Clarkesworld 144

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke geht auf die Nachwirkungen des letzten Worldcons inklusiv des Familientreffens ein. Immer wieder betont er die Relevanz der Zusammenarbeit nicht nur mit China, sondern auch dem entsprechenden Übersetzerteam. Leider hat sich in den letzten Ausgaben von „Clarkesworld“ gezeigt, dass Quantität nicht immer Qualität entspricht und die letzten aus dem Chinesischen übersetzten Geschichten nicht zu den stärksten Geschichten der jeweiligen Ausgaben gehört haben. Vielleicht sollten einige der Autoren Aletha Kontis Ratschlägen in dieser Ausgabe folgen, die aufzählt, welche Lieblinge (das bezieht auf Ideen und Vorstellungen) getötet werden sollten, damit ein Autor Erfolg haben kann. Es ist der informativste sekundärliterarische Beitrag dieser Ausgabe. 

 Das erste Essay der Ausgabe geht auf die Macht der Bakterien ein, die alleine durch ihre schnelle Evolution auf lange Sicht nachhaltig das Bild der Menschheit ändern werden. Erstaunlich lang für eine „Clarkesworld“ Ausgabe wird der Leser erst einmal durch einen Rück- und Überblick abgeholt, bevor ein wenig phantastisch beängstigend extrapoliert wird.  

 Chris Uries Interview mit Robinette Kowal stellt eine vor allem in Deutschland noch unbekannte Autorin vor, die mit ihrer ungewöhnlichen Alternativweltserie beginnend in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen und dem Thema „The Right Stuff“ einen interessanten Gegenentwurf hinzugefügt hat.

 Viele der insgesamt vier neuen Geschichten leiden unter einem Unglaubwürdigkeitsfaktor. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Storys schlecht zu lesen sind oder ihre Qualität leidet. Alleine die Ausgangsprämissen erscheinen nicht glaubwürdig genug, um den Plot wirklich zu trafen.

 „A Study in Oils“ von Kelly Robson, die eine Reihe von Essays für „Clarkesworld“ in den letzten Jahren geschrieben hat, steht in dieser Hinsicht an erster Stelle. Ein junger Hockey Spieler auf dem Mond wird des Mordes während eines Spiels angeklagt. Er flieht zur Erde und versucht der Asyl zu beantragen, während einige Mondbewohner sich auf die Suche nach ihm machen. Zum einen haben die Menschen vom Mond auf der Erde keine Schwierigkeiten, mit der höheren Schwerkraft fertig zu werden. Dieser Aspekt wird gänzlich ignoriert. Hinzu kommt, dass Zhang Lei vielleicht kein Unschuldsengel ist, sich aber auf der Erde im Exil ändern möchten. Im Laufe der Geschichte wird er dem Leser sympathischer. Er beginnt seine Bilder mit dem eigenen Blut zu malen, wird immer besser und erarbeitet sich so durch seine Kunst nicht nur den Respekt der Leser, sondern auch der Mitmenschen. In den Rückblenden wird aufgezeigt, dass er natürlich kein brutaler Mörder ist, auch wenn er wegen seiner Fahrlässigkeit Verantwortung übernehmen muss.

 Um noch mehr seine potentielle Unschuld aufzuzeigen wird demonstriert, dass vor allem die eigene Mannschaft ihn drangsaliert und mit Männlichkeitsritualen unter Druck gesetzt hat. Dabei überschreibt die Autorin bis zum Klischee die Grenze der Glaubwürdigkeit. Vor allem weil es anscheinend eine Art Beserkerknopf gibt, mit dem Menschen im Allgemeinen und der Protagonist im Besonderen ausgeschaltet werden kann. Die Funktion wird nicht weiter erläutert und vor allem scheint der Knopf auf der Erde genauso zu funktionieren wie auf dem Mond. Beide Welten unterliegen unterschiedlichen Justizsystemen, wobei Kelly Robson vor allem hinsichtlich der Diktatur auf dem Mond frustrierend vage bleibt.

 Zu den besten Sequenzen gehört ohne Frage der Hintergrund auf der Erde. In einem abgeschiedenen Tal lernt der Protagonist schließlich das Malen, die Beschreibungen sind überzeugend und ohne es weiter zu erläutern akzeptiert der Leser, dass die meisten Menschen inzwischen unter der Erde leben und nicht mehr auf der Oberfläche wie diese kleine Gruppe, die aber auf der anderen Seite nur so lange schwer zu finden ist, wie es dauert, den Prozess auf dem Mond wieder in Gang zu bringen.

 „A Study in Oils“ ist ein ambivalentes Lesevergnügen, dessen ohne Frage ambitionierter Plot allerdings eher in den Details enttäuschend entwickelt worden ist, damit der Handlungsbogen funktionieren kann.

 „Waves of Influence“ von D.A. Xialin Spires beschreibt eine Welt, in welcher man eine Begegnung mit einer Medienpersönlichkeit gewinnen kann. Allerdings ahnt diese nicht, dass der Gewinner betrogen hat, um sie nach der Begegnung zu ersetzen. Die Motivation ist nicht unbedingt nachhaltig genug herausgearbeitet, da der Betrüger selbst inzwischen eine entsprechend bekannte Persönlichkeit ist, die sich vor allem der eigenen Familie im Allgemeinen und der sterbenden Schwester im Besonderen gegenüber rücksichtslos egoistisch und berechnend verhält. Als Persönlichkeit scheinen alle Protagonisten eher eindimensional entwickelt und pragmatisch beschrieben worden zu sein, damit der Plot funktionieren kann. Interessant ist, dass diese negativen Entwicklungen nicht von außen zu den Protagonisten getragen werden, sondern das die Saat in ihnen selbst schon lange keimt und schließlich mit der Begegnung ausbricht. Das wirkt rückblickend ein wenig konstruiert, aber diese fremdartig und doch auch ein wenig vertraute Welt der C Prominenten und der Huldigung durch die kritiklosen Medien scheint aus der Gegenwart entnommen und entsprechend extrapoliert worden zu sein. Ohne Pathos oder Kitsch wird eine brutale Verdrängungsgesellschaft nicht auf der obersten Ebene, sondern eher im belang- wie bedeutungslosen Mittelmaß beschrieben. Vielleicht liegt hier auch der größte Reiz des Textes.

 „The Foodie Federation Dinosaur Farm“ von Luo Longyiang versteckt seine potentielle soziale Kritik hinter einer schlechten stilistischen Ausführung, die vor allem auch durch Neil Clarkes Lektorat nicht wirklich besser geworden ist. Die Dialoge sind pointiert und Ziel führend, aber die Hintergrundbeschreibungen und vor allem auch die zu stark wechselnden Perspektive ohne eine jeweilige Vorbereitung des Lesers verwirren. Dabei alternieren die distanzierte dritte Person Handlungsebene mit der intimen Ich- Erzählerperspektive, ohne das diese Wechsel wirklich nachvollziehbar sind. Zusätzlich muss der Autor einige logische Kompromisse eingehen, damit der Plot zusammenbleibt. Je weiter sich der Erzähler aber gegen die innere Logik dehnen und verbiegen muss, desto unglaubwürdiger wird das Gesamtkonstrukt. An Bord eines Raumschiffs planen die Dinosaurier den Aufstand gegen die Menschen. Es handelt sich um derartig intelligente Bestien, das sie Menschenfleisch per se als ungenießbar ablehnen, die menschliche Kochkunst aber schätzen. Warum intelligente Dinosaurier mit Menschen an Bord eines Raumschiffs dienen wird ebenso wenig erläutert wie die Tatsache, dass ein junger Arbeiter aus der Fleischpackerabteilung – ebenfalls undenkbar an Bord eines normalen Raumschiffes – sich gegen den Anführer der Dinosaurier vor allem mit Intelligenz und abschließend List/ Tücke durchsetzen muss. Unabhängig von den wenigen Actionszenen versucht der Autor dem Leser eine neue Lebensphilosophie zu vermitteln, die abschließend während des Finals aber wieder auf den Kopf gestellt wird.

Die eigentliche Geschichte ist ohne Frage spannend, aber im Epilog versucht der Autor zu viel auf einmal zu umfassen und macht aus dem finalen Duell zwischen Mensch und Bestie eine existentielle Frage, die so an keiner anderen Stelle der Geschichte im Raum gestanden hat. Unabhängig von der Frage, warum Menschen überhaupt die Bestien an Bord nehmen sollen bzw. die Dinosaurier noch mit den aus ihrer Sicht schwachen Menschen diskutieren sollten.       

 Auch wenn die Novellenform besser für „Dandelion“ von Elly Bangs gewesen wäre, handelt es sich nicht nur um die beste Kurzgeschichte dieser „Clarkesworld“ Ausgabe, sondern einen der originellsten Texte des ganzen Jahres. Eine offensichtlich außerirdische Sonde mit sechs Tonnen Gewicht ist in der Arktis gefunden worden. Sie ist mindestens 1.7 Millionen Jahre alt. Die noch an Bord befindlichen Bakterien beweisen, dass das Leben auf der Erde gepflanzt worden ist. Das ist keine neue Idee und wird auch eher nebensächlich abgehandelt. Überrascher ist die verwandte Technik. Sie entspricht dem gegenwärtigen Stand der menschlichen Technik mit einem Raumfahrzeug, das mittels explodierender Atombomben angetrieben wird. Überlichtflug scheint unmöglich, die technische Evolution hat ihre Grenzen erreicht. Diese schockierende der Science Fiction widersprechende Idee hat überraschende Folgen auf der Erde.

Neben der implizierten, aber sehr schönen ökologischen Botschaft lässt sich vielleicht über den politischen Sinneswandel vieler Länder streiten und die Entwicklung geht auch zu schnell, aber die Autorin vereinigt eine Reihe von wirklich originellen Ideen und schafft es, dem Leser das Gefühl zu geben, das die Zukunft zwar technologisch begrenzt, aber nicht notwendigerweise dunkel sein muss. Die Anspielungen auf verschiedene UFO Phänomene ist vielleicht zu auffällig, aber als Ganzes eine wunderschöne kompakte und kurzweilig zu lesende Geschichte.

 Bei den Nachdrucken ragt Karen Lord und Tobias S. Buckells „The Might Slinger“ heraus. Wie „Dandelion“ behandeln die Autoren große Ideen. Das Sonnensystem ist besiedelt, die Erde ausgebrannt. Im Asteroidengürtel entsteht eine gigantische Kolonie. Zwischen den Sternen reist eine Gruppe von Musikern, die politische Botschaften in ihren bekannten und leicht verfremdeten Liedern versteckt. Die meiste Zeit verbringen sie im Tiefschlaf. Als die reichen Kolonien die Erde mittels Terraforming quasi auf Null stellen wollen, was den Tod einiger Millionen von Menschen bedeuten, werden die Sänger fast widerwillig zur Stimme der Erde. Die Charaktere sind ausgesprochen dreidimensional gezeichnet. Durch die Tiefschlafphasen können die Autoren ein epochales Bild der Eroberung des Sonnensystems vor allem durch kapitalistische Konzerne zeichnen, welche auf die Bedeutung der Erde als Wurzel des menschlichen Lebens keine Rücksicht nehmen. Das Finale ist wie bei jedem richtigen Konzert gigantisch, ein wenig kitschig und pathetisch, aber ausgesprochen effektiv. Vor allem schließt sich im Epilog ein mächtiger Kreis. Nicht jede der vielen kleinen Ideen ist logisch und bis zu Ende durchdacht, aber alleine die Stimmung und die vielen kleinen Situationen haben die Novelle aus der Masse der guten Rock Opern innerhalb der Science Fiction Literatur positiv heraus.

 Peter Watts und Derryml Murphy versuchen mit „Mayfly“ einer alten Idee der SF neue Impulse zu verleihen. Ein vierjähriges Kind geboren mit einem massiven Hirnschaden aufgrund der gefährlichen Tätigkeit der Eltern auf der Umwelt verseuchten Erde wird mittels eines Kabels an einen Server angeschlossen, der ihre Gehirnfunktionen ersetzt. Das Experiment kann aus verschiedenen Perspektiven nur schief gehen und die beiden Autoren zeigen nicht nur die tatsächlichen Folgen, sondern folgen die emotionalen Wechselwirkungen zwischen den frustrierten Wissenschaftlern und den enttäuschten Eltern. Dabei werden in der Kürze des Textes eines Reihe von moralischen Fragen zumindest gestreift, so dass „Mayfly“ weniger aufgrund der Handlung, sondern der zahlreichen sozialen Implikationen den Leser nachdenklich stimmt.

 Die September Ausgabe von „Clarkesworld“ hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Drei der vier neuen Geschichten können aus verschiedenen Gründen nicht überzeugen, dafür entschädigt nicht nur „Dandalion“ mit seiner weitreichen Perspektive, sondern vor allem die beiden Nachdrucke gehören zu den stärksten Abschnitten der Ausgabe.    

E Books, 112 Seiten

www.clarkesworldmagazine.com