Mit der September/ Oktober 2019 Ausgabe feiert das Magazin seinen siebzigsten Geburtstag. Statt die Redaktion zu Worte kommen zu lassen, schreibt ein Käufer der ersten Stunde ausführlich über den damaligen Magazinmarkt und seine erste Begegnung. Es handelt sich um niemand geringeren als Robert Silverberg, der knapp acht Jahre später seine erste Geschichte an das Magazin verkauft hat. Ausführlich gibt er einen Blick hinter die damaligen Kulissen und die Möglichkeit, mit der Chefredaktion zu kommunizieren.
Für den literarischen Bereich haben die Herausgeber eine Vielzahl von nicht nur bekannten Namen, sondern ein Debüt zusammengestellt. Michael Moorcocks Novelle „Kabul“ ist seine erste Veröffentlichung in „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ und damit schließt er den erlauchten Kreis, denn alle Grand Master der SF haben entweder primär oder sekundär bislang in der langen Geschichte des Magazins ihren Namen hinzugefügt.
Michael Moorcocks Geschichte ist keine Fantasy. Zusammen mit Paolo Bacigalupi spielt er die Folgen eines Zusammenbruchs der bekannten Zivilisation durch Einflüsse von außen und innen durch, wobei ein Fernsehsender mit einer ambitionierten Starmoderatorin oder wie beim Briten in einer bekannten, von der Geschichte heimgesuchten Stadt nicht unterschiedlicher sein könnten.
"Kabul" ist das verzerrte Spiegelbild einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Überall herrscht Krieg und Bürgerkrieg. Selbst die USA haben sich innerlich zerrisen. Der Protagonist hat vor vielen Jahren als Soldat oder Agent in Kabul gearbeitet. Jetzt kehrt er an der Spitze einer kleiner Truppe von Söldnern oder Freischärlern in die zerstörte, anscheinend auch verstrahlte Stadt zurück. Durch einen Zufall findet er sich in der Straße wieder, wo eine attraktive Europäerin ein hochwertiges Teehaus betrieben hat. Wie Rick´s Cafe in "Casab lanca" ist es zum Treffpunkt der Elite geworden, Spione konnten sich ausruhen, Nachrichten wurden getauscht. Der Protagonist sollte feststellen, ob die Betreiberin für eine fremde Macht arbeitet. Sie verlieben sich ineinander, seine nächste Mission treibt sie auseinander. Die Frau betreibt in dem zerstörten Haus immer noch ein improvisiertes Teehaus.
Es ist eine dunkle und doch emotionale fast kitschige Geschichte. Sie weiß, dass sie in der Stadt sterben wird. Es ist anscheinend nur noch eine Frage von Wochen, ihre Strahlenwerte sind zu hoch. Jede Flucht ist im Grunde sinnlos. Da geht die Angst vor den maradorienden Banden verloren, wobei sie fatalistisch klar stellt, dass es in Kabul im Grunde nichts mehr zu stehlen gibt. Sie nehmen ihre Beziehung auf eine leidenschaftliche, den Moment genießende Art und Weise für eine kurze Zeit wieder auf. Fatalistisch trennen sich ihre Wege wieder, zurück bleiben im Grunde nur Erinnerungen. Michael Moorcock erzählt die Geschichte immer am Rande des Kitsches, des Pathos. Seine Stärke ist nicht nur die aus dem Nichts heraus dreidimensionale Zeichnung der leid geprüften Protagonisten, sondern nebenbei entwirft er das Bild einer ehemals lebendigen Stadt, wie man sie in den sechziger Jahren nicht selten im Nahen Osten gefunden hat, bevor Krieg und Neid diese Idyllen zerstört haben. Es ist eine nachdenklich stimmende Story, mit einer ungewöhnlichen Altersweisheit erzählt, aber den Moment gierig festhaltend.
In Paolo Bacigalupis "American Gold Mine" zerreißen sich die USA innerlich. Die Medien nutzen ihre Macht, um die einzelnen Gruppen zu provozieren. Das geht soweit, dass Demonstranten den Sender blockieren und belagern, die Mitarbeiter aber durch einen geheimen Tunnel in die Sendeanstalt kommen, während ein oder zwei "Opfer" sich der Masse stellen. Die Protagonistin ist nicht nur eine bekannte Reporterin, sie ist eine goistische Narzisstin, die bis zum letzten Augenblick von dem Chaos provotieren will, dass sie mit ihren Nachrichten anrichtet. Es ist eine bitterböse Satire auf die gegenwärtige Medienlandschaft, die der Autor zynisch auf einer Art Happy End enden lässt. Hektisch, grell und subjektiv legt der Autor die Finger in eine Reihe von Wunden, ohne das er mit sympathischen Protagonisten seinen Lesern entgegen kommt.
Nick Wolvens „The Light of Eldoreth“ ist eine interessante Geschichte. Auf einem fremden von Menschen allerdings besiedelten Planeten verhandeln zwei Väter die mögliche Ehe ihrer Tochter und ihres Sohnes. Neben dem Finanziellen und möglichen politischen Auswirkungen geht es auch um die Qualität des Sohns, wobei die Verhandlungen auch aufzeigen, wie beide Seiten mit Lügen und Übertreibungen sich besser zu positionieren suchen. Die Story ist gut geschrieben, vor allem dank der gut gezeichneten Protagonisten.
Elizabeth Bears Texte sind mindestens ungewöhnlich. „Erase, Erase, Erase“ gehört auch in diese Kategorie. In einem langen Monolog versucht die Protagonistin ihr Leben zusammenzufassen, wobei sie anscheinend immer mehr zu vergessen beginnt. Dadurch wirken die einzelnen Episoden auch fragmentarisch und es besteht der Verdacht, das vor allem hinsichtlich terroristischer Beteiligungen die Protagonistin an Wahrnehmungsstörungen leidet. Am Ende gibt es keine überzeugende Erklärung, sondern das fast verzweifelte Bemühen, sich an irgendetwas zu erinnern.
Auch Ken Lius Vignette „Booksavr“ ist nicht befriedigend. Online Apps können anscheinend ganze Bücher umschreiben oder Informationen manipulieren, wobei es in erster Linie nicht nur um eine kontinuierliche Verbesserung der Grammatik geht, sondern der Inhalt den individuellen Lesern mittels Auslesen von Daten angepasst werden kann. Die Grundidee ist interessant, die Umsetzung ein wenig schwerfällig.
Die letzte Science Fiction Story stammt von Esther Friesner. „The Wrong Badger“ spielt in einem Themenpark, der ein authentisches England allerdings in den USA suggeriert. Eine Frau beginnt sich beim Management zu beschweren, weil ihr Badger eben amerikanisch und nicht britisch ist. Auch wenn der Plot amüsant ist und die Dialoge pointiert bis köstlich erscheinen, wirkt die grundlegende Prämisse inklusiv der fatalen Wirkung überzogen und die Pointe entsprechend konstruiert.
Es gibt auch heitere Texte. Y.M. Pangs „Little Inn on the Jianghu“ dürfte vor allem für Fans der Martial Arts Filme aus Hongkong interessant sein. Immer wieder werden in diesen Streifen kleine Gasthäuser verwüstet. Aber wer zahlt die Zeche? Natürlich der Wirt. Aus der Perspektive eines dieser armen Gastwirte beschrieben jagt eine junge Kriegerin mit ihm zusammen nach dem letzten Banditen, der seine Gaststätte verwüstet hat. Eine unterhaltsam lustige Story mit einem allerdings wie bei den cineastischen Vorlagen ein wenig übertriebenen Ende.
Maureen Hugh präsentiert in „Under the Hill“ eine besondere Universität. Menschen und Elfen studieren zusammen, wobei das Geheimnis der Öffentlichkeit im Allgemeinen und den Studenten durch partielle Gedächtnislöschung im Besonderen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt wird. Die Story ist mit einem Augenzwinkern aus der Perspektive einer Studentin geschrieben worden. Allerdings erscheint der Plot eher unwahrscheinlich und konstruiert, zumal aus dieser einzigartigen Kombination anscheinend auch kein wahrer Nutzen für die Studenten oder die Lehrkräfte sowie die Öffentlichkeit gezogen wird.
Amanda Hollander setzt den heiteren Texten mit ihrer Cinderella Story die Krone auf. „Madness Afoot“ wird aus der Perspektive der Schwester des Prinzen erzählt, der sich emotional eher als eine Art Tölpel erweist. Sie hilft bei der Partnervermittlung und vor allem der Reise durch das ganze Land. Sie findet schließlich das Mädchen, das auf dem Ball einen Schuh verloren hat. Auch die Hochzeit muss arrangiert werden, damit das Königreich mit der richtigen Frau an der Seite des Prinzen eine Chance hat, zu überleben.
In die Kategorie bekannte Prämissen, neu erzählt gehört auch Michael Swanwicks Episode „Giost Ships“, in welcher sich der Protagonist nicht nur an alte Freunde erinnert, sondern an alte Schiffe am Ufer, die dort gar nicht sein dürften. Gut erzählt, aber als Geschichte zu wenig abgeschlossen oder hinsichtlich einer nachhaltigen Pointe hin aufgebaut.
Kelly Link präsentiert als Auftakt dieser Jubiläumsausgabe mit „The White Cat´s Divorce“ eine Art modernes Märchen um einen reichen Mann, der seine drei Söhne auf unmögliche Missionen schickt. Nur eine weiße Katze, die sich in eine frau verwandelt, kann den Vater besänftigen und den jüngsten Sohn quasi schützen. Die Geschichte ist intensiv geschrieben, verlangt aber auch über weite Strecken sehr viel Geduld vom Leser, wobei die Metapher nicht unbedingt nachvollziehbar ist. Aber sich ein reicher Mann auf diese phantastische Idee einlässt oder woher er den Glauben nimmt, ebenfalls über mindestens zwei Leben zu verfügen, wird nicht klar genug herausgearbeitet.
Kurz vor seinem Tod hat Gardner Dozois noch eine Kurzgeschichte eingereicht. In „Homecoming“ geht es um das Sterben. Ein alter Mann kehrt – wie es sich später zeigt – nach vielen tausend Jahren in sein Heimatdorf zurück, um dort zu sterben. Ein kleines Mädchen sieht in ihm einen Druiden, der ihrem sterbenskranken Großvater helfen soll. Das Ende ist nicht kitschig, aber klassisch. Von der Stimmung her erinnert der Text sogar ein wenig an John Waynes Schwanengesang „Der letzte Scharfschütze“. Die Redaktion wollte nach Dozois Tod den Text für eine besondere Ausgabe aufgeben. Hinzu kommt, dass die ansprechend Geschichte das literarische Schlusswort dieser Jubiläumsausgabe ist.
Der sekundärliterarische Teil besteht wieder aus Buchkritiken, wobei James Sallis sich ausgesprochen umfangreich auf einen Roman konzentriert, während Charles de Lint neben seinen kurzweiligen Rezensionen die eigene Zusammenarbeit mit dem Magazin, aber auch die erste Begegnung lange vor seiner professionellen Schriftstellerei einfließen lässt. Karin Lowachee geht auf eine animierte Science Fiction bei Netflix ein, in welcher vor allem viele Kurzgeschichten von bekannten SF Autoren adaptiert worden sind. Auch hier schließt sich im Grunde ein weiterer Kreis. Neben den Kuriositäten – Bücher einmal anders – ist es Jerry Oltion, der mit seinem „Net Up or Net Down?“ gegenwärtige Trends extrapoliert. Di Fillipo geht in seiner Kolumne auf eine besondere, fiktive Zusammenarbeit zwischen Jules Verne und HG. Wells ein, während zwei Geschichte die Jubiläumsnummer abrunden.
Eingeleitet von einem schönen Titelbild David A. Hardys ist diese Jubiläumsnummer sehr empfehlenswert. Da es ja keine deutschen Sammelbände mehr gibt, sollten Interessierte diese runde Geburtstagsrunde zum Anlass nehmen, um die Original zu lesen. Es lohnt sich.