Die Stille nach dem Ton

Ralf Boldt & Wolfgang Jeschke

„Die Stille nach dem Ton“ versammelt die mit dem SFCD Literaturpreis (bis 1998) und anschließend dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichneten Kurzgeschichten der Jahre 1985 bis 2012.  Neben dem eindrucksvollen Titelbild von Lothar  Bauer sind es die Einleitungen der beiden Herausgeber Ralf Boldt und  dem leider inzwischen verstorbenen dreifachen Preisträger Wolfgang Jeschke sowie für das  Komitee und den SFCD Thomas Recktenwald,  welche dem Leser nicht nur einen Eindruck in diese Zeit, sondern vor allem auch die stetig wachsende Bedeutung des Preises geben. 

 Der erste Preisträger ist 1985 Thomas R. P. Mielke mit seiner zweiten Geschichte um die TRPM- Global Recherchen gewesen. „Ein Mord im Weltall“ hört sich martialischer an als der Plot schließlich sein will. Tatsächlich ist auf der Raumstation ein Mann ermordet worden. Natürlich im toten Winkel der Kameras. Nur will es wie bei den normalen Krimis nicht keiner gewesen sein, die beiden in Frage kommenden Verdächtigen gestehen jeweils die Tat. Der neutrale Ermittler deckt abschließend ein Komplott von wahrlich evolutionären Dimensionen auf. Selbstironisch mit einem Augenzwinkern geschrieben entwickelt der routinierte Autor sehr souverän den Plot und kann sich vor allem im Schlusssatz eine Verbeugung vor dem ewig Weiblichen nicht verkneifen.

 Michael Iwoleit und Wolfgang Jeschke haben zwischen 1985 und 2012 den Literaturpreis jeweils dreimal gewonnen. Wolfgang Jeschke mit der Inspiration zu seinem späteren Roman „MIDAS“ das erste Mal 1986. „Nekromanteion“ ist eine dieser typischen Jeschke Geschichten, in denen er Mythologie mit moderner, aber natürlich auch fehlerhafter Technik verbindet. Im Hintergrund entfaltet sich eine zweite, kaum wahrgenommene Katastrophe. Beton wird von einem anscheinend unbekannten Bakterienstamm befallen und zerfällt. Die Bauwerke der Moderne sind im Gegensatz zu den antiken Ruinen nicht für die Ewigkeit geschaffen. Auf der zwischenmenschlichen Ebene spielt der Autor mit den Mythen und Legenden Griechenlands hinsichtlich der Widerbegegnung mit den Verstorbenen, was eine amerikanische Firma gegen Unsummen industrialisiert hat. Der Geist wird kopiert und quasi gegen entsprechende Bezahlung zu besonderen Anlässen in einen Avatarkörper übertragen. Die griechische Normalfamilie mit dem üblichen familiären Chaos wird das Verewigen des Vaters quasi geschenkt, nur die Stromkosten und später die Erweckung muss übernommen werden. Aber wie bei jedem Geschenk de Amerikaner steckt der Teufel im Detail und die Geburtstagfeier zum 100. gerät aus verschiedenen Gründen außer Kontrolle. Jeschke ist immer ein Meister der liebevoll skurrilen Details gewesen. Seine faszinierenden Ideen bevölkert er mit semirealistischer Technik, die überzeugend von selbst verliebten Wissenschaftlern präsentiert wird. Die normalen Menschen sind überfordert und reagieren mit ihren ureigenen Eitelkeiten auf diese Herausforderungen. Eine wunderbare Geschichte, aus welcher Jeschke wie angesprochen einen deutlich dreidimensionaleren, aber nicht mehr so pointierten Roman erschaffen hat.  

 Religion und Science Fiction haben sich in vielen von Wolfgang Jeschkes Geschichten zu einer zynischen Abrechnung mit der Blindheit der Kirche verbunden. Nicht nur die einleitenden Worte zu „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“ ( Preisträger 1994) unterstreicht dieses Markenzeichen im Werk des Autoren. Es ist eine brutale Abrechnung mit der allgegenwärtigen Gewalt gegen Kinder aus der Perspektive des in dieser Hinsicht mit Blindheit geschlagenen Vatikans, der sich als utopische Idee um die Bereinigung der Flurschäden bemüht und damit einen äußerst sauberen Eindruck hinterlassen will. Wolfgang Jeschke spricht in seinem Vorwort davon, dass die Kinderschicksale nicht fiktiv sind und diese Tendenz hat sich bis ins 21. Jahrhundert verstärkt, so dass „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“ im Grunde zur Pflichtlektüre werden müsste. In politischer Hinsicht die eindruckvollste, kraftvollste Story der Sammlung.

 2011 erhielt Wolfgang Jeschke für „Orte der Erinnerung“ den dritten SFCD Literaturpreis.  Es ist ohne Frage zu emotional ansprechendste Geschichte mit einer interessanten Liebesgeschichte, einem kantigen unsympathischen Protagonisten, der eine Art Läuterungsprozess durchläuft und einem nicht unbedingt nihilistischen, aber zynischen Ende. Es ist aber auch ein Text, dessen Grundidee der Leser lange vor den beiden in dieser Hinsicht ein wenig zu realistisch denkenden Protagonisten erkennen kann und nachvollziehen muss.  „Frequency“ lässt grüßen. Am Ende bemüht sich Wolfgang Jeschke um ein zufriedenstellendes Ende, das die meisten Fragen beantworten soll. Leider ist die Wandlung des Hauptcharakters zu wenig vorbereitet und es fehlt der emotionale  Funke. Auch gibt es so gut wie keine wissenschaftlichen Erklärungen, so dass „Orte der Erinnerung“ vor allem eine melancholische Hommage an jeden Augenblick  des Lebens ist und weniger eine logische Science Fiction Story.  

 Am Schönsten sind die preisgekrönten Geschichten, wenn sie alt bekannten Themen gänzlich neue Aspekte abgewinnen können. Andreas Findigs „Gödel geht“ spielt nicht nur mit der Idee von Parallelwelten und gegenläufigen temporären Ereignissen, vor allem nimmt der Österreicher seine eigene Kaffeehauskultur wunderbar auf die Schippe. Die Geschichte spielt im Jahre 1929 und der noch nicht so berühmte, aber talentierte Mathematiker Gödel begegnet in seinem Stammkaffeehaus einem ungewöhnlichen Mann: sich selbst. Dank des übergeordneten Erzählers mit seinem Hang zu Exkursen, für welche er sich immer wieder entschuldigt und der einzigartig beschriebenen Atmosphäre in den Kaffeehäusern, die selbst an Nischen im wilden Strom der nicht nur politischen Zeit erinnern, lebt der Text förmlich von Beginn an auf. Die größte Schwäche ist vielleicht das Ende. Es ist weder enttäuscht noch formalistisch, aber der Schwung, der Ideenreichtum und die durchgehend so warmherzig pointiert beschriebenen Charaktere flachen gegen Ende der Story ein wenig ab. Unabhängig von diesem kleinen Kompromiss hat Findig seiner Heimatstadt ein weiteres phantastisches Denkmal gesetzt, das den verschiedenen von Ernst Vlcek und dem „Dämonenkiller“ Team erschaffenen Ecken des dunklen Wiens genauso gerecht wird wie die ersten Jonathan Carroll Romane, in denen der Amerikaner eine mystische Stadt zum Leben erweckt hat.

 Gerd Prokop ist vor allem durch seine utopischen Kriminalkurzgeschichten bekannt geworden. Mit „Kasperle ist wieder da!“ hat der Autor eine verstörende Geschichte um das Thema Leihmütter, Genmanipulation und vielleicht auch die Schaffung von Menschen der zweiten Klasse erschaffen, die in erster Linie als Materiallieferanten dienen könnten. Gerd Prokop greift den sachlich distanzierten Berichtsstil auf, mit dem Rainer Erler unter anderem in „Die Delegation“ das Thema der UFOs so eindringlich beschrieben hat. Vor allem zeichnet Prokop ausgesprochen natürliche, interessante Charaktere, ohne an einer einzigen Stelle bis auf den besonderen „Kasperle“ wirklich Fakten zu benennen. Der Leser möchte das Schicksal der Frau glauben und ihr wünschen, dass sie ihren persönlichen Frieden findet. Alleine auf der emotionalen Ebene gehört „Kasperle ist wieder da!“ zu den besten Storys der ganzen Anthologie.

 Wie konträr die Preisverleihungen sein können, zeigt 1992 „Das letzte Signal“ von Egon Eis. Mit dem Verschwinden der Raumschiffe ohne Spuren oder Nachrichten greift der Autor kein unbedingt originelles Thema auf. Mit seinem zu sachlichen, zu distanzierten Stil entwickelt man eine Theorie, welche sich während der Pointe in Luft auflöst. Die Charaktere sind eher sperrig und distanziert gezeichnet, das Erzähltempo wird zu wenig variiert und der ganze Plot ist weniger dynamisch als statisch konsequent entwickelt worden. Grundlegend ist „Das letzte Signal“ keine schlechte Geschichte, aber angesichts der sie umgebenden Qualität scheint sie zu signalisieren, dass 1992 ein eher schlechtes Kurzgeschichtenjahr gewesen war.

 Andreas Fieberg wandelt in „Der Fall des Astronauten“ auf den Spuren des technologiekritischen Barry N. Malzberg. Selbst nach der Geschichte ist dem Leser nicht klar, ob es sich um eine Psychose handelt oder wie in „The Twillight Zone“ der vermeintlich Kranke der einzige wirklich Gesunde ist. Aber das macht den Reiz dieser sehr kompakten und doch inhaltsschwangeren Kurzgeschichte aus.

 Interessant ist, wie teilweise auf aufeinander folgenden Jahren sich die grundlegenden Themen ähnelten. Nach „Der Fall des Astronauten“ erhielt Marcus Hammerschmitt ein Jahr später für „Die Sonde“ die Auszeichnung. Der erste bemannte Raumflug zum Frank. Dem Astronauten wie eine Sonde ins Gehirn eingepflanzt, mit welcher nicht nur Daten übertragen werden, sondern auch eine Art Kommunikation mit einer künstlichen die Mission begleitenden Intelligenz stattfinden kann. Teilweise in Rückblenden zeichnet Marcus Hammerschmitt den Weg des Astronauten nach. Am Ende versteckt der Autor eine nachdenklich stimmende Pointe, wobei einige Aspekte insbesondere gegen Ende des Handlungsbogens stark konstruiert erscheinen. Dafür entschädigt die erste intensive Hälfte, in welcher der Autor nicht nur glaubwürdige Charaktere entwickelt, sondern vor allem auch die Faszination der nicht einmal weit extrapolierten Technik mit den Zweifeln/ Sorgen der Astronauten und ihres jeweiligen Umfelds zu einem psychologischen Drama verbindet.  

 Virtuelle Realitäten basierend auf einer Extrapolation des in den neunziger Jahren sich schon wieder zurückziehenden Cyberpunks spielen in Norbert Stöbes „Zehn Punkte“ eine Rolle. Ein inzwischen fast zum Autisten gewordener lebensuntüchtiger Protagonist verdingt sich in den virtuellen Welten nicht nur als Hengst mit mehreren unterschiedlichen Gespielinnen, sondern thront über einer weites gehend archaischen Traumwelt. Die angesprochenen „zehn Punkte“ scheinen ein Lehrpfad in den Untergang zu sein. Sie sind Mahnung/ Warnung vor dem Übertreiben bei den Spielen, wobei Norbert Stöbe vielleicht auch ein wenig unbewusst sehr viele Argumente dazu liefert, in diesen Welten zu verharren anstatt der traurigen Realität mit Arbeitslosigkeit und Langeweile in das große Auge zu schauen. Plottechnisch bleibt sich der Autor bis zum Ende hin treu und verzichtet auf unrealistische Happy Ends. 

 Satiren jeglicher Zielrichtung haben einige der Preis gewonnen. Während Ernst Petz in „Das liederlich-machend Liedermacher- Leben“ beginnend mit dem Krach der gegenwärtigen Musik über den skurrilen Einfluss Wagners in Form eines Vortrags gleichzeitig Musikgeschichte verzerrt und auf den Kopf stellt, zeigt die ein Jahr vorher (1987) publiziert Story von Reinmar Cunis, wie zeitlos SF wirklich sein kann. „Vryheit Do Ik Jo Openbar“ zeigt das Auseinanderfallen der Bundesrepublik wieder in stolze, unabhängige Kleinstaaten, denen die eigene Grenze mehr Wert ist als wirtschaftliche Stabilität. Am Beispiel Bremens zeigt der Autor mittels fiktiver Dokumente und Tagebuchaufzeichnungen diesen atemberaubend schnell verlaufenden Zerfall der politischen Ordnung auf und nimmt unbewusst sowohl auf das Ende des Kommunismus wie auch den gegenwärtigen Protektionismus Europas vorweg.

 Karl Michael Armers „Die Asche des Paradieses“ nimmt natürlich in übertriebener Manier die Glaubenskriege des 21. Jahrhunderts vorweg. Die erzkonservativen Christen haben die neuen Kreuzzüge ausgerufen, die genauso fatal wie die ersten Versuche endeten, den Glauben im Morgenland zu reformieren. Wobei die Bekehrungsversuche eher als eine Art Deckmantel für die Euthanasie aller Andersgläubigen dienen. Es ist eine sehr dunkle, sehr brutale Welt, welche uns der Ich- Erzähler, Soldat und inzwischen in den militärischen Führungskader berufene Protagonist aufzeigt. Zwischen dieser entwürdigenden Gewalt finden sich aber immer wieder Spuren von Mitmenschlichkeit, die schließlich die Diktatoren zu Fall bringen. Beginnend mit einem dynamischen Auftakt und endend auf einer hoffnungsvollen wie fatalistischen Note handelt „Die Asche des Paradieses“ vom Scheuklappendenken der Politiker und Kirchenvertreter, streut bittere Wahrheiten fast in Nebensätzen unter das Volk und wirkt gegenwärtig aktueller als vor dreizehn Jahren.  

 Humor ohne Satire ist bei den hier gesammelten Kurzgeschichten wie angesprochen selten. Michael Sauters "Der menschliche Faktor" versucht eine Art  Gegengewicht darzustellen. Im Gegensatz zu der herausragenden Novelle "Gödel geht" bedient der Autor eine Reihe von  Klischees mit  der Geschichte des im Grunde fast bankrotten freien Raumfrachterpiloten und seinem vorlauten Computer, der einmal den menschlichen Faktor, um ihn während des Shodowns dann wieder richtig einschätzen zu können. Die Dialoge sind spritzig und der Plot ist zügig entwickelt, aber irgendwo hat der Leser auch das unbestimmte Gefühl, als wenn alles ein wenig zu mechanisch und oberflächlich abläuft.

 Rainer Erler hat zweimal den Preis erhalten. In einer weniger starken Anthologie würde sein modernes Märchen „Der Käse“ wahrscheinlich mehr herausragen. Ganz bewusst überstreicht der Filmemacher die „Heidi“ Idylle der Almen mit einer Art plakativen Expressionismus und einem jungen notgeilen Almhirten, der es auf die frisch hinzu gezogene, aber nicht untalentierte Großstadtpflanze abgesehen hat, während der „Käse“ eine Art Eigenleben beginnt. Auch wenn Rainer Erler satirisch fast wie in Larry Cohens Film „The Stuff“ bestimmte Elemente überzeichnet, unterminiert der zu ironische, zu sehr bemühte auf moderne Märchen hinzielende und dann in der Pointe nicht befriedigende Stil die Absicht.  In seiner zweiten mit einem Preis ausgezeichneten Story „Ein Plädoyer“ spricht er anklagend erstaunlich aktuelle Themen beginnend bei Experimenten an Primaten über die freie Willensbildung sowie Forschung bis zu der ein wenig aufgesetzten überdrehten Warnung vor der nächsten Generation an. Als Plädoyer konzipiert überzeugt der Text durch seine Stringenz und reißt zum nachdenklichen Lachen. 

 Andreas Eschbachs "Die Wunder des Universums" ist eine von zwei Geschichten, welche sich mit gestrandeten Astronauten beschäftigen. Matthias Falke wird einige Jahre später in seiner ebenfalls ausgezeichneten Story  diesem Thema eine andere Wendung geben. Eine durch ihren Leichtsinn auf einem der Jupitermonde gestrandete Astronautin resümiert über ihr Leben, hinterlässt Botschaften an ihren Ex-  Mann und die Tochter sowie den Teamkollegen.  Ohne Kitsch, ohne Pathos, aber auch irgendwie ein wenig distanziert und die Faszination des Alls,  welche die Protagonistin ja nach draußen getrieben hat,  kommt  abschließend nicht so richtig rüber.

 Im Gegensatz zu Andreas Eschbachs Geschichte malt Matthias Falke „Boa Esperanca“ mit einem deutlich dickeren Pinsel. Die Ausgangslage ist gleich. Die beiden Protagonisten sind auf einem Jupitermond bzw. in den Tiefen des Alls gestrandet, es gibt keine Chance auf Rettung von außen noch die Möglichkeit, eine Zuflucht zu erreichen. Das bisherige Leben wird reflektiert, wobei Matthias Falke ein deutlich mehr ambitioniertes Szenario entwickelt und vom Krieg über eine lange Liebesgeschichte bis zu einem kurzen Ausflug in wahre Paradies sehr viele Themen zu streifen sucht. Vielleicht wirkt die Story deswegen auch ein wenig zu überfrachtet und angesichts der verbliebenen Zeit versucht der Protagonist dem Leser zu vielen Themen auf einmal zu vermitteln. Auf der anderen Seite greift Matthias Falke auf einige Ideen zurück, die bei anderen Autoren ganze Novellen oder Romane füllen. Am Ende beider Texte bleibt zumindest die fatalistische Erkenntnis, das die Figuren sich den Risiken gestellt und deswegen auch gelebt haben.  

 Bis zum Jahr 2012 ist Michael Marrak der einzige Schriftsteller gewesen, der seinen Triumph des Vorjahres wiederholen konnte. In den Jahren 1999 und 2000 gewann Michael Marrak für die Titelgeschichte „Die Stille nach dem Ton“ und „Wiedergänger“ die Auszeichnung für die beste Kurzgeschichte. In beiden Texten verirrt sich ein im Grunde „normaler“ Mann in Absurdistan, in einer sich stetig verändernden Umgebung. „Wiedergänger“ leidet in dieser Hinsicht unter seiner belehrenden Pointe, die höchstens als effektiv zu bezeichnen ist. „Die Still nach dem Ton“ verzichtet im Grunde auf tiefer gehende Erklärungen und lässt den Leser mit einer bizarren Abfolge von Ideen und einem Gespräch mit „Gott“ alleine im Regen stehen. Vor allem die zahllosen Ideen mit den verschwindenden Worten und daraus abgeleitet den entsprechenden Folgen fasziniert. Höhepunkt und Finale ist schließlich ein Spazierstock. Der verwirrte an seiner geistigen Gesundheit zweifelnde Protagonist stellt dabei symbolisch die Hand reichend die letzte Verbindung zur Realität oder einer weiteren Irrealität dar. Sprachlich experimentell, aber diszipliniert erdrückt das Ideenfeuerwerk vielleicht manchmal absichtlich einen chronologischen Handlungsfluss, aber alleine die Aneinerreihung von auf den ersten Blick alltäglichen Szenen vermischt mit dem Surrealistischen unterhalten derartig gut, dass man vor allem „Die Stille nach dem Ton“ gerne noch einmal lesen möchte. Auf der Suche nach dem brüchigen Hacken, der den Ideenelfenbeinturm noch zusammenhält, bevor alles wie bei einem Feuerwerk auseinander fliegt und den Leser staunend zurücklässt.

 Erstaunlich wenige klassische Zeitreise bzw. Parallelweltgeschichten finden sich unter den preisgekrönten Beiträgen. Arno Behrends „Small Talk“ ist eine dieser Storys. Eine Party, der obligatorische Small Talk; literarischer Ideenspinnerei. Alles gewöhnliche Ereignisse, bevor der Autor dem Leser drastisch den Boden unter den Füßen wegzieht. Die vertraute Welt ist auch nur eine mögliche Parallelwelt, wobei die Pointe bei einer zweiten Lektüre der Story nicht mehr so packend erscheint und reichlich konstruiert wird.  

Karla Schmidts „Weg mit Stella Maris“ suggeriert dem Leser, dass es sich um eine Mutter- Tochter Geschichte vor dem Hintergrund einer Expedition zu den Sternen handelt. Der ersten Expedition, während die Tochter von der Mutter enttäuscht Robben zu retten sucht. Durch einen geplanten Zufall erfährt die Tochter die Wahrheit, die Autorin stellt den bisherigen Plotverkauf auf den Kopf und greift auf eine andere, nicht unbekannte Idee der SF zurück. Diese Wendung ist solide vorbereitet und wirkt durch die eckigen kantigen aber lebensechten Protagonisten auch überzeugend.  

Mit seiner zweiten Preis gekrönten Story "Canea Null" 2007 sowie im folgenden Jahr Frank W. Haubolds "Heimkehr" werden zwei sehr unterschiedliche und doch  auch im tieferen Sinne inhaltsgleiche "First Contact" Geschichten kurz hintereinander ausgezeichnet.  Beide Texte zeichnet aus, dass sich Mensch und fremde Intelligenz zwar annähern, aber ein klassisches gegenseitiges Verstehen nicht stattfindet. Trotzdem hat der allwissende  Leser am Ende vor allem von Marcus Hammerschmitts Story das Gefühl, als  stünde der Besiedelung der fremden Welt  nur noch der Mensch selbst im Wege.  Frank W. Haubold bewegt sich lange Zeit auf dem mystischen Weg, den die Strugatzkis in "Picknick am Wegesrand" gegangen sind.  Ein Forschungszentrum riegelt sich nach dem EREIGNIS  quasi selbst ab. Eine der Wissenschaftler hat sich zu diesem Zeitpunkt außerhalb des Radius befunden und kehrt  immer zu Weihnachten in ein in der Nähe gelegenes Hotel  zurück. Er hofft, dass die Abschirmung fällt und er zu seiner Frau zurückkehren kann,  welche in diesem abgeschirmten Bereich isoliert worden ist. Marcus Hammerschmitt  kümmert sich in seinem Texte mehr um die Gruppendynamik mit einem nach außen gerichteten Misstrauen gegenüber den Auftraggebern, sowie innerhalb der Gruppe einer ambivalenten Mischung aus Forscherneugierde und Befremdung. Emotionaler, wärmer und intensiver ist ohne Frage frank W. Haubolds Texts, während Marcus Hammerschmitt mit seiner Pilzzivilisation auf jeden Fall einen sehr exotischen und damit interessanten Hintergrund für seine Geschichte entwickelt hat.  

 Michal Iwoleit hat bis zum Jahre 2012 gemeinsam mit Wolfgang Jeschke dreimal den SFCD Literaturpreis erhalten.  2002, 2004 und 2006.  Frank W. Haubold beendete 2008 diese kleine Serie.  Das erste Mal für „Wege ins Licht“. Wie Karl Michael Armer beschreibt er eine aus den Fugen geratene Welt, in welcher ein Unfall eine Schar von Unsterblichen entstehen lässt. Unsterblichkeit im perfektesten Sinne des Wortes, denn die vor allem von den schwarzen Garden Getöteten kommen immer wieder, können sich an ihren Tod erinnern und heben so die Welt aus den Angeln. Wie in vielen Geschichten Michael Iwoleits ist der Protagonist ein Getriebener. Die Motive sind unterschiedlicher Natur, in diesem Fall geht es vordergründig um Rache, aber sie wirken in einer aus den Fugen geratenen Welt wie der letzte Halt des Lesers, bevor dieser erkennen muss, dass auch der Protagonist im Grunde verdammt ist. In „Wege ins Licht“ spielt der Autor mit sehr großen Ideen, die fast in Nebensätzen präsentiert werden. Mit einem breiten Pinsel malt er eine brutale und doch auch exotisch faszinierende Welt, während seine „Liebesgeschichte“  „Ich fürchte kein Unglück“ sich mehr auf pseudowissenschaftliche Theorien konzentriert. Hier ist es ein Programmierer, der irgendwo zwischen dem Erbe seines Vaters, für dessen Tod ist mittelbar verantwortlich ist, und der Suche nach einer erotischen geheimnisvollen Frau nicht nur die bestehende Computertechnologie mit seinen Ideen auf den Kopf stellt, sondern am Ende nihilistisch erkennen muss, das diese Suche im Grunde umsonst gewesen ist. Während „Wege ins Licht“ ambitionierter und kantiger erscheint, überzeugt „Ich fürchte kein Unglück“ mehr durch die feinere Zeichnung der Protagonisten und nicht nur des klassischen, ein wenig zu wehleidigen Antihelden mit seiner späten Erkenntnis. Die abschließende Idee ist ein Faustschlag nicht nur in den Magen des Protagonisten, sondern auch des Lesers. Vielleicht wirken die Bibelzitate ein wenig zu aufgesetzt und erzeugen eine Pseudosicherheit, die es in Iwoleits Welten niemals gibt, aber sie dienen als Leitplanke.

Auch wenn Michael Iwoleit in seiner dritten mit dem SFCD Literaturpreis ausgezeichneten Story „Psyhack“  eher Philip K. Dick folgt, bildet sie zusammen mit den ersten beiden Kurzgeschichten eine interessante Weltansichtstrilogie, die vor allem dank des Nachdrucks in einer Ausgabe offensichtlicher wird als bei den verstreuten Erstveröffentlichungen. Michael Iwoleit hat „Psyhack“ zu einem Roman erweitert, wobei die Ausgangsgeschichte in einem direkten Vergleich die stärkere, die intensivere Arbeit bleibt.   

 "Psyhack" ist eine dieser Storys, die mittelbar im Rahmen der Entwicklung des Genres auch gealtert erscheint. Manches wirkt zu stark konstruiert und vor allem gegen Ende verliert Michael Iwoleit sein Ziel ein wenig zu sehr aus den Augen. Die Ausgangslage mit dem perfekten "Dieb",  dem immer wieder für seine Missionen neue Persönlichkeiten aufgesetzt werden, ist fast klassisch zu nennen. Bei einer Mission schießt er deutlich über das Ziel hinaus. Anscheinend ist die ihm eingespeiste Persönlichkeit gehackt worden und hat die Initiative übernommen.  Als sich das Opfer auf die Suche nach den Hintermännern erfährt er,  dass alles natürlich viel  komplizierter ist und er eine "Persönlichkeit" erhalten hat, die ihm vor langer langer Zeit vertraut gewesen ist. Am Ende präsentiert Michael Iwoleit vielleicht nicht ein perfektes Happy End, aber eine zufriedenstellende Auflösung des rasanten Plots. Im Gegensatz  zu den anderen beiden Texten dieser Sammlung, die ebenfalls mit dem "Deutschen Science Fiction Preis"  ausgezeichnet worden sind,  fehlt ausgerechnet dieser Suche nach der eigenen Identität und  darüber hinaus der eigenen Vergangenheit das emotionale Herz. Es ist schwer, selbst am Ende  für  den Protagonisten mehr als nur reine Sympathie zu empfinden. In der Romanerweiterung hat sich Michael Iwoleit vor allem auf dessen Vergangenheit konzentriert und den stringenten Handlungsbogen unterbrochen. Vielleicht fällt es deswegen auch schwerer, zum Original zurückzukehren. Ohne Frage ist es beginnend mit der Prämisse eine interessante, vielschichtige Story, deren Hintergrund deutlich  kompakter entwickelt worden ist, aber der zwischenmenschliche Funke will in dieser kalten opportunistisch kapitalistischen Zukunft nicht wirklich überspringen.  

 Als letzte Story dieser Sammlung präsentiert Heidrun Jänchen mit „In der Freihandelszone“  eine im Grunde perfekte Warnung vor der eigenen Arroganz. Der  Protagonist soll am Aushandeln eines  Abkommens mitwirken. Der Planet ist von Außerirdischen bewohnt und im Grunde für die Erde eine Art rechtsfreier Raum, auf dem sie sich mit der Verbreitung ihrer im Grunde fast absurden Patentgesetze einen Vorteil verschaffen wollen. Natürlich schlägt das Pendel in die andere Richtung und alleine die letzten drei Absätze der Geschichte mit der folgerichtigen und konsequenten Pointe sind die Lektüre des Textes wert, während zu Beginn der Plot ein wenig schwerfällig und bemüht in Gang kommt.  Aber sobald die Autorin sich quasi heiß geschrieben hat und auf das furiose  Finale zusteuert, gehört „In der  Freihandelszone“ zu den kurzweiligsten Geschichten dieser Anthologie.

 “Die  Stille nach dem Ton“ ist alleine wegen der Präsentation von mehr als fünfundzwanzig Jahren deutscher phantastischer Kurzgeschichten mit einer Vielzahl von Themen, unterschiedlichen Variationen klassischer Szenarien und vor allem manchmal auch einem politischen Augenzwinkern eine der wichtigsten Anthologien der letzten  Jahre. Vor allem wird die Sammlung zwei Gruppen ansprechen. Diejenigen, die sich näher mit der deutschen Science Fiction beschäftigen wollen und die Leser, welche nicht alle Publikationen goutiert haben,  in denen wirklich bis auf wenige nicht preisgekrönte Ausnahmen viele der besten Kurzgeschichten dieser Epoche einzeln  einmal publiziert worden sind. Auch die Quellen der Veröffentlichungen vom CT Magazin über den Heyne Verlag bis zu rührigen ambitionierten Kleinverlagen zeigt, dass zumindest in den Jahren unter der Schirmherrschaft Wolfgang Jeschkes  und Rolf Heynes die deutsche Kurzgeschichte mehr als ein wenn auch vielleicht kommerziell die Verlage nicht gänzlich zufriedenstellendes Mauerblümchen  gewesen ist. 

  • Taschenbuch: 392 Seiten
  • Verlag: p.machinery; Auflage: 1 (1. September 2012)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3942533375
  • ISBN-13: 978-3942533379