Inversion

Christopher Priest

1974 veröffentlichte der Brite Christopher Priest mit „Inverted World“ seinen dritten Roman. Das Buch hat die Ehre, dreimal unter einem jeweils anderen Titel im Heyne Verlag veröffentlicht worden zu sein. Zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung erschien der Roman unter dem Titel „Die Stadt“, 1984 im Rahmen der Heyne Bibliothek der Science Fiction Literatur unter „Der steile Horizont“ mit dem wahrscheinlich interessanteren Titelbild und im Januar 2020 als „Meisterwerke der Science Fiction“ mit einer der relevanten Szenen des Buches.

Der Roman teilt sich in fünf Kapitel auf, von denen zweieinhalb aus der Ich- Perspektive des Protagonisten geschrieben worden sind. In zwei weiteren Abschnitten wechselt Christopher Priest die Erzählebene, behält aber den Protagonisten bei. Im letzten abschließenden Abschnitt verbindet der Autor die Außenwelt der Stadt mit dem Auftritt der Protagonistin Elizabeth mit dem Innenleben der Stadt, symbolisiert durch Helward Mann.

Christopher Priest hat den Plot aus einer Kurzgeschichte heraus entwickelt, die in „New Writings in SF 22“ schon 1073 publiziert worden ist.

Der Roman beginnt dem Eintritt Helward Manns in eine der Gilden der Stadt. Die Zeit wird in Meilen gemessen, so dass Helward Mann jetzt 650 Meilen alt ist. Obwohl er wie sein Vater in die Gilde der Zukunftsplaner eintritt, muss er vorher eine Art Lehrjahr durchlaufen, in dem er die verschiedenen Gilden besucht. Dadurch erhält der Leser auf Augenhöhe des Protagonisten einen guten Einblick in das Leben und Arbeiten in der Stadt. Daher gehören die ersten Abschnitte des Buches zu den faszinierenden Teilen der Geschichte. Der Klappentext der Heyne SF Bibliothek verrät zu viel über die mathematische Idee hinter der Stadt, auch wenn sich der Leser höchstens mit einem Matheleistungskurs die jeweiligen Folgen vorstellen kann.

Die Stadt ist auf gigantischen Ketten aufgebaut. Ihre Bewohner nennen sie Erde. Sie bewegt sich immer auf das Optimum zu, dass die Planer der Stadt jeweils berechnen. Erreicht sie den Punkt des Optimums, kann sie einen Moment quasi ruhen. Um sich auf den Ketten fort zu bewegen, müssen Schienen gelegt ggfs. auch ganze Brücken gebaut werden. Hinter der Stadt werden die Schienen immer wieder abgebaut und nach vorne gebracht. In Schüben bewegt sich dieses gigantische Gebilde an Ketten gezogen durchschnittlich 160 Meter pro Tag fort.

Die meisten Bewohner verlassen niemals die Stadt. Arbeiter wie Frauen  - es werden zu viele Jungen und zu wenige Mädchen von den Stadtbewohnern geboren – werden gegen Nahrung von außerhalb gemietet. Auf dem Weg zum Optimum begegnen sie immer wieder verarmten Siedlungen, die nach den wenigen Gaben der Stadt förmlich darben.

Helward Mann beginnt seine Ausbildung als Schienenleger und kann so die Dimensionen der Stadt, die unwirtliche Landschaft und schließlich die wie eine Scheibe erscheinende Sonne kennenlernen und abschätzen. 

Helward Mann wird gleich beim Eintritt in die Gilde verlobt. Als sie ihr erstes gemeinsames Kind erwarten, muss er auf eine besondere Mission gehen. Die geliehenen Frauen müssen in ihre Dörfer zurückgebracht werden. Diese Dörfer liegen inzwischen hinter der Stadt, weiter entfernt vom Optimum. Was im Grunde ein Routinetrip sein sollte, entpuppt sich als ein gefährliches Wagnis, bei dem Helward Manns nicht nur die bisherige Ordnung zu hinterfragen beginnt, sondern auch einige Hintergründe dieser besonderen Welt und deren kontinuierlichen Bewegungsdrang zu verstehen beginnt.

Die Einzigartigkeit des Romans liegt im Zusammentreffen einer gänzlich isolierten, überwiegend auf sich selbst gestellten Welt mit archaisch primitiven Ideen wie dem stringenten Gildensystem und der Möglichkeit, dass sich die Menschen einer gänzlich fremden Umgebung angepasst haben. Dabei impliziert der Text, dass die Stadt das Überleben der Menschen auf einem fremden Welten sichert und sie alle auf Hilfe von der Erde warten.

Christopher Priest beschreibt eindrucksvoll, wie die Stadt im Grunde von Menschenkraft vorwärts bewegt wird. Diese Szenen bleiben länger in Erinnerung als die Reise in die Vergangenheit, wo plötzlich sich die Frauen zu verformen beginnen und sie nicht mehr die Nahrung aus der Stadt vertragen.  Interessant ist, das der Übergang in die Welt der Stadt daher eher nahtlos geht, während die Rückkehr Schwierigkeiten macht, obwohl dieser Rückübergang in einem kleinen Widerspruch zu der Grundidee steht. Mathematisch ist alles korrekt und die nach geschobenen notwendigen Erklärungen geben eine Idee dieser Veränderungen, aber ob die Auswirkungen wirklich so lange und nachhaltig sein können, muss hinterfragt werden.

Literarisch ist diese Verzerrung und Subjektivität allerdings notwendig, um das Weltbild des an sich aufgeschlossenen und schnell die entsprechenden Grundideen akzeptierenden Helward Manns nicht gänzlich zu erschüttern.

Unabhängig von der exotisch surrealistischen Situation handelt es sich bei „Inverted World“ auch um einen klassischen utopischen Staatsroman. Natürlich wackelt das seit Jahrhunderten existierende Gildensystem, als die Dörfler erfolgreich beginnen, die Stadt anzugreifen und zum Beispiel den ort der Kinder zu zerstören. Angeführt von Helward Manns Exfrau beginnen die „Stopper“ mehr und mehr Übergewicht zu bekommen. Sie wollen die Stadt verlassen und draußen leben, was laut den bisherigen stringenten Regeln nicht möglich ist.

Innerhalb der Gilden wird zum Einen hinterfragt, ob das Mieten von Frauen und vor allem das Anheuern von Arbeitern noch opportun ist. Gleichzeitig kommt die Schleppergilde auf den Gedanken, die Stadt nicht mehr in Schüben zu schleppen, sondern kontinuierlich mit geringerer Geschwindigkeit, was das Wechseln der schienen in schnellerer, aber auch kürzerer Abfolge notwendig macht. Dadurch müssen auch andere Gildenmitglieder mitarbeiten, die Grenzen in dem starren Kastensystem beginnen zu verschwimmen, wobei insbesondere die Verwaltung eine art grauer Schatten bleibt, den Christopher Priest opportunistisch im Rahmen der Ratssitzungen oder auf der persönlich emotionalen Ebene nutzt.

Das Weltbild gerät endgültig ins Wanken, als Helward im letzten Abschnitt des Buches einer jungen intelligenten und vor allem auch englisch sprechenden Frau auf einer der Reisen nach „Norden“, in die Zukunft begegnet, die mit einfachsten Mitteln den bisherigen Status Quo zu hinterfragen beginnt und sich vor allem auch als Mietfrau in die Stadt eingeschmuggelt.

Aber alleine die Welt um die Stadt, das Perpetuum Mobile und schließlich die entsprechend verzerrte Umgebung ist eine der besten Schöpfungen der Science Fiction.  Der interessante, vielschichtige und auf einer im Grunde absurden Idee basierende Ansatz erinnert an Welten wie Hal Clements „Unternehmen Schwerkraft“ oder „Flatland“ von Edwin A. Abbott.   Es ist die Zerbrechlichkeit dieser isolierten Welten in Kombination mit der Starrköpfigkeit und dem Überlebenswillen der Menschen, welche das Buch aus der Masse intellektueller und doch abenteuerlicher Science Fiction Storys so positiv heraushebt.

Im Grunde haben die Menschen aufgrund eines positiven Ansatzes ihr eigenes Gefängnis erschaffen, das gleichzeitig aber auch ihre eigene perfektionierte Welt darstellt. Die immer besser vorgetragenen Überfälle der Bettler von draußen zwingen die Gemeinschaft, aus den eingefahrenen Gleisen auszubrechen und zumindest anfänglich im Kleinen neue Wege zu gehen. Es erscheint zwar abschließend unglaubwürdig, das die Stadt wirklich diese lange Reise ohne an vergleichbare Barrieren oder angesichts ihres inneren Tempos kaum umfahrbare Hindernisse zu stoßen hinter sich gebracht hat, aber das Ende der Reise ist ein fatalistischer Anfang eines neues Lebens, obwohl die Brückenbauer eine neue faszinierende Idee präsentieren, um in der „Blase“ weiter vorwärts zu gehen.

Eine weitere Stärke des Buches ist Christopher Priests erzähltechnische Struktur, welche ein komplexes Thema gut herunterbricht und basierend auf vertrauten Elementen dem Leser einen zeitlosen, die Phantasie stimulierenden Science Fiction Roman präsentiert, dessen Neuauflage einer neuen Lesergeneration deutlich macht, wie innovativ die junge SF der siebziger Jahre basierend auf entsprechenden Vorbildern, aber sozial ausschließlich vorwärts gerichtet wirklich gewesen ist.

  • Taschenbuch: 416 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (13. Januar 2020)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453320654
  • ISBN-13: 978-3453320659
  • Originaltitel: Inverted World

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