Rolf Krohns „Der Stern von Granada“ ist ein spannender Roman basierend auf minutiös recherchierten Fakten. Der Roman ist aber auch gleichzeitig eine Alternativweltgeschichte. Ergänzt wird das Buch im Grunde durch zwei relevante Anhänge. Zusätzlich findet sich ein ausführliches Namensverzeichnis. Das erklärende Nachwort trennt im Grunde den Epilog von der Haupthandlung ab.
Die Vorgehensweise ist ungewöhnlich und das letzte Kapitel wirkt ein wenig nachgeschoben, als wenn Rolf Krohn die Entwicklung seiner Welt unnötig und vielleicht ein wenig zu simpel fortschreiben wollte. Dabei finden in der Vergangenheit wie in der „Gegenwart“ historisch markante Ereignisse statt, ohne das die handelnden Personen oder deren Folgen dem Leser auf den ersten Blick vertraut erscheinen.
Im erklärenden Nachwort Gerd Bedszents geht es in erster Linie um einen wichtigen Abschnitt des islamisch- christlichen Geschichte in Spanien. Eine Epoche, die heute vor allem durch die Legenden um „El Cid“ vielen Menschen im Gedächtnis sind, deren Entstehung und vor allem aber auch Nachwirkung weitreichender sind als es Rolf Krohn in seinem epochalen, aber sehr kompakt erzählten Buch fokussieren kann.
Minutiös werden Fakten und Fiktion gegenübergestellt. Den Stern von Granada – einen in die Erdatmosphäre eintretenden Kometen – als religiöser Katalysator zweier konträrer, aber wie Dampfhammer aufeinander zu eilenden Ereignissen hat es nicht gegeben. Aber er erscheint im richtigen oder falschen Moment unterschiedlichen Personen.
Es lohnt sich, Gerd Bedszents Nachwort zuerst zu lesen. Dabei verrät er notwendigerweise einige Wendepunkte des Plots, aber da Rolf Krohn überwiegend auf „historischen“ Persönlichkeiten behutsam modernisiert und dem Leser dadurch näher gebracht, zurück gegriffen hat, nimmt ein intensives Studium des Nachworts nichts von der Faszination dieser Geschichte, sondern fügt aus der real historischen Perspektive sehr viele Fakten dem Kammerspiel hinzu. Der Leser kann eher erkennen, wann einzelne Ereignisse abzweigen und sich die Geschichte weiter verformt.
Dabei ist es nicht unbedingt notwendig, alle Ereignisse im Kopf zu haben und den Konflikt zwischen den Mauren und Christen auf der iberischen Halbinsel beginnend quasi mit Dschingis Khan und seinen Horden zusammenfassen zu können. Es ist aber wichtig, ein Gefühl für politische Abläufe zu entwickeln und die verschiedenen auf den ersten Blick pragmatisch erscheinenden guten wie schlechten Entscheidungen der zahlreichen, aber auch gut voneinander getrennten Protagonisten einordnen zu können.
Rolf Krohn ist ein routinierter Erzähler, der ein spannendes, manchmal brutales, aber niemals sadistisches Garn sehr gut erzählen kann. Wie nur wenige Alternativweltautoren ist ihm Hintergrund und Handlung gleich wichtig. Ihm geht es nicht darum, den Leser immer wieder zu befremden, zu überraschen, in dem er wie einige Amerikaner die Parallelwelt zu exzentrisch, zu krass oder zu übertrieben darstellen möchte. Er ist kein Norman Spinrad, der in „Der stählerne Traum“ diesem Subgenre eine satirische, eine provokante, aber auch fragwürdige Spitze aufgesetzt hat.
Viel eher folgt er der Tradition eines Keith Roberts in „Die folgenschwere Ermordung ihrer Majestät Königin Elisabeth I.“ , Christopher Evans „Aztekensommer“ oder auch Oliver Henkels „Die Fahrt des Leviathan“ , in denen nicht selten sich die Parallelwelt abseits der Aufmerksamkeitsebene des Lesers erst entwickelt und dieser erst später bei markanten Ereignissen erkennt, dass er nicht mehr in unserer Welt ist.
Die Vorgehensweise ist ein schmaler Grat, der auf beiden Seiten beim Leser wie auch Autoren teilweise ungeheure Selbstdisziplin verlangt. Alles muss genau passen, nichts darf im Grunde offensichtlich ablenken.
Dazu nutzt Rolf Krohn indirekt und auffällig jede Gelegenheit, um die Vergangenheit lebendig zu machen. Sei es der Brückenbau mit seinen erschwerten Bedingungen oder die Suche nach adäquaten Marmorsteinen für ein christliches Denkmal. Die ausführliche Beschreibung von Kleidung oder Waffen. Selbst während der finalen Auseinandersetzung geht der Autor auf die taktischen Unterschiede ein. Eingebaut findet sich die aktive Nutzung von aus China importierten Sprengstoffen, die im 14. Jahrhundert in der Realität zwar nach Europa, aber eben nicht nach Spanien gelangt sind.
Dabei gelingt dem Autoren der Spagat zwischen historischer Authentizität und moderner Erzählform. Zu Beginn bei der Flucht des jungen aufgeweckten andalusischen Prinzen Said ibn Omar aus seinem ihn eingehenden Elternhaus auf ein das Mittelmeer befahrendes Handelsschiff scheinen die Dialoge ein wenig zu modern, zu gegenwärtig. Diese Schwäche gleicht Rolf Krohn spätestens im nächsten Abschnitt aus, wo er mit der Interimsagentin von Kastilien eine der wenigen dreidimensionalen Frauenfiguren des Buches erschafft, welche humanistisch geprägt eigentlich die katholische Inquisition an ihren Grenzen abwies.
Beide Leben werden durch den Stern von Granada in einem wichtigen Moment ihrer Entwicklung abgelenkt. Während das Himmelszeichen Said an Bord des Schiffes „belässt“, entscheidet sich die Regentin um und öffnet den Folterknechten der katholischen Kirche ihre Tore. Während das Christentum brutal mit den „Andersgläubigen“ umgeht, erwächst schließlich nach einem erfolgreichen Attentat auf den muslemischen Herrscher, seine Söhne und schließlich den Kalifen durch einen unerfahrenen jungen quasi auf den verwaisten Thron gedrängten Said aus der muslemischen Provinz Granada ein moderner, religiös toleranter Staat.
Wie eingangs erwähnt spannt Rolf Krohn den historischen Bogen vom Jahr 1319- dem Eintritt des Kometen – über das Jahr 1325 – hier spielt die Haupthandlung des Buches – bis ins 20. Jahrhundert. Zusätzlich präsentiert er einen ganzen Reigen von sehr unterschiedlichen Figuren und führt nicht selten einzelne Handlungsstränge unerwartet nach vielen Dutzend Seiten erst zusammen. So kann sich der Bauer Martin erst am Ende einer langen blutigen Schlacht an dem Mann rächen, der seinen Freund gefoltert und seine Liebe ermordet hat. Und es ist ein Zufall, dass sich die beiden so unterschiedlichen Männer zum ersten Mal in dem Moment gegenüber stehen, in dem die Sieger zum Frieden und gegenseitigen Respekt aufgerufen haben.
Auch wenn es sich entweder um einen Science Fiction oder einen historischen Roman handelt, ist der Plot aktueller denn je. Ohne es expliziert auszusprechen handelt es sich bei „Der Stern von Granada“ um ein Plädoyer für Toleranz und Verständnis den Anderen gegenüber. Es ist sicherlich kein Zufall, dass ein muslemischer Staat trotz seiner drakonischen, aber auch „fairen“ Strafen das Fanal eines neuen Europas zu sein scheint, während Paranoia, Angst und Unterdrückung am Leben gehalten durch die alles kontrollierende und notfalls auch manipulierende Inquisition die christlichen Grafschaften und Ländereien um Granada in ihrer Entwicklung erstarren, vielleicht sogar degenerieren lässt.
Vielleicht biegt Rolf Krohn die Geschichte ein wenig zu weit, wenn er fast cineastisch die Guten gewinnen lässt, weil die Schurken in der Überzahl sind und alleine aufgrund ihrer Stärke den Gegner erdrücken müssten. Aber Einfallsreichtum, Mut, Entschlossenheit und einige diplomatische Drähte zu den richtigen Unterstützern wenden das Blatt und geben dem islamischen Anführer auch die Möglichkeit nach Beendigung des Kampfes, die christliche Nächstenliebe zu geben, die den Seinen und ihm wahrscheinlich von der anderen Seite im Falle einer Niederlage verwehrt worden wäre.
Rolf Krohn beschreibt konsequent und nicht manipulierend Entwicklungen wie Dominosteine im Orkan der geschichtlichen Ereignisse, von denen viele an unerwarteter Stelle mindestens schwanken, wenn nicht fallen, während andere trotzig dem Sturm trotzen und das Fundament eines islamischen und nicht islamistischen Staats an der Südküste bilden. Und darüber hinaus die Basis für ein friedliches, sich gegenseitig sowohl respektierenden wie auch anspornenden Europa im Roman auf die iberische Halbinsel reduziert bilden.
„Der Stern von Granada“ ist ein eindrucksvolles Buch, das souverän und lebendig erzählt intellektuell stimulierend unterhält. Es ist eine der besten weil unauffälligsten und doch kraftvollsten Parallelweltgeschichten seit vielen Jahren.
Titelbild: Mario Franke
Verlag TES
Paperback, 366 Seiten
ISBN 978-3-932655-51-7