Richard Heys einziger Science Fiction Roman “Im Jahre 95 nach Hiroshima“ wird nach zwei Veröffentlichungen in den achtziger Jahren als Taschenbuch und gebundene Ausgabe nun vom Apex Verlag als E Book neu aufgelegt.
Der in Bonn geborene, in Berlin gestorbene Hey ist vor allem durch Krimis und die Hörspieladaption bekannter Bücher wie „Sophies Welt“ oder „Der Name der Rose“ bekannt geworden. Katharina Ledermacher aus Berlin ist seine wahrscheinlich bekannteste Serienheldin, um die er eine Handvoll von Romanen verfasst hat.
Aus heutiger Sicht ist „Im Jahre 95 nach Hiroshima“ in mehrfacher Hinsicht ein Kuriosum. Der Titel bezieht sich auf eine neue Zeitrechnung. Mit dem Abwurf der Atombomben über den beiden japanischen Städten sahen Wissenschaftler eher neutral das Aufdämmern einer neuen Epoche und haben die inneren Uhren umgestellt. Daher spielt die Geschichte im Jahr 2040. Diese seltsame Art des Kalenders scheint auch in die Öffentlichkeit durchgesickert zu sein, denn der aus verschiedenen Perspektiven zusammengesetzte Roman nimmt immer wieder auf dieses Datum Bezug und ignoriert die normale Chronologie. Ob das wirklich in einer ansonsten kaum veränderten Gesellschaft möglich ist, muss genauso bezweifelt werden wie die moralische Frage, der sich die Wissenschaftler am Ende stellen müssen.
Unbestritten zeigen Katastrophen und deren Auswirkungen die Stärken und Schwächen in Menschen. Daher stellt sich die Frage, ob eine Rückkehr zur „Normalität“ vor allem die negativen Eigenschaften der Menschen verstärkt und das aus der Not geborene Zusammengehörigkeitsgefühl unterminiert. Richard Hey scheint gegen Ende des Buches gemerkt zu haben, dass seine Argumentation eher eine Art Quadratur des Kreises darstellt, denn er belässt es bei einem eher offenen Ende und versucht stellvertretend durch seine Protagonisten keine Position einzunehmen, sondern die Beantwortung dieser Frage den Lesern zu überlassen.
Der Roman beginnt außerhalb der irdischen Atmosphäre. Der Wissenschaftler Dr. John Federbaum reist zum kleinen Asteroiden Toro, auf dem sich eine russische wie auch amerikanische Station befindet. Der Kontakt ist abgerissen. Federbaum findet die vier toten Wissenschaftler. Anscheinend ist eine alte Raumsonde der Amerikaner in einer der beiden Station eingeschlagen und hat zwei der Forscher gleich getötet. Die anderen Beiden sind auf tragische Art und Weise ums Leben gekommen.
Dieser Handlungsarm endet mit der Implikation, dass es im Sonnensystem exotisches, aber auch intelligentes Leben gibt. Nicht nur finden sich Aufzeichnungen von Signalen, sondern es besteht die Möglichkeit, dass die Fremden die Sonde abgefangen, analysiert und quasi als eine Art Begrüßungsbotschaft zurückgeschickt haben. Mit tragischen Folgen. Hier wirft Richard Hey ordentlich mit Begriffen wie PSI Strahlung um sich, ohne genretechnisch wirklich ein hintergründiges Verständnis zu zeigen.
Dieser rote Faden wird nur bedingt im ganzen Buch wieder aufgenommen. Der Klappentext vor allem der Taschenbuchausgabe hat eine Art geheimnisvollen Kriminalfall impliziert. Der weitere Handlungsverlauf könnte nicht weiter weg von der Wahrheit sein.
Richard Hey kappt nach gut einem Viertel des Buches den im All spielenden Handlungsfaden für längere Zeit abrupt. Stattdessen berichtet der Autor plötzlich von einer neuen Eiszeit. Im Zeitalter der globalen Erwärmung wirkt diese Gefahr ein wenig archaisch, aber Richard Hey versucht anschaulich zu machen, welche Folgen eine neue Eiszeit mit unwirtlichen Gegenden vor allem in großen Teilen Europas, Asiens und auch Nordamerikas haben könnte.
Überwiegend macht das Richard Hey an der Schweiz fest. Ob es sich dabei um satirische Seitenhiebe auf die Gebrüder handelt oder der Autor es wirklich nachhaltig ernst meint ist nicht klar zu erkennen. Bis die Schweiz unter den neuen Gletschern versinkt oder diese vor allem in den Tälern für noch schrecklichere Lebensumstände sorgen, wäre nicht nur Nordeuropa, sondern auch große Teile von Mitteleuropa bedeckt, wahrscheinlich Dutzend von Millionen Menschen erfroren und vor allem die globale Infrastruktur zusammengebrochen. Es stellt sich die Frage, wo die Schweizer die Rohstoffe für ihre künstliche Insel her bekommen sollten, wenn es derartige Verschiebungen gibt. Genauso unwahrscheinlich erscheint es, dass Afrika durch die Klimaverschiebungen plötzlich nachhaltig zu einem Hort des Wohls geworden ist und sich die dortigen Bewohner aussuchen können, wen sie denn aufnehmen wollen. Angesichts einer kompletten Verschiebung der Temperaturen – auch Neuseeland wird in diesem Fall vom Süden durch Eis bedroht – wäre das Chaos auf Welt sehr viel größer als es Richard Hey vor allem durch die Tagebuchaufzeichnungen Federbaums auf seiner Reise durch Europa extrapoliert. Natürlich werden die Militärs genauso umerzogen und müssen gegen die Eismassen kämpfen wie das Geld global an Wert verliert. Für einen Roman aus dem Zeit des Kalten Kriegs wirken Heys Ideen revolutionär und satirisch überzogen zu gleich. Allerdings fehlt ihnen die globale Basis und einzelne Aspekte sind nicht nachvollziehbar. Stephen Baxter hat in seinem Doppelroman „Flut“ einige Jahrzehnte später allerdings nicht mit Eis, sondern „nur“ Wasser eine bessere und nachhaltigere Version davon niedergeschrieben.
Die Ursache scheint natürlich zu sein. Warum es allerdings derartig schnell geht , wird nicht erläutert. Technisch scheint Richard Hey mit seinem Zukunftsszenario in den achtziger Jahren abzubiegen und ab dem Moment die Folgen der fortwährenden sich weiter nach Süden bzw. vom Südpol nach Norden vordringenden Eismassen zu beschreiben. Das Gegenmittel wirkt absurd. Der Weg dahin im Grunde beginnend aufgrund der Reisen über die Erde und endend auf dem kleinen Asteroiden ist spannender als die potentiell, dann moralisch hinterfragte Auflösung. Vor allem ist es schwierig, angesichts der von Hey beschriebenen Katastrophe an eine Art „Deus Ex Machina“ Lösung zu glauben.
Sieht man den ganzen Roman als eine Art sozialistische Antwort auf die kapitalistischen Machenschaften mit einer in der Not vereinten Restbevölkerung und der klassischen Umkehrung der Verhältnisse zwischen der Ersten und im Kern der zweiten/ dritten Welt, dann wirkt „Im Jahre 95 nach Hiroshima“ auch heute noch in einem allerdings deutlich theoretischen Sinne aktueller denn je. Vieles wirkt eher angedeutet und bis auf die Schweizer Episode mit Helvetia und dem Start um die Torpedonetze oder die plötzlich arbeitslosen ehemaligen Bergbewohner mit ihrem depressiven Blick auf das weite offene Meer geht Richard Hey leider in wichtigen Abschnitten nicht in die Details, aber diese exzentrisch verrückten Episoden heben den Roman aus der Masse manch anderer pulpiger Weltuntergangsgeschichte positiv hervor.
Handlungstechnisch springt Richard Hey nicht nur zwischen den einzelnen Orten hin und her. Er nutzt alle möglichen Kommunikations- und damit auch Erzählstrukturen. Von der Ausgangslage mit einem nicht unbedingt neutralen, aber übergeordneten Erzähler über Tagebuchaufzeichnungen, Reportagen bis zu inneren Dialogen als eine Art intergalaktisches Zwiegespräch. Das wirkt improvisiert und stellenweise gewollt, aber Ideen kann man dem Autoren nicht absprechen.
Fast vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheinen einzelne Passagen erzähltechnisch antiquiert und logisch nicht zu Ende gedacht, aber irgendwie unterhält die ganze Mischung auf der einen Seite archaisch, auf der anderen Seite aber auch sozialkritisch progressiv noch heute.
- Gebundene Ausgabe
- Umfang 254 Seiten
- Verlag: Apex Verlag (4. Oktober 2019)
- ISBN-10: 3750240094
- ISBN-13: 978-3750240094