Bilder einer Ausstellung

Marianne Labisch, Marco Habermann, Gerd Scherm (Hrsg.)

 Die Geschichtenweber haben eine ungewöhnliche Anthologie zusammengestellt. Basierend auf den Bildern von Viktor Hartmann – sie sind entsprechend ihrer Inspirationen zusammen mit lyrischen Einschüben des Mitherausgebers Gerd Scherm den Texten vorangestellt – und die Idee der musikalischen Adaption durch Hartmanns Freund Mussorgski weiterführend versammeln sich hier unter dem markanten Titel „Bilder einer Ausstellung“ zwei Handvoll sehr unterschiedlicher phantastischer Texte. Verleger Michael Haitel hat das Format seiner „Inspirationen“ gewählt, um vor allem die Bilder zur Geltung kommen zu lassen.

Auch wenn es sich um die zweite Geschichte der Anthologie handelt, empfiehlt es sich, die Lektüre nach den drei einleitenden Vorwörtern von Marianne Labisch, Marco Habermann und Gerd Scherm mit „Das Lied des Troubedaours“ von Stefan Cernohuby zu beginnen. Hier stellt sich Viktor Hartmann persönlich im Grunde als Vorgriff auf die tatsächlichen Ereignisse vor, wie seine Bilder musikalisch untermalt wirken könnten. Dazu hat Hartmann extra einen Musiker angeheuert, mit dem der Künstler anscheinend auch gerne einen über den Durst trinkt. Während die Vorwörter die Freundschaft zwischen Hartmann und Mussorgski kurz umreißen, den Einfluss vor allem der Musik dank zahlreicher Interpretationen bekannter Künstler mit „Emmerson, Lake & Palmer“ zu unterstreichen suchen, geht die Kurzgeschichte den anderen Weg und stellt erst den Künstler sowie später die Musik in den Mittelpunkt des kompakten Geschehens.

Gerd Scherm lässt Viktor Hauptmann über den berühmten Friedhof am Pariser Montmatre bummen. "Die Tulerien brennen" ist wie einige andere Texte dieser Ausgabe weniger eine stringente Geschichte als eine Impression, eine verbale Interpretation des entsprechenden Bildes mit vielen Freiräumen. Grundsätzlich nicht verkehrt und intellektuell stimulierend, aber die Aufgabe ist es gewesen, den Bildern und der Musik in Form von Geschichten oder Gedichten eine weitere künstlerische Form hinzuzufügen.

Die Sammlung wird eröffnet durch F.A. Peters „Der Weg des Gnomus“. Der Leser muss aber wissen, dass es sich nur um den Auftakt einer längeren Arbeit handelt, die zeitgleich als eigenständige Ausgabe veröffentlicht worden ist. Daher fällt es schwer, diese dunkle, atmosphärisch fast erdrückende in einem Wanderzirkus oder besser Kuriositätenkabinett spielende Geschichte wirklich abschließend zu beurteilen. Der Erzählaufbau ist interessant, die Figuren bizarr wie kurzweilig gezeichnet, aber die Handlung lässt sich (noch) nicht beurteilen. Es ist auf der einen Seite wahrscheinlich wichtig, auf diese Art und Weise auf das parallel publizierte Werk hinzuweisen, auf der anderen Seite ist der Text eine stimmungsvolle Einführung in die Welt Viktor Hartmanns und deswegen Stimmungstechnisch gut an den Beginn der Anthologie gestellt. Im Nachwort wird erläutert, das der Text einfach alle Dimensionen gesprengt hat.

 Das meiste Potential bieten abschließend die Geschichten, in denen die Bilder weniger kommentierend als grundsätzlich interpretiert wird. In einem eigenen Ambiente und teilweise modernen Bezügen. Noemi Sacher geht in "Der Ochsenkarren" die Geschichte aus den unterschiedlichen Perspektiven eines Ehepaares an, das sich im Grunde viel sagen möchte, aber keinen Weg mehr weiß, in dem das Funktionieren kann. Beide haben unterschiedliche und doch im Kontext gleichen Alpträume, die ihre alltäglichen Rollen widerspiegeln. Flott geschrieben mit einem so leider typischen Blick hinter die Kulissen des modernen Arbeitsleben und gleichzeitig voller Bezüge auf die Vereinsamung der Menschen selbst in Gesellschaft.

 Wahnsinn spielt in einer Reihe der Texte eine wichtige Rolle. Beginnend bei „Pas de Deux“ von Gabriele Behrend zeigen die Autoren den schmalen Grat zwischen noch akzeptablen Verhalten und wahnhaften Vorstellungen bis zur von Krankheit initiierten Verrücktheit auf. Gabriele Behrend beschreibt einen Macho, der neben einem One Night Stand auch eine Einleitung zu einer besonderen Ausstellung erhält, die ihn nicht mehr loslässt. Emotional überzeugend ohne zu pathetisch oder zu auffällig zu agieren beschreibt die Autoren dieses Abgleiten in einen für den Leser eher bizarren Zwischenraum. Interessant ist, dass Gabriele Behrend eine der wenigen Autoren dieser Anthologie ist, die abschließend den Bogen zur Musik schlagen, welche von Hartmanns Werken ja inspiriert worden ist. Paul Sanker geht in „Die Ruhe nach dem Andante Gravo“ in die Zeit des Nationalsozialismus zurück. Der intensive Text spricht verschiedene historische Themen an. Beziehungen zwischen Juden und Nationalsozialisten; die Balance zwischen Gefälligkeiten und der Angst der Endlösung auf jüdischer Seite und schließlich den Rassenhass der Hundertprozentigen auf Seiten der Nationalsozialisten. Paul Sanker wirft während des guten Auftakts und im Mittelteil einer Reihe von interessanten Fragen auf, für die er absichtlich keine Antworten entweder anbieten will oder offerieren kann. Die Intensität der Story unterminiert der Autor mit dem klischeehaften Charakterbild des geisteskranken wie gehörten Deutschen. In diesem Punkt wirkt vieles zu Trivial und der Leser hätte sich eine eher minutiöse Zeichnung nicht nur der Figuren, sondern vor allem der Auflösung der Konflikte gewünscht.

 Theoretisch hätten die Herausgeber auch den längsten Text dieser Sammlung „Ex Inferis“ von Sascha Dinse hinter „Mit den Toten in einer toten Sprache“ platzieren können. Inhaltlich bauen die beiden Geschichten mit der Aufgabe eines alten Friedhofs und der Verlegung der Leichen in die unterirdischen Steinbrüche von Paris sowie der verhängnisvollen touristischen Attraktion der Katakomben aufeinander auf. Sascha Dinse gelingt es, eine unheimliche Story zu erzählen, dessen Zusammenhänge wie bei einigen anderen Arbeiten dem Leser sehr viel schneller klar sind als dem tragischen Protagonisten, die aber durch eine Abfolge von unheimlichen Szenen; dem Aufbrechen der Chronologie und schließlich dem morbiden Hintergrund den Leser trotzdem in seinen Bann schlägt. Es ist schwierig, dem Horrorgerne neue Ideen abzugewinnen und Sascha Dinse konzentriert sich sehr stark auf Versatzstücke, aber die Art der Präsentation hebt die auch auf der charakterlichen Ebene überzeugende Story aus der Masse hervor.

 Trotzdem stellt Regine D. Ritter Sascha Dinses Text in den morbiden Schatten. Beginnend mit der Grundidee der Verlegung eines Friedhofs voller Geschichte und Geschichten durch einen jungen ambitionierten und beruflich talentierten Mann über die Begegnung mit der Tochter des letzten Bestatters des Friedhofs oder die Totenmärsche durch das nächtliche Paris und endend passend bei einer kirchlichen Zeremonie spinnt die Autorin ein packendes Garn. Die phantastischen Elemente sind wie bei einigen anderen Geschichten dieser Sammlung im Auge des Betrachters zu finden. Das Team begnügt sich nicht selten mit unerklärlichen Phänomenen, dem Rückgriff auf Legenden und schließlich Implikationen. Vielleicht handelt es sich nur um Visionen der geisteskranken Charaktere, die mit ihren schlechten Gewissen konfrontiert werden. „Mit den Toten in einer toten Sprache“ fasst im Grunde den Plot sehr gut zusammen. Minutiös, stimmungsvoll, morbide und doch auch ein wenig optimistisch beschreibt die Autorin ein Vorhaben, das zeitlos ist und immer unheimlich bleiben wird. Vielleicht ragt deswegen dieser Text auch so stark aus der Sammlung heraus.

 In einigen anderen Arbeiten werden die Grenzen zwischen Kunst und „Realität“ überschritten. Auch wenn der grundlegende Plot von Verena Jungs „Ignoranz stirbt nie“ nicht neu ist, gelingt es der Autoren, aus der Vorlage Viktor Hartmanns zumindest eine interessante von Vorurteilen und Eitelkeiten gezeichnete Geschichte zu machen. Während die Opfer zu wenig zu Wort kommen, reiht sich die Autorin in den erstaunlichen Reigen von Autoren ein, die seltsam bizarre bis unsympathische Protagonisten in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten gestellt haben und trotzdem den Leser für diese tragischen Antihelden interessieren konnten.

 Mit zwei „russischen“ Arbeiten endet diese besondere Anthologie. Detlef Klewers „Die Hüte der Baba Jaga“ beschreibt die Suche einer dem Alkohol zugewandten Polizistin nach einem verschwundenen Mädchen, das sich nach einer nächtlichen Odyssee durch einen Moskauer Alptraum in das besondere Haus der Baba Jaga geflüchtet hat. Die erste Hälfte der Story ist ausgesprochen mit dem richtigen Gespür für eine bedrohliche Atmosphäre vor dem Hintergrund einer weiterhin exotisch fremdartig wirkenden Stadt, während das Ende zu gedrängt, zu mystisch und ein wenig zu stark auf den Moment hin konstruiert ist. Der Hinweis im Titel auf die Baba Jaga ist gut gesetzt, aber der abschließende Funke will nicht überspringen. Herausgeberin Marianna Labisch erzählt dagegen in das alte Leiden des Teufels, dessen Pläne – der Text heißt auch „Der Plan“ - sich immer in letzter Sekunde in Luft auflösen. Auch wenn inhaltlich keine neuen Impulse verliehen werden, liest sich der Text zufriedenstellend gut. In einem direkten Vergleich zwischen den in Russland spielenden Storys und der Parisfraktion überzeugen die „französischen“ Variationen deutlich mehr, während insbesondere die beiden letzten Storys das durchaus vorhandene Potential zu wenig heben.

 Im Anhang finden sich neben der Vorstellung der einzelnen an dem Projekt Beteiligten noch chronologischen die unterschiedlichen musikalischen Bearbeiten des den Titel der Anthologie bildenden Stücks. Eine eindrucksvolle Liste. „Bilder einer Ausstellung“ erreicht in einem direkten Vergleich mit „Inspirationen“ nicht das Niveau der dort versammelten, deutlich experimentelleren Geschichten. Stilistisch stehen sich die Texte beider Sammlungen in Nichts nach, aber einige der Beteiligten agieren in „Bilder einer Ausstellung“ teilweise mit einer spürbaren Handbremse. Sie versuchen entweder experimentell zu sein und vernachlässigen den Plot oder der Inhalt der Geschichten ist zu bekannt als das sie ansprechenden Formen diese Schwächen gänzlich ausgleichen können. Aber in Kombination mit den graphischen Vorlagen Viktor Hartmanns sollte der Leser die Geduld haben, sich in die Anthologie herein zu arbeiten. Die mittleren Geschichten sind die besten Texte. Nicht zuletzt dank der morbiden, dreidimensionalen Atmosphäre und einigen überraschenden handlungstechnischen Wendungen.

 Als Experiment ist „Bilder einer Ausstellung“ beginnend bei den Herausgebern, den sich der Herausforderung stellenden Autoren und schließlich auch dem mutigen Verlag wie „Inspirationen“ provokativ herausragend. Ob sich angesichts des heute eher unbekannten Künstlers überhaupt ein Markt für diese Veröffentlichung finden wird, steht in den Sternen. Aber wie Viktor Hartmann oder Mussorgski in ihrer Zeit kommt es auch nicht unbedingt gleich auf den Erfolg drauf an, sondern den Mut, einen anderen Weg gegangen zu sein. Stimmungsvollen sind diese wenige klassischen Horror als eher in den Bereich der Weird Fiction einzuordnenden Storys auf jeden Fall.

 

Marianne Labisch, Marco Habermann, Gerd Scherm (Hrsg.)
BILDER EINER AUSSTELLUNG
Außer der Reihe 28
p.machinery, Murnau, September 2018, 132 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 143 3 – EUR 14,90 (DE)
Hardcover: ISBN 978 3 95765 144 0 – EUR 25,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 7438 8153 2 – EUR 7,49 (DE)

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