Forever 62

Neil Clarke (Hrsg)

Neil Clarke präsentiert zum wiederholten Mal einen Nachdruck aus dem letzten Jahr. Wenn es Kurzgeschichten sind, ist das verständlich, aber eine Novelle aus einem der populärsten Magazine? Hinzu kommt, dass Neil Clarke anscheinend die Geschichten auch nicht mehr lektoriert. So hat er einen Schreibfehler bei der Namensgebung aus dem Erstdruck übernommen, obwohl mehrere Quellen auf den Fehler hingewiesen haben. Natürlich lässt sich manches damit erklären, dass Neil Clarke im Februar noch an seiner Herzschrittmacheroperation und einer eingeschränkten Tätigkeit gelitten hat, ärgerlich ist es aber genauso wie die manchmal schwache stilistische Bearbeitung der ihm eingereichten Übersetzungen asiatischer Texte.

 Das soll aber die Qualität der Novelle „Waterlines“ von Suzanne Palmer nicht mindern. Erax ist ein Eisplanet mit nur wenigen Stellen, an denen das Wasser quasi frei ist. Die Menschen haben verschiedene kleinere Forschungskolonien auf dem unwirtlichen Planeten errichtet. Es gibt aber ein Abkommen, dass die Menschen keinen direkten Kontakt mit den Ureinwohnern aufnehmen dürfen. Eines Tages tauchen die Ureinwohner auf der Basis am Südpol auf und präsentiert drei Leichen von Menschen. Wahrscheinlich von Menschen, wie die Untersuchungen ergeben.

 Suzanne Palmer hat einen fast klassischen Krimi geschrieben. Amateure in Person des Planeteninspektors und seiner kompetenten Stellvertreterin müssen ohne Hilfe von außen nach den Tätern und vor allem den Hintergründen suchen. Dabei agieren sie nicht zusammen, sondern unabhängig voneinander. Aufgrund der wenigen Charaktere und vor allem dem eingegrenzten Handlungsort kommen nur wenige Menschen als Strippenzieher in Frage. Diese Antagonisten entwickelt die Autorin allerhöchstens pragmatisch.

 Die Helden teilweise wider Willen sind dagegen sehr gut charakterisiert worden. Ray ist der Chef im Grunde gegen die eigene Auffassung. Er leidet darunter, dass er angeblich nicht beliebt ist. Viele sehen ihn als inkompetent an. Er muss in mehrfacher Hinsicht nicht nur über sich hinauswachsen, sondern während des langen, aber intensiven Finales auch über sich hinauswachsen.

 Lena ist seine Stellvertreterin. Sie lebt seit mehr als zehn Jahren auf dem Planeten. Sie ist intelligent, ehrlich, vor allem auch gegenüber Ray offen und nicht hinterhältig. Sie akzeptiert ihre Rolle als zweites Glied. Die Autorin verzichtet auf eine obligatorische Romanze zwischen den beiden Menschen.

 Ajr ist ein Vertreter der Einheimischen. Er ist fremdartig und lernwillig zu gleich. An einigen Stellen zeigt er sogar Humor. Vor allem versucht er die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Rassen auf eine Art und Weise zu überbrücken, die nicht seinem kulturellen Hintergrund widerspricht.

 Um diese drei wichtigen Figuren herum hat die Autorin unter anderem mit den besonderen Schoßhündchen oder Haldi, eine einfache Arbeiterin auf der Basis, eine Reihe von Figuren und Wesen positioniert, die fremdartig und vertraut zu gleich erscheinen.

 Der Hintergrund der Geschichte ist faszinierend. Die Welt ist reichhaltig und wirklich überzeugend entwickelt. Alle ökologischen Abläufe ergeben einen Sinn, auch wenn hinter den Morden ein sehr übliches, klischeehaftes Motiv steht.

Die Vorgehensweise der Schurken ist zielstrebig und brutal zu gleich. Sie gehen in mehrfacher Hinsicht dank der modernen Technik der Erde effektiv vor und können ihre Machenschaften lange verbergen. Das sie aber trotzdem eine Art blutige Spur hinterlassen und nur auf die Ignoranz der Einheimischen vertrauen wirkt dagegen konstruiert.

 „Waterlines“ ist trotz der wenigen Schwächen eine interessante, spannende und vor allem auch in den Details originelle Lektüre, welche einen Nachdruck ohne Frage verdient hat. Aber nicht unbedingt acht Monate nach der Erstveröffentlichung.   

 Die beiden kürzren Texte „Come as you are“ von Dale Bailey und Ken Lius „The Hermit – Forty- Eight Hours in the Sea of Massacusetts” leiden unter den fehlenden Plots. Dale Bailey hat einen besonders langen Schatten. Persönlichkeitsverändernde  Drogen sind erstens kein neues Thema und zweitens hat vor allem Philip K. Dick im Grunde alles zu dieser Idee gesagt. Hinzu kommen Autoren wie Daryl Gregory  mit „After Party“. Die Protagonisten sind eher unsympathisch beschrieben worden. Auch die Auswirkungen der Drogen scheinen ambivalent zu sein: Ein echter Spannungsbogen wird nicht entwickelt. Viel schlimmer ist, das selbst die Liebesgeschichte zwischen den Abhängigen eine Abfolge von Klischees ist. Auch die Pointe ist wenig überzeugend.

 Ken Lius Stillleben stammt aus der Anthologie „Drowned Worlds“. Zugunsten einer Reihe von Beschreibungen verzichtet der Autor auf wirklich jegliche Handlung. Beim Leser bleibt das unbestimmte Gefühl zurück, als handele es sich nicht um eine Kurzgeschichte, sondern eine Art Einleitung zu einem umfangreichen Roman.

 Der Plot lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Im Jahre 2650 interviewt der Erzähler eine reiche Frau, die sich in die teilweise vom Wasser unterspülten Ruinen eines von den Menschen verlassenen Boston zurückgezogen hat.

 Im Gegensatz zu Dale Bailey ist Ken Liu ein Autor, der mit wenigen prägnanten Worten lebendige Charaktere erschaffen kann. Diese Protagonisten leben nicht fatalistisch auf einer vom Klimawandel beeinträchtigten Erde. Sie haben trotz aller Herausforderungen den Mars besiedelt oder versuchen die Venus zu verändern. Aber diese Terraforming Erfolge außerhalb der Erdatmosphäre spielen nur bedingt eine Rolle, weil es auch Menschen gibt, welche auf dem Heimatplaneten der Menschheit die Uhr zurückdrehen und einzelne Städte wieder bewohnbar machen wollen.

 Ken Liu diskutiert sehr offen die Frage, ob eine Rückkehr zu den Wurzeln – so ökologisch schädlich diese auch sein mögen – überhaupt im Sinne der Menschen ist oder sein kann. Dafür reicht der Platz der Kurzgeschichte allerdings nicht aus, was die Lektüre noch frustrierender macht. Auch der Blick über die Erde hinaus auf den Mars und die Venus ist spärlich und wird vor allem von den Beobachtungen des Erzählers bestimmt, der wie eingangs erwähnt in Boston seine Gesprächspartnerin aufsuchen muss.

 Grundsätzlich ist Ken Lius fragmentarische Erzählung lesenswert, aber wie erwähnt auch unbedingt ausbaufähig, um einen abgerundeten, vielschichtigen, politisch relevanten Plot aus einer gänzlich anderen und damit auch überdenkenswerten Perspektive zu präsentieren.

Grundsätzlich ist die Märzausgabe von „Forever“ wieder empfehlenswert, allerdings fällt eine der Kurzgeschichten stark ab und weiterhin ärgerlich ist, das Herausgeber Neil Clarke bei den Nachdrucken einen zu einfachen Weg geht und sich nicht auf weniger leicht zugängliche Texte konzentriert.   

Forever Magazine Issue 62 cover - click to view full size

www.wyrmpublishing.com

E Book, 112 Seiten