Clarkesworld 154

Neil Clarke (Hrsg.)

In seinem sehr langen Vorwort geht Herausgeber Neil Clarke nicht nur leider zum wiederholten Male auf seine beiden anstehenden Anthologien ein, sondern auch auf die betrübliche Tatsache, dass es erstens nicht ganz leicht ist, die richtige Balance aus umsonst und guten Honoraren zu finden und zweitens, dass er nach dem Tod von Dozois und Hartwell der letzte Mohikaner ist, der eines „Year´s Best“ Anthologie veröffentlicht. Diese unfreiwillige Staffelübergabe drückt Neil Clarke die kommentierende Verantwortung auf, die Dozois mit einer erstaunlichen Leichtigkeit, aber Präzision über Jahrzehnte präsentierte.

 Die Sommerausgabe von „Clarkesworld“ zeigt aber nicht nur bei dem sehr langen Vorwort die neue Ausrichtung. Zwei Interviews, beide von Chris Urie ersetzen anscheinend einer der sehr persönlichen Kolumnen. Beide Autorinnen und Autoren könnten nicht unterschiedlicher sein. Die Gespräche mit Arkady Martine und Yoon Ha Lee zeigen zwei Autoren aus unterschiedlichen Teilen der Welt, denen die Faszination des Geschichtenerzählens förmlich in die Wiege gelegt worden ist. Abgerundet wird der sekundärliterarische Teil durch ein Essay über Tolkien und den Ersten Weltkrieg, das einige ergänzende Informationen zu dem hervorragenden Film präsentiert.

 Keine Nachdrucke aus amerikanischen Magazinen finden sich in dieser Ausgabe. Stattdessen wird die Internationalität mit Beiträgen koreanischer, australischer, chinesischer und schließlich einem Autoren aus Chile vorangetrieben. Das ist zwar empfehlenswert, auf der anderen Seite haben in den letzten Monate die Nachdrucke qualitativ immer die Originalveröffentlichung ausgestochen.

 Insgesamt sieben Geschichten zieren diese Ausgabe. Zu den am meisten unlogischen und trotzdem faszinierenden Storys gehört ohne Frage Grace Seybolds „The Visible Frontier“. Ein junger Seemann möchte wissen, was die Sterne wirklich sind. Ob es dort Leben gibt. Was als normale Geschichte, als im Grunde Wunsch anfängt entwickelt sich mehr und mehr zu einem Puzzle. Der Leser möchte gerne wissen, was hinter dem Rätsel steht. Hinzu kommt, dass die dem Leser bekannten Fakten nicht mit den präsentierten Informationen übereinstimmen.

 Leider hat Grace Seybold ein Problem. Je mehr Informationen sie indirekt Preis gibt, um so schneller können die Leser hinter die Geheimnisse kommen. Viel schneller als der ein wenig naive Protagonist, so dass die Spannungskurve deutlich abflacht. Kaum wird eine bestimmte Grenze überschritten, greift die Autorin zu einem weiteren nicht akzeptablen Klischee.

 Hinzu kommt, dass nicht alle Handlungen wirklich von neutralen Dritten – sprich dem Leser – nachvollzogen werden können, so dass das anfängliche Flair viel zu schnell verfliegt. Es ist schade, dass das durchaus vorhandene Potential nicht ansprechend genug gehoben wird.

 Sterne spielen auch in „Xingzhou“ (Ng Yi- Sheng) eine wichtige Rolle. Es geht um Flüchtlinge, die in gigantischen Städten gebaut auf der Oberfläche von Sternen leben. Diese Sterne bilden einen Cluster. Die Autorin erzählt diese wissenschaftliche absurde Geschichte mit einem Augenzwinkern. Sam J. Miller wird schließlich eine fiktive Figur in den Mittelpunkt seiner Story stellen, Yi- Sheng belässt es bei Anspielungen auf „Per Anhalter durch die Galaxis“ bis Asimovs „I Robot“. Diese gigantische Stadt könnte Singapur sein, aufgebaut auf verschiedenen Insel, bevölkert von vielen Völkern, modern und grausam zu gleich. Es ist ein faszinierender und fesselnder Hintergrund. Es ist ein Epos, zusammengepresst in die Form einer Kurzgeschichte.

Unabhängig von den wissenschaftlichen Absurditäten fällt es dem Leser schwer, Zugang zu den einzelnen Protagonisten zu finden, so dass wichtige Elemente förmlich unter den Teppich fallen.

 Die beste Arbeit ist wie angesprochen Sam J. Millers „Shattered Sidewalks of then Human Heart“. King Kong hat gelebt und ist in New York getötet worden. Ein damaliger Augenzeuge, inzwischen in Taxifahrer, nimmt die berühmteste Blondine der Stadt Ann Darrow in seinem Taxi mit, welche damals das Herz der wilden Bestie berührte. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs vertraut der Autor zwei waidwunden einsamen Protagonisten, die sich im Grunde gegenseitig zu trösten versuchen. Das Verbindungsglied sind die Erinnerungen eben an King Kong. Auch wenn der Autor in seinem melancholischen Ton und dank des offenen Endes die Phantasie der Leser anregt, bürgt die Geschichte das Potential für eine sehr gute Novelle und die Leser erhoffen sich mehr, als der Autor leider anbietet.  

 Zwei die sieben Geschichten teilweise verbindende Elemente sind Anspielungen auf Genre oder Literaturwerke und unmögliche Plätze, an denen sich menschliches Leben bildet. „The Weapons of Wonderland“ von Thoraiy Dyer ist eine Mischung aus Beiden. Der Titel ist natürlich eine in der Handlung sich widerspiegelnde Hommage an „Alice in Wonderland“. Die Grundidee ist, dass die Menschheit aufgrund der Umweltverschmutzung die Erde verlässt und sich in einem bzw. auch auf einem Kometen ansiedelt. Dieser Komet trägt eigenes Leben. Sowohl die Handlungen der Protagonisten als auch die Wissenschaft sind verwirrend bis schlecht ausgeführt. Es gibt keine Hinweise auf die Art der Umsiedelung. Das Leben auf der Oberfläche des Kometen scheint unwirtlicher und härter zu sein als unter der Erde der verseuchten, aber nicht verstrahlten Erde. Selbst wenn der Leser annimmt, das es Leben innerhalb eines Kometen gibt, dann wirkt es bizarr, das die Menschen diese Wesen als Nahrung nutzen und daran nicht sterben, sondern sich in Monster verwandeln. Damit wäre der Bogen zu den traumhaften wie traumatischen Erlebnissen in Lews Carrolls Fabel in der Theorie wieder hergestellt. Aber für eine Science Fiction Story ist der Hintergrund absurd.

 Die Alternativweltgeschichte „Wu Ding´s Journey to the West“ von Tang Fei – der koreanische Beitrag – leidet auch unter logischen Schwächen. Ein junger Mann versucht eine Eisenbahn von Peking nach St. Petersburg zu bauen. Nur fließt in seiner alternativen Welt die Zeit anscheinend rückwärts. Über drei Generationen wird der Bau einer epochalen, aber im Grunde auch nutzlosen Eisenbahnstrecke beschrieben. Das große Problem ist, dass die Science Fiction Idee ambivalent oder höchstens pragmatisch zweckmäßig eingesetzt wird, wenn der Autor es braucht. Wenn es ihn stört, ignoriert er seine eigenen Prämissen. Alleine die Beziehung zwischen  den beiden wichtigsten Protagonisten Ding und Pete, sowie der grandiose Ansatz dieser gigantischen Eisenbahnstrecke entschädigen etwas für die Enttäuschung bei der Umsetzung des Textes.   

 Aus Chile stammt „One in A Million“ von Rodrigo Juri. Immer wieder wirkten übersetzte Kurzgeschichten in „Clarkesworld“ unglücklich übersetzt. Die Worte waren im Grunde richtig, da die Übersetzungen aber in Form von Ausbildungsarbeiten vergeben worden sind, fehlten die überforderten Übersetzern das Gespür für Dramaturgie, Emotionen und vor allem das richtige Tempo. Auffällig ist es bei diesem aus dem Spanischen übersetzten Text. Luis kehrt in sein Heimatdorf zurück. Er ist inzwischen nicht mehr ganz menschlich und denkt über die vergangene Zeit nach. Die künstlichen Intelligenzen haben die Welt verändert. Luis ist inzwischen eine Art Zwitter. Die Liebesgeschichte aus seiner Jugend ist süßsauer, beinhaltet keine wirklich überraschenden Elemente, ist aber auch nicht grundlegend langweilig.

Spannungstechnisch beantwortet der zweite Handlungsbogen bis auf das „wie“ alle Fragen. Dadurch fehlt dem Text ein Katalysator, eine Art Initialzünder. Die schlechte Übersetzung und eine gewisse Unsicherheit des Autoren lassen die Geschichte distanziert, wenig spannend und vor allem auch angesichts des spärlichen Hintergrunds langweilig erscheinen.

 Geo-LL Boks „Flowers on my Face“ hat eine bizarre Ausgangslage. Roboter auf einer entfernten Kolonie versuchen sich wie Menschen zu verhalten, während sie ihre Aufgaben erledigen. Warum emotional anfällige Roboter überhaupt konstruiert worden und dann in die Tiefen des Alls auf eine wirklich schwierige Mission geschickt worden sind, wird an keiner Stelle wirklich nachhaltig genug herausgearbeitet. Jimmy als Identifikationsfigur der Leser ist im Grunde ein Mensch. Er denkt und handelt wie ein Mensch. Natürlich betont der Autor immer wieder, dass er eine Maschine ist. Es lässt sich nur nicht wirklich erkennen.

 Über das Schicksal der Menschen erfährt der Leser im Grunde nichts, so dass die Handlungen der Roboter abschließend geschrieben sinnfrei sind. Es ist schade, dass wirklich unglaublich viel Potential verschenkt wird.

 Die Juli „Clarkesworld“ ist leider eine sehr schwache Ausgabe. Im direkten Vergleich insbesondere zu „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ scheint Herausgeber Neil Clarke den Anschluss verloren zu haben. Die Internationalisierung des Magazins ist ohne Frage wichtig und eröffnet Möglichkeiten. Man muss sie aber zufrieden stellend nutzen.  

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E Book, 112 Seiten