Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch

Martin Barkawitz
Martin Barkawitz ist ein routinierter Unterhaltungsautor, der vor allem neben einer interessanten Atmosphäre Wert auf Tempo zu legen scheint. Auch wenn der plakative Titel seines Sherlock Holmes Roman nicht richtig ist, passt er grundsätzlich zum Thema. Natürlich kann Sherlock Holmes den berühmten wie umstrittenen niederländischen Künstler Hieronymus Bosch nicht jagen, denn zu Sherlock Holmes Leb- und Arbeitszeiten ist der Künstler schon lange tot gewesen. Sein Werk erlebte im 19. Jahrhundert eine Art Wiederentdeckung. Wie bei den meisten Pschothrillern jagt der berühmte Londoner Detektiv einen Psychopathen, welcher dessen Werke nachstellt. Erstaunlich ist, dass es keine Anspielungen auf Jack the Ripper zu geben scheint. Wie einige anderen Sherlock Holmes Geschichten baut der Autor einen eigenen Kosmos basierend auf den Leitplanken des Sherlock Holmes Sujets auf. Das er sich mit der Materie beschäftigt hat, zeigen vor allem die Eingangskapitel, in denen der Autor liebevoll und detailverliebt beschreibt, wie Doktor Watsons Leben nach der Rückkehr in die Baker Street im Umkreis des berühmten Detektivs verläuft. Der Leser hat den Eindruck, als wolle sich Martin Barkawitz selbst und anschließend seine Leser versichern, dass er den Kanon nicht nur respektiert, sondern sich mit zahlreichen kleinen Exkursen in ihm sicher bewegen kann.
 
Dabei handelt es sich grundsätzlich nicht unbedingt um eine neue Idee. Im Sujet der Psychothriller gibt es unzählige Variationen dieses Themas, die alle über verschiedene ausgelegte Spuren, meistens direkte Provokationen der ermittelnden Detektive bis zum dramaturgisch intensiv inszenierten Finale nach dem gleichen handlungstechnischen Muster ablaufen. Das ist auch beim vorliegenden Buch der Fall. Aber innerhalb dieser subjektiven Grenzen des Genres gibt es nicht nur qualitative Unterschiede, sondern nicht selten beziehen die Bücher ihre intensive Spannung auf den handelnden und betroffenen Personen sowie den mehr oder minder perversen Taten der Täter.
 
Für einen Sherlock Holmes Roman ist das aber auch eine fast perfekte Ausgangslage. Der Psychopath versucht sich mit dem Besten der Besten in dieser viktorianischen Welt zu messen, wobei Sherlock Holmes durch einen Zufall in die Ermittlungen einbezogen wird. Ein älterer Handwerker bittet ihn, den Mord an seiner Tochter aufzuklären. Ihre bestialisch verstümmelte Leichte ist gefunden worden. Die Polizei in Person von Inspektor Lestrade scheint dieses Mal nicht überfordert, sondern hat aufgrund zweier ähnlicher Taten gleich einen Verrückten aus dem Gefängnis geflohenen Verbrecher im Auge. Sherlock Holmes erkennt aber, dass der Täter die Gemälde von Hieronymus Bosch nachstellt und Lestrdes Verdächtiger im Grunde intellektuell nicht in der Lage ist, so künstlich Menschen zu verstümmeln.
 
Als Sherlock Holmes noch der Finger seines Auftraggebers abgetrennt zugeschickt wird, weiß er, dass es zu einem persönlichen Duell zwischen dem Bosch Fanatiker und ihm kommen wird.
 
Martin Barkawitz nimmt sich unahhängig von dem stringenten und rasant verlaufenden Platz die Ruhe, vor allem die Hintergründe und die Nebenfiguren sehr sorgfältig zu charakterisieren und zu etablieren. Bei allen Schauplätzen wird vom Erzähler Doktor Watson bzw. in den Niederlanden von allwissenden Sherlock Holmes die Geschichte kurz abgerissen. Die Opiumhöhlen im East End und das Wasserschloss gehören Sherlock Holmes; die nebligen Londoner Straßen den Baker Street Jungs und Doktor Watson kümmert sich um die medizinische Aspekte, wobei er bei einem ehemaligen Berufskollegen und inzwischen Engelsmacher weit über das Ziel hinausschießt. Die Beschreibungen sind allesamt prägnant und kompakt, die Exkurse mancher Pastiche Autoren werden vermieden. Vor allem die Szenen in den Opiumhöhlen oder im Wasserschloss gehören in dieser Hinsicht zu den stimmigen Höhepunkten der Handlung. Während Doktor Watson alles verurteilt, ist es der ausgleichende Sherlock Holmes, der nicht nur eine verstörende Faszination in den Handlungen seines Gegenspielers und den ausgelegten Spuren entdecken kann, sondern so etwas wie eine abstoßende Bewunderung für die minutiösen Planungen empfindet. Nur hätte Martin Barkawitz einige dieser relevanten Schlüsselszenen besser und spannungstechnisch herausfordernder ausspielen können, um die kleinen Details auch inhaltlich ausreichend zu würdigen. Wichtig ist es, das Tempo hochzuhalten. Das geht aber manchmal zu Lasten der Komplexität der Handlung.
 
Die Idee der Provokation durch die Entführung wird erst am Ende wieder aufgegriffen. Die Hinweise einer holländischen zwielichtigen und nicht mehr erfolgreichen Opernsängerin sind genauso so getimmt, dass der Täter einen Schritt voraus sein kann. Die Falle im Wasserschloss in den Niederlanden funktioniert natürlich so gut, dass der ein wenig naive Sherlock Holmes mit einer Täuschung, aber keiner derartigen Falle rechnet. Die anschließende Aktion ist effektiv und wird aus dem Nichts heraus improvisiert. Hinsichtlich des Finals zeigt sich, dass Psychopathen über die eigenen Eitelkeiten fallen und so gibt es auch nur ein mögliches Versteck in dem verruchten Viertel, auf das Sherlock Holmes nach einigen Recherchen seiner Straßenjungs direkt mit der Nase durch Zeugenaussagen hingewiesen wird. Die Faszination vieler Sherlock Holmes Geschichten besteht aus dem Zusammensetzen der einzelnen Puzzlestücke inklusiv einer entsprechenden Beobachtungsgabe. Martin Barkawitz baut zwar die einzelnen Beobachtungen und daraus von Sherlock Holmes effektiv abgeleitet Hinweise auf den Täter und seine verrückten Motive ein, der Rest setzt sich aus Zeugenaussagen von den Personen zusammen, mit denen Holmes etwas zufällig oder vom Psychopathen geleitet als mögliche falsche Spur zusammentrifft.
 
Dabei geht der Täter manchmal ein wenig zu naiv vor und scheint Lestrade - er ist andersweitig beschäftigt und kommt trotzdem nur dank Doktor Watson ans Ziel - mit Sherlock Holmes zu verwechseln. Die Spuren sind minutiös gelegt und müssten spannungstechnisch mit einem anderen Ermittler als Sherlock Holmes viel überzeugender erscheinen. Aber innerhalb von wenigen Sätzen durchschaut er die wieder falsche Spur und zieht seinen Nutzen aus ihr. Das wirkt spätestens bei der zweiten Situation zu statisch und zu wenig effektiv. Mit einem anderen Ermittler, vor allem einer Figur, welche der Leser noch nicht so gut in unterschiedlichen Variationen, aber der gleichen Ausrichtung kennt, wäre "Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch" sogar ein exzellentes Buch geworden. Ein anderer Ermittler hätte vielleicht länger Zweifel gehabt, mehr den roten Fäden folgend Fehler gemacht, aber Sherlock Holmes löst den Fall im Grunde zu schnell und zu effektiv.
 
Auf der anderen Seite ist die Konzeption des Buches für Sherlock Holmes Fans mal etwas Anderes. Neben den Hinweisen auf den exzentrischen Künstler und sein ungewöhnliches wie provokantes verstörendes Werk hat Martin Barkawitz ein Gespür für eine packende, wenn auch manchmal ein wenig oberflächliche Handlungsführung und die entsprechenden Hintergründe. Auch kann er mit Sherlock Holmes und Doktor Watson sehr viel besser umgehen als manche anderen Autoren, so dass unabhängig von den kleineren konstruktiven Schwächen "Sherlock Holmes jagt Hieronymisch Bosch" eine solide Bereicherung des Psychopathengenres mit einem klassisch ermittelnden Sherlock Holmes ist.

Band 08, Historischer Kriminal-Roman
ISBN: 978-3-89840-394-8
Seiten: 224 Taschenbuch

Künstler: Mark Freier
Künstler (Innenteil): Mark Freier

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