Das Lied der Norne

I.V. Steen

Helmut K. Schmidts „Das Lied der Norne“ ist eine ungewöhnliche literarische Veröffentlichung für den Verlag Dieter von Reeken. Während der Lüneburger Herausgeber im sekundärliterarischen Bereich immer wieder und immer mehr Beiträge erstveröffentlicht,  konzentrierte er sich im literarischen Teil immer wieder auf Nachdrucke.

Unter seinem bevorzugten Pseudonym I.V. Steen hat Helmut K. Schmidt seit den siebziger Jahren immer wieder an dem Manuskript gearbeitet, bis eine seltsame exotische Science Fantasy Fassung herausgekommen ist, die anfänglich weniger an Tolkiens „Herr der Ringe“ oder „Die Scheibenweltroman“ Pratchetts erinnert, sondern tatsächlich wie eine Hommage an Mark Twains „A Yankee an King Arthur´s Court“  nur mit einem Astronauten aus dem Mond „fallend“ wirkt.

Im Jahre 2015 erschien ein Sammelband mit vier utopisch- phantastischen Kurzromanen und drei Kurzgeschichten. Wie Freder van Holk gehörte Helmut K. Schmidt zu den Vertretern der Hohlwelttheorie, auf dem zusammen mit einigen Exkursionen in die Welten der Sagen und Legenden auch diese Geschichte basiert.  

Die Prämisse ist simpel und kompliziert zugleich. Die Erde ist eine Hohlkugel mit einer entsprechenden Innenwelt. Die Zivilisation ist auf den ersten Blick mittelalterlich, abergläubisch und archaisch. Die Welt wird durch den Gesang der Norne Werdani am Leben erhalten. Allerdings beeinflussen Impulse von „außen“ den Gesang der Norne und bringen die Welt in Unruhe.

Wie es sich für Fantasy Romane gehört, muss ein reiner Held – ein wenig naiv, noch kindlich, aber lernwillig -  auf die Quest geschickt werden. Die „Götter“ schicken mit Torsten einen im Grunde fast klischeehaften Helden, der nicht nur eine Welt retten soll, die er nicht einmal in Ansätzen versteht, sondern auch die große Liebe finden wird.

Helmut K. Schmidts Epos ist ein ambitioniertes Werk, in das sehr viel Liebe und auf jeden Fall auch sehr viel Arbeit geflossen ist. Anscheinend hat der Autor den Text immer wieder überarbeitet und an den Feinheiten gefeilscht.  Die Grundidee ist klar. Torsten hat nicht unendlich viel Zeit, um seine Welt zu retten. Die Dinge geraten immer mehr in Unordnung, wobei der Autor teilweise mit sichtlichem Vergnügen auch an den Thesen der Hohlwelt schraubt und der Leser sich des Gefühls nicht verschließen sollte, dass Helmut K. Schmidt selbstironisch mit den von ihm mit vertretenen Thesen abrechnen möchte. Auf der anderen Seite ist dadurch die Handlungsstruktur vorhersehbar und der Roman als Ganzes wirkt zu wenig lebendig, zu stark konzentriert und inhaltlich in das entsprechende Heroic Fantasy Korsett gepresst, aus dem Helmut K. Schmidt immer wie bei einer Momentaufnahme allerdings auch auszubrechen sucht.   Leider hält der Autor nicht durch und führt seine anarchistisch experimentellen Momente viel zu schnell in die grundlegende zu bodenständige Handlung zurück.

Ein wichtiges Element wäre der Astronaut Chidder, der aus unserer Welt bei seinem Flug zum Mond quasi durch dessen Oberfläche direkt in die Hohlwelt gefallen ist.- Chidder kann sich naturwissenschaftlich darauf genauso wenig einen Reim machen wie es der Autor im Verlaufe der Handlung erläutert. Leser wie Chidder müssen sich mit diesem Faktum abfinden. Chidder ist der Vertreter der modernen Welt, der als kommentierender Begleiter eine wichtige Schlüsselfigur hätte sein können.  Nicht selten muss ihm Torsten wichtige Sachen stellvertretend für den Leser erläutern. Und genauso oft hat Chidder eine pragmatische passende Antwort. Im mittleren Abschnitt verschwindet Chidder allerdings aus der Handlung und Torsten muss ihn unter anderem suchen gehen. In diesen Szenen verliert der Roman kurzzeitig seine Balance und Torsten alleine wirkt als Protagonist zu eindimensional angelegt, um den Handlungsbogen im Allgemeinen und seine Welt im Besonderen auf den zu schmalen Schultern zu tragen. Kaum sind die beiden Protagonisten wieder vereint und werden um Torsten anfänglich platonische Liebe die Hexen Novizin Rissa ergänzt, gewinnt der Roman durch die pointierten Dialoge und ironischen Kommentare wieder an Tiefe.     

Es ist vor allem die Welt, welche den Leser in ihren Bann zieht. Ganz bewusst hat Helmut K. Schmidt eine Art Urban Fantasy Story entwickelt, bei welcher die „Götter“ – diese Begriffe sind relativ zur nordischen Sagenwelt und weniger in der Tradition eines Neil Gaiman zu verstehen – nicht nur das Schicksal der Menschen lenken, sondern eine Art Spiel bestreiten. Es macht grundlegend keinen Sinn, Torsten auszuschicken. Auch wenn des Showdowns ist erkennbar, dass diese Mission viel effektiver von einem erfahrenen Mann oder einer cleveren Frau hätte erledigt werden können. Es sind die Werkzeuge, die Torsten mitgegeben worden sind, welche den Reiz der Geschichte ausmachen. Selbst der Astronaut Chidder steht staunend vor den fliegenden Blasen, die mittels einer ambivalenten Mischung aus Magie und Steuerpulten die Verwandte von persönlichen Helikoptern sind. Magie wird spärlich eingesetzt, dann aber effektiv.

Dagegen wirken die Szenen in der obligatorischen Kaschemme inklusiv des entsprechenden Körperbetonten Ärgers wieder wie ein literarisches Mittel, das in erster Linie den Roman füllen, aber die Spannungskurve nicht unbedingt erhöhen soll.

Vielleicht hat Helmut K. Schmidt ein wenig zu stark an dem Buch gearbeitet. Es wirkt überambitioniert und sich gleichzeitig widersprechend.  Der Kontrast zwischen dem wissenschaftlich geschulten Chidders und dieser magischen Welt hätte stärker herausgearbeitet müssen. Alleine diese Reibungsflächen hätten in der exotischen Hohlwelt ausgereicht, um ein Buch zu füllen.  Oder Helmut K. Schmidt einen anderen Weg gegangen und hätte seine Geschichte eben als Hommage an die nordischen Sagen inklusiv der Nornen oder Göttern wie Wotan tatsächlich als nordische unterirdische Saga in der Tradition der Nacherzählungen Poul Andersons konzipiert. Beide Wege wären interessant gewesen. Der Versuch, diese Stile zu mischen, funktioniert nur zeitweilig, so dass unglaublich viel vorhandenes Potential an wichtigen Stellen verschenkt wird.

„Das Lied der Norne“ liest sich als Kuriosum aus den eher fünfziger und weniger siebziger Jahren kurzweilig wie ungewöhnlich, aber grundsätzlich überwiegen die strukturellen Schwächen und stilistischen Ecken/ Kanten. Helmut K. Schmidt hat viel Herzblut in dieses Buch gesteckt und wollte ungewöhnlich unterhalten. Das ist ihm mit Einschränkungen gelungen und die Veröffentlichung ist angesichts der heute absurd erscheinenden, in den dreißiger bis vielleicht frühen fünfziger Jahren ernsthaft diskutierten Hohlwelttheorie – die finnische Filmreihe „Iron Sky“ sollte in diesem Zusammenhang als Parodie erkannt und ignoriert werden – vor allem eher aus zeithistorisches, denn literarischer Sicht interessant.       

 

Phantastischer Roman aus dem Innern der Erde. Erstausgabe
Klappenbroschur, 336 Seiten, Nachwort
ISBN 978-3-945807-43-9

Verlag Dieter von Reeken