihm einige exotische Szenen, doch das erzählerische Talent eines Jules Verne ist ihm weder in diesem Buch noch in den folgenden Stoffen in die Wiege gelegt worden. Auch sind seine Protagonisten überwiegend Intellektuelle, Geisteswissenschafter, die sich an den eigenen Leistungen und Forschungen direkt oder indirekt ergötzen. Wie in seinen beiden Marsromanen fehlt der Bezug zum einfachen Volk, eine Tatsache, die Jules Verne in vielen seiner utopischen Abenteuerromane klug einzusetzen nutzte. So konnte der normale Leser durch die Augen eines Gleichgesinnten die Wunder der Technik bestaunen und fühlte sich nicht gänzlich von den überlegenen, theoretischen Geistern in die Ecke gedrängt.

Die Schwäche dieser Groteske liegt weniger in den vielschichtigen Ideen -auf die noch Bezug genommen wird, als im eigentlichen Handlungsaufbau.

Seine politische Unzufriedenheit drückt Daiber in der offenen Kritik an Amerika aus. Wie für die jetzige Bushregierung gibt es nur eine Alternative, sie im wahrsten Sinne des Wortes auf den Mond schießen. Dabei spielt weniger der wissenschaftliche Unsinn eine Rolle, das ein Absturz des Mondes kaum Folgen für die Gebiete außerhalb seines Einschlages haben kann, als die boshafte Genugtuung, den Erzfeind in damals unerreichte Gefilde zu schießen. In vielen utopischen Texten -von Jules Vernes "Reise durch die Sonnenwelt" und seinem posthum veröffentlichten Werk "Die Jagd nach dem Meteor" bis zu Eichhackers "Panik und Fahrt ins Nichts" - werden die Auswirkungen solcher Naturkatastrophen vielleicht noch in Unkenntnis ökologischer Wechselwirkungen heruntergespielt, hier dient es dem Autoren eindeutig als nützliches Element der Übertreibung.

Auffällig ist die Zweiteilung des Textes in politische Agitation aus ferner Zukunft heraus -wehret den Anfängen - und Abenteuerroman. Wurde der zweite Teil des Textes schon betrachtet, so finden sich zum ersten Abschnitt reichlich -auch heute noch - interessante Passagen: Obwohl Daiber zwischen den Zeilen Deutsch denkt und den im Jahre 1905 schwankenden Kurs der unsicheren eigenen Regierung missbilligt und in ihm tief greifende Folgen für die Moral und Sitte sieht -es sind Tanzmädchen an Bord des Forschungsschiffes - fühlt er sich in einem europäischen Staatenverbund gewachsener Herrschaftssysteme sichtlich wohler. Er verdammt die Kleinstaatlerrei an Beispiel der Schwierigkeiten, für das Vereinigte Europa eine gemeinsame Fahnenfarbe zu finden. Stolz beschreibt er Berlin als jetzt europäische Großstadt und Hamburg als das wirtschaftliche Herz Europas. An seiner Seite stehen ein englischer und ein französischer Wissenschaftler. Das ausgerechnet der Engländer am Ende des Buches in die Primitivität zurückfällt, ist ein weiterer Seitenhieb auf Englands freundschaftliche Beziehungen zu den wilden Asiaten. Von Roosevelt mit seiner chauvinistischen, aber nationalen Politik hält er gar nichts, für ihn stellen die Amerikaner ungezogene und frühreife Politikganoven dar. Stellvertretend für sein Volk wird der Hafenkapitän Monkey - der sich wie ein Affe benimmt - bestraft. Zum Erzfeind Frankreich baut Daiber in der Person des lebenslustigen Forschers Professor Chauvins eine Brücke der gegenseitigen Achtung und Toleranz. Unterstrichen durch die Nähe des Schwabenlandes zu Frankreich? Diese beiden Nationen bilden das Herz - Frankreich - und den Verstand - Deutschland bzw. besser gesagt, das preußische Deutschland, für das Professor Gründlich auch mit seinem Namen steht. England ist ein strauchelnder, mehr ertragener als genehmer Partner. Darum gibt Daiber seinem englischen Partner im Rahmen der verschiedenen Diskussionen auch wenig zu tun.


Durch den Einschlag des Mondes löst der Autor das amerikanische Problem auf der einen Seite endgültig, auf der anderen Seite stellt er sich dieser Diskussion erst gar nicht. Aus heutiger Sicht wäre es interessanter gewesen, die Folgen des amerikanischen Ultimatums zu beschreiben. Die Neutralität findet sich -in Anspielung auf Wilhelms Bartpracht- auch bei der Beschreibung verschiedener Bärte wieder.

Daiber selbst hat seine kleine Geschichte mit "Ein Zukunftstraum" untertitelt und so präsentiert sich auch der Text. Oft unlogisch und aus Versatzstücken zusammengesetzt finden sich interessante Passagen - die Auftaktsequenz im Büro der Weltposaune mit vielen technologischen Spielereien - neben Geschwätz. Die Unsicherheit spürt der Leser in der Konstruktion der eigentlich hochdramatischen Szenen, die Einschlag des Mondes und die Schaffung eines neuen Kontinents beschreiben. Trocken, mit boshaften Humor aber ohne das Gefühl für Spannung plätschert die Handlung dahin.

Herausgeber Dieter von Reeken gibt selbst zu, dass der Text etliche Schwächen beinhaltet und er wirkt auch weniger wie eine Satire, sondern eher wie eine ironische Entblätterung sich selbst ernährender politischer Randgruppen, die eher ins Jahr 1905 denn 2222 passen. Allerdings lässt sich an der hier vorliegenden Novelle gut verfolgen, wie sich in den kommenden Jahren seine schriftstellerischen Fähigkeiten entwickelt haben. Im Gegensatz zu meist utopisch-technologischen Zukunftsromanen stellt dieses Hohelied auf den wissenschaftlich geschulten, höchsten moralischen und intellektuellen genügenden Geist einer Elite eine lesenswerte Alternative dar. Es ist weniger eine Vision als eine Abrechnung mit den politischen Fehlentwicklungen der ersten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, ein bisschen naiv, doch im Herzen gutmütig und noch mit der Unschuld der Generation vor dem Ersten Weltkrieg gesegnet.

Versehen mit einem sehr informativen Vorwort des Herausgebers, dessen Nachforschungen bis zu den in Chile wohnenden Nachkommen Daibers reichten, besticht der Roman zu Beginn durch eine bunte Schilderung des Schwabenlandes. Heute fällt manchem Leser spontan der Werbeslogan "Wir können alles außer Hochdeutsch" ein, um die hier beschriebene Szenerie mit ihren liebevollen Details zu charakterisieren.

Im Gegensatz zu z.B. Kurd Laßwitz' umfangreichem Roman "Auf zwei Planeten", fällt bei Daiblers "Bericht für die reifere Jugend" die sehr konzentrierte und nicht minder knappe Aneinanderreihung von spannenden Episoden auf: da ist zum einen die Reise zum Mars mit all ihren nicht eingeplanten Gefahren, dann die populärwissenschaftlichen Fakten, bei denen sich insbesondere der Organisator und geistige Vordenker der Reise, Professor Dr. Stiller hervortut, und die beschaulichen Ruhepausen, die das paradiesische Leben auf unserem Nachbarplaneten beschreiben.

Die patriotischen Anspielungen auf das Deutsche Kaiserreich halten sich in Grenzen. Die Ode an den schwäbischen Geist wirkt auf die heutige Generation eher belustigend, denn manipulierend. Unter dem Eindruck des technologischen Fortschritts entwickelt Daibler hier im Grunde einen Fantasy-Roman. Auf der letzten Seite schwärmt Stiller von einem "Märchen voll Schönheit, von Zauber und strahlenden Licht" (Seite 142). Diese Einstellung spürt man im ganzen Roman und dies macht den Stoff auch fast einhundert Jahre nach seiner Entstehung noch sehr lesenswert. Selbst die Nutzung eines Zeppelins unterstreicht diesen Charakter. Obwohl die Größe imponierend war, waren die technischen Beschränkungen unübersehbar und eine Reise ins All unvorstellbar.

Doch neben dieser märchenhaften Komponente durchdringen den Text auch die Veränderungen des angebrochenen 20. Jahrhunderts. Noch steht die intellektuelle Oberschicht und nicht die Arbeiterklasse zu Beginn der Handlung im Mittelpunkt des Interesses. Sieben Professoren brechen auf, um den Mars zu erkunden. Was als wissenschaftliche Expedition geplant ist, wird für sie zu einem unerwarteten Läuterungsprozeß.

Betrachtet der aufmerksame Leser den Roman als Ganzes, dann fallen drei Teile auf, die in direktem Zusammenhang mit der persönlichen Entwicklung des Autoren und im übertragenen Sinne prophetisch mit den gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Zusammenhang stehen können. Dabei entspricht der Mediziner Daiber eher dem schwermütigen Prof. Dr. Fridolin Frommherz, dessen Spezialgebiete Ethik und Theologie sind, als dem Arzt an Bord Prof. Dr. Paracelsus Piller. Der Autor wanderte um das Jahr 1910 mit seiner Familie nach Chile aus, nachdem er zuvor die Welt bereist hatte. Die sieben Professoren brechen zum Mars auf, einer bleibt auf dem friedlichen roten Planeten zurück. Sowohl Autor, als auch geschaffene Kreatur entsagen ihrem bisherigen Leben. Die bisherige kaiserliche Gesellschaft mit ihrer Zucht und Ordnung, ihrem Drang nach möglichst militärischen Ehren, ist Allen fremd geworden. Auch die sechs Heimkehrer fühlen sich auf der Erde nicht mehr wohl. Ihre Begegnung mit der intellektuell hochstehenden Kultur der Marsianer - vergleichbar einem ganzen Volk griechischer Dichter - hat sie für den Rest ihres Lebens verändert. Daiber könnte ein vergleichbares Schlüsselerlebnis auf seiner Südseereise gehabt haben, die er vor seiner Auswanderung mit seiner Frau unternommen hat.

Das unterscheidet den Roman von den optimistischen Abenteuerstoffen Jules Verne. Seine Helden erreichen zwar nur den Mond, doch sie beweisen, daß dem menschlichen Geist keine Grenzen gesetzt werden können. Während Verne eine Rakete benutzte, greift Daiber auf die augenscheinlich imposanteste Erfindung deutscher Ingenieurskunst zurück: den Zeppelin. Jules Verne selbst wird erst in der posthum veröffentlichten Kurzgeschichte "Der ewige Adam" eine Daibers Vision vergleichbare kritische Haltung der Menschheit gegenüber einnehmen.

Dabei beginnt dieser Roman wie viele Texte seiner Zeit als Lobpreisung des deutschen Forschergeistes. Unbarmherzig treibt der Expeditionsleiter Stiller seine Techniker und Planer an, um das Luftschiff - den Weltensegler - pünktlich und mit seinen Plänen übereinstimmend fertigzustellen. Hier schwingt der Geist einer Ära mit, die erst knappe zwei Jahre später mit dem Untergang der Titanic als Symbol des Sieges der Natur über den Menschen und als Warnung vor dem bodenlosen Leichtsinn zu Ende ging. Spätestens in den Materialschlachten des folgenden Ersten Weltkriegs endete die Epoche letztendlich in den oft beschworenen Blut und Tränen. Der die Professoren verändernde Keil in ihrem bislang geordneten Leben ist die Zivilisation der Marsianer, der Mittel- und Wendepunkt dieses Romans.

Daibers Roman entspricht eher einem Bericht denn einer Geschichte. Er bemüht sich, die einzelnen sieben Helden mit kurzen prägnanten Charakterzügen und amüsanten Schwächen zu skizzieren. Auf der Reise selbst begegnen sie einer Reihe von phantasievoll beschriebenen kosmischen Ereignissen: dem kalten, tristen Mond, einem Kometen, sowie dem Marsmond Phobos mit dem es beinahe zu einem Zusammenstoß kommt. Der Mars selbst wird als unsagbar alte, aber hochkultivierte Welt - geistig, als auch technologisch - beschrieben. Bis auf die Marskanäle bleibt Daiber hier sehr vage. Er beschreibt weder fremde Maschinen und noch kratzt er an der Oberfläche der von ihm entwickelten und auf den griechischen Idealen basierenden, aber in dieser Konstellation offensichtlich nicht lebensfähigen fremdartigen Gesellschaft. Zu sehr mischt er die Vorzüge der marxistischen Lehren mit der beständigen Leitung der einfachen Arbeiterschichten durch eine Oligarchie sehr intelligenter Männer. Wie im realen Leben spielen Frauen keine Rolle. Auch wenn sich die Menschen in diesem Paradies zwei Jahre - und nicht drei, wie der Untertitel des Romans fälschlicherweise und vom Herausgeber klar widerlegt suggeriert - aufhalten, wird für den Leser die innere Struktur der fremden Kultur nicht erkennbar. Der Autor schwelgt im Positivem. Vielleicht versuchte Daiber die verschiedenen fremdartigen Sinneseindrücke des einfachen Lebens in Chile in eine überlegene Gesellschaftsordnung zu transferieren.

Der Mensch kann im Vergleich dazu nur seine literarische Vergangenheit und expansive Neugierde in die Waage werfen. Voller Enthusiasmus berichten die Gelehrten vom Stand der friedlichen wissenschaftlichen Forschungen. Auch wenn die Fremden gerne zuhören, sind ihnen zukünftige Besucher zuwider und wenn man es auf den Punkt bringen kann, schmeißen sie die tapferen Schwaben hinaus. Für das kaiserliche Deutschland ein undenkbarer Vorgang. Doch auch die Botschafter der Erde mit ihrer neugierigen, vom friedlichen Forscherdrang geprägten Art und den Vorlieben für schwäbische Weine und deftiges Essen entsprechen mehr den weißbärtigen Professoren eines Jules Verne Romans, denn der Vorstellung eines preußischen Offiziers.

Da Daiber mehr ein weit gereister Erzähler, denn ein trockner Wissenschaftler ist, liest sich sein Roman auch heute noch sehr unterhaltsam. Mit leichter Ironie sind die Dialoge durchtränkt und seine stolze Beschreibung des schwäbischen, wachen Geistes wirkt eher belustigend als antiquiert.

Um 1910 erschien Albert Daibers "Die Weltensegler", in welchem er die abenteuerliche Reise von sieben Schwaben zum Mars, die Aufnahme eines Kontaktes zu einem intellektuell hoch stehenden -der klassischen griechischen Antike entsprechenden- Volks, den herzlichen Rausschmiss von sechs der sieben Schwaben und deren Rückflug zur Erde schilderte.

Knappe vier Jahre später erschien die Fortsetzung, in der er das Schicksal des siebten Schwabens, des Professor Fridolin Frommherz schilderte. Dieser hatte sich vor dem erzwungenen Rückflug von seinen Kameraden abgesetzt und war auf dem Mars geblieben. Zur Strafe muss er ein deutsch-marsianisches Wörterbuch schreiben. Einsam -wie auf der Erde, doch dort zumindest in seinem Lehramt intellektuell gefordert- verliebt er sich in die junge Nichte seines Gastgebers. Bevor er seine Gefühle offen äußern kann, wird er sanft von seinem Freund und ihrem Onkel darauf hingewiesen, dass das niedere Blut der Menschen nicht mit marsianischem Adel verbunden werden darf. Als sich einige Zeit später der Professor selbst zur Rückkehr bereit erklärt, baut Daiber seinen Figuren eine Brücke und weist auf die Richtigkeit der Trennung der beiden Rassen hin. Ungewöhnlich ist nicht nur in diesem Punkt die Arroganz - hier als edle überlegene Gesinnung bezeichnet - mit der der Mensch von den Fremden behandelt wird. Das Motiv wiederholt sich gegen Ende des Romans, als die jungen Marsianer Frommherz wieder in Cannstatt absetzen, aber kein Interesse zeigen, die Erde überhaupt zu betreten. In einer der weniger blumigen Reden weisen sie darauf hin, dass ihre intellektuell hoch stehende Zivilisation rein gar nichts von den Menschen lernen kann. Selten wurde in der utopischen Literatur die Waage auf einer Seite nur beladen. Meistens brachten die primitiven Menschen zumindest Emotionen wie Hass oder Liebe den in wissenschaftlicher Präzision erstarrten Hochkulturen. Und dabei handelt es sich bei den Abgesandten der Erde um die intellektuelle Elite der Menschheit, alles Professoren unterschiedlichen Frakturen . Sie lernen auf dem Mars trotz des goldenen Käfigs schnell ihre Grenzen kennen.

Daiber verarbeitet aber auch Motive der sozialistisch- kommunistischen Weltanschauung. Als der Planet Mars zu vertrocknen droht, ergreift das Volk angeführt von einer nebulösen Führung die Initiative und Schultern an Schulter heben sie unendgeldlich neue Gräben aus, überdecken die Seen mit Asbesthauben und nutzen die unterschiedlichsten Maschinen, die zum Teil von ehemals straffälligen Marsianern als Geschenk an das Allgemeingut entwickelt worden sind. Das diese völkische Bewegung weder wirtschaftlich nachvollziehbar, noch in der hier geschilderten euphorischen Stimmung überhaupt möglich ist, steht auf einem anderen Blatt. Daiber nutzt in der Beschreibung des marsianischen Volkes ausschließlich irdische Tugenden und verbindet diese zu einem erstrebenswerten Ideal.

Vergleicht man diesen Text mit seinem Vorgänger, treten deutliche Unterschiede auf. Obwohl Daiber schon mehrere Jahre in seinem neuen chilenischen Heimat lebte, konnte er die drohenden Wolken des ersten Weltkrieges nicht beiseite schieben. Erinnert der erste Roman eher an die abenteuerlichen Romane Jules Verne mit ihren wissenschaftlich heute nicht mehr vertretbaren, aber immer noch gut zu lesenden Erläuterungen für die reifere Jugend, tauchen mehr und mehr die depressiven Züge von H.G. Wells Romanen in den Vordergrund. Eine Begegnung mit dem kleinen Asteroiden Eros und seinen von Landwirtschaft lebenden menschenähnlichen Wesen wird den darwin´schen Gesetzen folgend als bald nicht mehr lebens- und überlebensfähig dargestellt, die böse deutsche Presse in Form "des Volkmundes" fragt nicht zu Unrecht, aus welchen Gründen die jetzt wieder sieben Schwaben das Paradies aus Milch und Honig verlassen mussten und stellt die klassische Überlegenheit der Marsianer in Frage. Darauf schwören sich die tapferen Raumfahrer, den Menschen in seinem Denken und Wesen zu verbessern. Eine generationenlange und undankbare Aufgabe.

Fast unbemerkt erweist sich Daiber allerdings als ungewöhnlicher Prophet: "Nein, die hoch entwickelte moderne Luftschiffahrt hatte wahrlich Praktischeres zu tun, als fragwürdige Planetenfahrten auszuführen, deren Gelingen nur das Spiel des blinden, launischen Zufalls war." (Seite 98). Erstaunliche Parallelen zur tatsächlichen Entwicklung der Raumfahrt, die nach den Mondlandungen ebenfalls in einen Dornröschenschlaf aus den fast gleichen Motiven gefallen ist.

Dieter von Reeken weist in seinem wieder sehr informativen Vorwort auf die Ähnlichkeiten zwischen Fridolin Frommherz und seinem geistigen Schöpfer Daiber hin. Frommherz gewinnt in diesem zweiten Roman an Konturen. Die innere Unzufriedenheit - erst mit dem Leben auf der Erde, dann schließlich auch mit dem Mars und seinen ihm freundschaftlich - und doch in entscheidenden Punkten distanziert - gewogenen Bewohnern und die neue Aufgabe nach der Rückkehr auf die Erde- ist der Ausdruck eines unterforderten rastlosen Geistes. Als solchen sah sich Daiber selbst. Nach vielen Jahren aus der Freimaurerloge ausgetreten, suchte er in Chile einen neuen Anfang. Es ist fraglich, ob er die gleichen hohen Erwartungen an seine neuen Heimat gestellt hat, die er für den Mars entwickelte, doch fraglos suchte er eine andere Lebensordnung. Wie sich schließlich der Autor von seiner Schöpfung verabschiedet, legt den Schluss nahe, dass er mit den in Chile herrschenden Zuständen auch nicht zufrieden gewesen ist. Genau wie seine Charaktere kommt Daiber zur Erkenntnis, dass der Mensch nur im Streben nach Veränderung seine wahre Bestimmung finden kann. Aus dem Herzen, aus der Heimat heraus sollte er sein Werk angehen. Das machen die überlebenden Professoren, und es ist fraglos schade, dass der Leser sie bei dieser Aufgabe nicht mehr begleiten kann.

Trotz seiner oft antiquierten Erzählungsweise und den teilweise blumigen Dialogen liest sich Daibers Beschreibung einer intellektuellen Überzivilisation, auf den griechischen Prinzipien und der griechischen Lebensart - Tempel, Togen, lange Haare und Bärte und schließlich Harfenspiel- basierend, auch heute noch ungemein unterhaltsam, locker und fesselnd. Die Herzenswärme, mit der dieser Autor insbesondere das Schwabenland mit seinen Tugenden und Untugenden in beiden Romanen charakterisiert , amüsiert den Außenstehenden ungemein und in positiver Hinsicht. Phasenweise glaubt er sich in ein Paralleluniversum versetzt, in dem ein deutscher Jules Verne mit wehendem Bart seinen Flug zum Mars als Bericht zusammenfasst. Das schöne Covermotiv mit der roten untergehenden Sonne steht sinnbildlich auch für die deutsche utopische Literatur, die in den Wirren des Ersten Weltkriegs ihre Unschuld verlor und später als Alibi für die Großmannssucht des Deutschen Reiches missbraucht worden ist.

Das im Kleinverlag Dieter von Reeken erschienene Paperback ist auch als Sammler ein liebevoller Nachdruck der vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Ausgaben im lesbaren Neusatz. Er enthält ein sehr ausführliches und informatives Geleit, das den Leser auf eine gedankliche Zeitreise zum Ausgangspunkt der Entstehung dieses Romans mitnimmt.  Es ist schön, dass der Kleinverlag Dieter von Reeken der heutigen reiferen Jugend einen Blick in diese Epoche erlaubt.

Neuausgabe der zwischen 1905 und um 1910–1914 erschienenen Romane

Verlag Dieter von Reeken
Klappenbroschur, 332 Seiten, 33 Abbildungen
ISBN 978-3-945807-20-0