NSA

Andreas Eschbach

 Andreas Eschbachs „NSA“ ist wahrscheinlich sein bester Roman seit einigen Jahren. Zum ersten Mal hat er sich ausführlich dem Thema Parallelwelten angenommen, wobei der Autor durchaus kritisch Exzesse der Gegenwart in die Schreckensherrschaft der Nazis einbaut. 

Faszinierend wie erschreckend ist, dass im Grunde die gegenwärtige Verdrahtung der Gesellschaft und ihr gänzlich offenes Verhalten von Diktaturen wie den Nazis zu einer fast kompletten Unterdrückung unerwünschter Elemente führen kann. Viele der von den Männern und Frauen des „Nationalen Sicherheitsamtes“ aufgenommenen Spuren verteilen die Leser in der Gegenwart sowohl durch die sozialen Medien, das Onlinekonsumverhalten und den Drang, möglichst bargeldlos wie simpel zu bezahlen auch in der heutigen Zeit. 

Der Point of Divergence ist die Erfindung eines Computers durch die Briten im 19. Jahrhundert. Anfänglich basierend auf Lochkarten ist der Komputer – wie er natürlich im deutschen Reich heißen muss – inzwischen zu einer dominierenden Maschine geworden. In Kombination mit dem Weltnetz und den tragbaren Telefonen erleichtert er den Menschen genauso das Leben wie er die Überwachung nicht nur durch die Nazis, sondern vorher auch schon während der Weimarer Republik allerdings in einem bescheideren Umfang ermöglichte.

Im Grunde ist der Komputer inklusiv des tragbaren Telefons und dem Weltnetz die einzige Erfindung, welche die Parallelwelt von der bekannten Geschichte unterscheidet. Hitlers Aufstieg wird  durch die neuen Medien gefördert, aber er verläuft inklusiv des Reichsagbrands im bekannten Muster. Eschbach macht auch zu Beginn deutlich, dass die großen Ereignisse in seiner Welt andere Erklärungen haben, aber parallel ablaufen. Im Himmler bei seinem Besuch in Weimar zu überzeugen, die Behörde nicht in sein Amt und damit nach Berlin anzugliedern, entwickeln die Programmierer – umgangssprachlich Stricker – eine perfide Suchmethode, um versteckte Personen mittels des Kalorienverbrauchs aufzustöbern. So ist Anna Frank und ihre Familie in Kombination mit dem im Weltnetz herunterladbaren Bauplänen des Hauses gefunden worden. Auch die weiße Rose wird sehr viel schneller und effektiver dank der Suchsysteme der Komputer gefunden.

Auf der anderen Seite verläuft der Zweite Weltkrieg beginnend mit dem Überfall auf Polen bis auf ein wenig Propaganda in den Weltnetzen in bekannten Mustern. Fast schon zu bekannten Mustern, wobei Andreas Eschbach klar stellt, dass sowohl Polen als auch Frankreich mit den Beneluxstaaten oder Russland in dieser weltnetztechnischen Hinsicht sehr weit hinter Deutschland und den USA, vielleicht auch Großbritannien zurückgefallen sind. Daher ist es lange Zeit erklärbar, dass das militärisch zumindest scheinbar überlegene Deutschland sich auch an dieser Front einen Vorteil verschaffen kann.

Wie in allen größeren Romanen Andreas Eschbachs – siehe „Ausgebrannt“ – entwickelt sich das markante Szenario aber auf den Schultern einer Handvoll gut gezeichneter gewöhnlicher Sterblicher, deren Schicksale fast widerwillig wie bei einem der angesprochenen Strickmuster mehr und mehr verwoben werden. Nicht selten sind es kleine Handlungen wie ein Diebstahl oder eine Nachricht, das Verstecken eines Fahnenflüchtigen oder die seltsame Mischung aus verletztem Stolz in der Kindheit, welche die Figuren nicht nur prägt, sondern ihre zukünftigen immer gefährlicher werdenden Handlungen dominiert.

Nach dem guten und mit einem Paukenschlag endenden Prolog tritt der Autor einen Schritt zurück und zeichnet den Lebensweg der angesprochenen Protagonisten – dabei konzentriert sich Eschbach auf einen psychisch auffälligen jungen Mann und eine junge Frau, die eher durch Zufall auf das Programmieren als Berufung gestoßen ist – bis in das Jahr 1942 nach. Anschließend setzt nahtlos und immer mehr an Tempo gewinnend die „gegenwärtige“ Handlung ein. Zu diesem Zeitpunkt wird es immer schwerer, zwischen den eigentlichen Tätern und ihren Opfern, aber auch den Trittbretthelfern zu unterscheiden. Ohne zu moralisieren stellt Eschbach dank seiner Protagonisten immer wieder die Fahrer, ab welchem Moment der Wissenserkenntnis ein Mensch nicht mehr die Augen verschließen sollte oder könnte. Aber Eschbach ist ein erfahrener Autor, der im Grunde keine abschließende Antwort auf eine derartig schwierige Frage sucht, sondern mit den Gegensätzen arbeitet und seiner Leser herausfordert, vor einem abenteuerlich dunklen Hintergrund sich dem eigenen Gewissen zu stellen.     

Eugen Lettke ist dabei der schwierigere Charakter. Sohn eines Kriegshelden aus dem Ersten Weltkrieg ist er ein Muttersöhnchen. In seiner Jugend wurde er von einer Gruppe von Frauen gedemütigt, an denen er sich dank seiner technischen Möglichkeiten rächen will. Aber nicht nur an ihnen, er liebt es, Frauen zu demütigen und zu vergewaltigen, nachdem er ihre Geheimnisse ausgeschnüffelt hat. Um noch effektiver seinem im Grunde perversen Zwang nachgehen zu können,  will er das Programmieren lernen.  Normal nicht die Aufgabe eines Analysten, was in der NSA seine Hauptaufgabe ist.

Helene Bodenkamp ist eine ambivalenter gestaltete Figur. Sie kommt aus gutem Haus.  Im Grunde hat sie sich eher für das Programmieren entschieden, weil ihr Vater ein bekannter Mediziner ist. Sie will nicht in seine Fußstapfen treten.  Sie hat nicht nur ein außergewöhnliches Talent für das Programmieren, sondern kann sehr gut logisch denken.  Als eines Tages ein Jugendfreund als Fahnenflüchtiger vor ihrer Tür steht, droht ihre bislang heile,  vom Kriegsgeschehen distanzierte und doch im Grunde an allen Fronten aktive Welt zusammenbrechen.

Der Leser lernt die beiden Protagonisten in unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung kennen. Die Lebensläufe könnten nicht konträrer sein.  Trotzdem führt sie die Aufgabe bei der NSA zusammen. Vor allem Helene Bodenkamp bleibt nicht viel anders übrig, als auf die Ereignisse zu reagieren und verzweifelt zu versuchen,  beginnend mit einem persönlichen Schicksal Sand in das Getriebe des Systems zu streuen, das immer unmenschlicher wird. Der Leser ist aufgrund seines historischen Wissensvorsprungs immer einen Schritt voraus und fürchtet, dass die braunen Häscher zumindest ihr auf die Spur kommen.

Auch Lettke ist trotz seiner sadistischen Neigungen auch im Grunde eine Getriebener.  Der Schatten seines im Ersten Weltkriegs gefallenen Vaters ist erdrückend lang, gegen seine Mutter kann er sich nur bedingt durchsetzen. Während Helene Bodenkampfs aufopferungsvolles Schicksal und das zynische Ende berühren, wartet der Leser darauf, dass irgendjemand ihn bestraft, nachdem ihn eines seiner Opfer seelisch selbst aus ihrer komprimierten Position ausgezogen hat.

Um die beiden Protagonisten allerdings mit ihren auch alle plottechnischen Klischees streifenden Schicksalen herum hat Andreas Eschbach neben nur wenigen historischen Figuren wie Hitler selbst oder Himmler eine Reihe von Nebenfiguren platziert, die gut charakterisiert und lebendig beschrieben worden sind. Dabei versucht der Autor viele Facetten des Lebens im Dritten Reich zu beschreiben, ohne moralisierend zu argumentieren.

Viel interessanter und den Roman aktueller denn je erscheinen lassend ist die Extrapolation der Technik. Im Grunde zeichnet Eschbach ein gegenwärtiges Szenario mit einer interaktiven Gesellschaft aus der Perspektive eines paranoiden, die Menschen verachtenden Verbrecherstaates, der konsequent die Überwachung und schließlich die Kontrolle übernimmt. Viele der von Eschbach beschriebenen Abläufe wie die Abschaffung des Bargeldes und eine entsprechende Abrechnung über Mobiltelefone; die Überwachung und Manipulation von Foren sowie die Gesichtsüberwachung kennt der Leser aus der Gegenwart. Hier treibt der Autor die Exzesse auf eine den historischen Fakten geschuldete Spitze. Seine beiden Protagonisten sind entweder Opfer dieser Entwicklungen oder vor allem im Bereich der Suchprogramme und schließlich Katalysatoren auch heute noch bedingt futuristischer Entwicklungen wie künstlicher Intelligenzen.

An einigen Stellen insbesondere in Richtung seines fatalistischen Endes dreht der Autor einzelne Ideen einfach um. Ohne zu viel zu verraten bleibt aber der Eindruck, als wenn die geschichtliche Drehung ein wenig zu stark erfolgt, denn zu diesem Zeitpunkt waren die Amerikaner zwar auf der Siegerstraße vor allem im Pazifik, hinsichtlich Europas aber auch taktisch fast unangreifbar. Die V- Waffen finden in Eschbachs Roman nicht statt. Sie hätten in einem Punkt den Kreis aber konsequenter geschlossen. Unwahrscheinlich erscheint ebenfalls, dass der Einsatz einer bestimmten Waffe nicht in Amerika die Gegenreaktionen/ - forschungen wieder beschleunigt hätte und Helenes finaler Aufruf im Grunde schon vorher auf geläuterte Ohren getroffen wäre.

Beginnend mit zahllosen persönlichen Schicksalen abseits der Scholz Geschwister oder auch der Anna Frank beschreibt Andreas Eschbach in seinem Epos ein erschreckend reales, detailliert und minutiös überzeugend recherchiertes Schreckensszenario, das er vor allem mit dreidimensionalen Protagonisten im Grunde auf beiden Seiten der Moral angereichert hat, um rasant und trotzdem umfangreich nicht nur zu unterhalten, sondern im Grunde auch vor den inzwischen mannigfaltig  beschworenen Geistern der Technologiegeneration in den falschen, vielleicht sogar in fast allen Händen zu warnen.    

 

  • NSA - Nationales Sicherheits-Amt: Roman
  • Gebundene Ausgabe: 800 Seiten
  • Verlag: Lübbe
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3785726252
  • ISBN-13: 978-3785726259