Digit

Michael Weisser

Michael Weissers zweiter Roman "Digit" ist selbst in der Urfassung, in der jetzt vorliegenden Überarbeitung und der  einigen Ecken sowie Kanten bereinigten überarbeiteten Neuausgabe  deutlich stärker als sein Erstling „Syn Code 7“.  Im Gegensatz zu "Syn Code" hat sich der Autor unabhängig von einer irgendwie vergleichbaren Grundhandlung mehr bemüht, ambivalente Charaktere zu erschaffen und das zugrundeliegende Problem ambitionierter, aber auch gleichzeitig diffuser zu gestalten. 

Die Neuausgabe im p.  machinery Verlag umfasst einen langen Artikel von Michael Weisser, in dem er geschickt den Bogen aus den achtziger Jahren mit der Entstehung seines Romans bis in die Gegenwart an Hand des allgegenwärtigen Smartphones schlägt.  Fundiert, sachlich, mit einigen heute in Vergessenheit geratenen Exkursen zeigt Michael Weisser im Grunde exemplarisch auf, wie die Gesellschaft sich mit und teilweise auch gegen die Technik verändert hat. Natürlich handelt es sich nur um einen sozialen Zeitraffer, aber mit einer gewissen kritischen Distanz der allgegenwärtigen digitalen Technik gegenüber weißt der Autor parallel auf die Chancen und Risiken hin. Interessant ist, dass er seine Meinung hinsichtlich der sozialen Strukturen gegenüber seinen ersten Romanen deutlich verändert hat.  Technik und Menschlichkeit bilden weiterhin überspitzt eine fast unbeabsichtigte Symbiose, aber die extreme technophile Fokussierung seiner Zukunftsvisionen kann er nicht unbedingt mehr in der Gegenwart trotz der virtuellen Welt und der Allgegenwart/ Allmacht des Handys nicht nur als transportablen Computer, sondern Lauscher am Ohr und nicht mehr an der Wand erkennen.

 "Digit" basiert auf einer interessanten Prämisse. Schaut man sich den Plot ohne zu weit vorzugreifen vom Ende her kann, gibt es zwei konträre Interpretationsmöglichkeiten.  Es besteht die Möglichkeit, das das ausgewählte Team erfolgreich gewesen ist und  die eher "vage" Bedrohung eliminieren konnte.  Auf der anderen Seite lässt Michael Weisser der Spieltheorie folgende auch die Interpretation zu, das das Team ebenfalls erfolgreich gewesen ist und jetzt zusammen mit der Schwachstelle beseitigt wird.  Damit die vom Autoren entwickelte perfekte Welt auch so vordergründig sozial und menschlich bleibt.  Für  Leser, die gerne einen abgeschlossenen Roman in Händen halten, frustriert diese zu offene Möglichkeit, aber im ganzen Plot geht es Michael  Weisser um eine im Grunde bizarre Variation eines  perfiden Spiels, das aufgrund der Unwägbarkeiten sowohl "Syn Code  7" und Michael Crichtons "Andromeda-  tödlicher Staub aus dem All" mit der globalen Rettung durch eine Handvoll Spezialisten ähnelt, diese Idee aber auch auf eine weitere sehr zynische Ebene trägt. 

 Er spricht von einer Welt der digitalen Vollversorgung, in welcher alles zumindest für einen Teil der Bevölkerung „perfekt“ ist, die aber nie eine Art virtuellen Schiffbruch erleiden darf. Und kann das könnte geschehen sein. Aber deutlich wird es an keiner Stelle, denn eine entsprechende Katastrophe wäre wahrscheinlich hinsichtlich der Rettungsmöglichkeiten anders angegangen worden. Es wirkt wie eine Art pervertierte Trockenübung oder das Schließen einer weiteren Systemhintertür durch das unfreiwillige Ausnutzen von „Freiwilligen“.  

 Auf den ersten Seiten stellt Michael Weisser eine sehr unterschiedliche Reihe von Protagonisten  vor. Auf ihren Schultern liegt der  Plot verbunden mit dem jeweils das Kapitel abschließenden Inter Com Priorität der ersten Stufe. Wie eingangs erwähnt  versucht Michael Weisser unabhängig von der wieder sehr stilisierten Namensgebung dreidimensionalere Figuren zu zeichnen. Die Name wirken aber zu künstlich und teilweise wie „Byteheart“  so funktionell, das der Leser nicht unbedingt an Menschen selbst einer sterilen Zukunftswelt glaubt, sondern eher von Chiffren ausgeht, welche in einer Simulation Menschen ersetzen. Dem ist aber nicht so, sondern Michael Weisser folgt der Tradition der Antiutopisten und erschafft eine distanzierte Kunstwelt, in der sich extreme „Typen“ in einem durchaus luxuriösen wie gelangweilten Umwelt zu bewegen haben.

 Neben ihren speziellen Fähigkeiten erfährt man ein wenig über ihr Umfeld. Dabei wirken die Figuren teilweise sehr hype, sehr affektiert charakterisiert.  Es ist eine extreme Welt, in welche der Autor den Leser einlädt. Im Grunde aus heutiger Sicht auch eine so typische anitutopische Version der achtziger Jahren mit einer idealisierten Version eines nur in der Theorie funktionierenden Sozialismus,  reduziert auf eine exemplarische Wohlstandsoase mit einem nicht näher beschriebenen Proletaterierbeiwerk.  An einigen Stellen hat der Leser das unbestimmte Gefühl, eine Mischung aus Galouyes "Welt am Draht" und "Der Matrix" zu lesen.  Im Laufe der Handlung müssen diese fünf Männer und Frau zusammenarbeiten und es doch wieder nicht tun. Sie werden mit diesem besonderen Alarm zu einem Treffpunkt gerufen, an dem ihnen eine schizophrene Aufgabe gegeben wird. Sie sollen eine nicht näher beschriebene "Gefahr" bekämpfen und Abwehrprogramme entwickeln, welche das System bedrohen. Der Codename und gleichzeitig eine der zahlreichen Abkürzungen ist DIGIT.  

 Michael Weisser stellt bei dieser Vorgehensweise ein handlungstechnisches Klischee auf den Kopf. Normalerweise existiert die Gefahr; ein Team wird  zusammengestellt, um diese Gefahr zu bekämpfen und am Ende siegt meistens das,  was der  Leser als  "das Gute" identifizieren kann. Da die Mitglieder der Gruppe  weder die anderen Mitkämpfer noch im Grunde die eigentliche Gefahr kennen, wird dieses inhaltliche Handlungsmuster auf den Kopf gestellt. Anscheinend drückt  auch nicht die Zeit, denn nach der Vorstellung der einzelnen Teammitglieder einzeln und individuell haben die jetzt die Möglichkeit, sich in der Abgeschiedenheit der Anlage kennenzulernen und gemeinsame Arbeitsweisen festzulegen, obwohl die Bedrohung weiterhin ambivalent ist.  

 Im Mittelteil des Romans hat Michael Weisser allerdings auch die Schwierigkeit, das gleich zu Beginn aufgebrochene starre Handlungssystem zu "kitten", in dem er Schritt für  Schritt auf der Suche nach der Bedrohung ja auch einen Gegenpol entwerfen muss.  Einige der obligatorischen falschen Fährten wirken bemüht und wie bei  "Syn Code 7" fehlt wichtigen Abschnitten des Romans das spannungstechnisch notwendige Momentum.  Selbst in der überarbeiteten Fassung durch einen deutlich lebenserfahrenen Michael Weisser verliebt er sich immer wieder in einzelne Details, die ausführlich beschrieben werden, gleichzeitig aber den ein wenig phlegmatischen Handlungsbogen in diesem Augenblick zum Stillstand bringen. 

 Das große Problem ist, dass die einzelnen Teammitglieder im Laufe der Handlung ihre Individualität absichtlich oder zufällig verlieren.  Beginnend mit der Herausforderung, alles zum Synonym DIGIT -  später könnte man kritisch auch von einem MacGuffin in der Tradition Hitchcocks sprechen – in den Rechner zu schreiben und damit irgendwie  auch den Bock zum Gärtner zu machen wartet der  Leser lange,  bis das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen beginnt. In diesem Moment überschlagen sich die Ereignisse und Michael Weisser agiert fast zu hektisch, um die verschiedenen interaktiven, aber niemals überzeugend verbundenen Baustellen seines Buches miteinander zu verknüpfen. Eine Aufgabe, die anscheinend der allgegenwärtige und trotzdem als  Persönlichkeit enttäuschend neutrale Rechner ja dank der gütigen Mithilfe der fünf „Freiwilligen“ schon lange übernommen hat. 

 Wenn Michael Weisser von der individuellen, der  kollektiven und schließlich auch der Intelligenz des Systems spricht, scheint er alle Fronten abzuarbeiten, ohne wie der schweigende Rechner  selbst eine Antwort anbieten zu können.        

 Zusammengefasst ist „Digit“ im direkten Vergleich mit „Syncode 7“ ohne Frage interessanter, weniger auf vordergründige Künstlichkeit und inhaltliche Klischee ausgelegt, sondern durchaus in Hinblick auf eine originelle provozierende Grundidee ein Buch, das einige Fragen aufwirft, aber nachhaltig  leider keine beantworten möchte.  Antiquiert ist aus heutiger Sicht die Idee einer virtuellen „Welt“ mit extrem statisch Informationsblöcken, die weder den Plot  vorantreiben noch wirklich interessieren, in denen sich aber der Autor vor allem zu Beginn „Syn Code 7“ imitierend verfängt. Wer gerne eine  von den digital angehauchten Spielwiesen Michael Weissers kennenlernen möchte, der sollte eher zu „Digit“ als zu „Syn Code 7“  greifen.    

 

Science-Fiction-Roman
AndroSF 87
p.machinery, Murnau, August 2018, 334 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 133 4 – EUR 15,90 (DE)