Unter einem weiteren Pseudonym Gilles d`Argyre veröffentlichte der französische Science Fiction Schriftsteller mit „Die Herrschaft des Zufalls“ im Grunde eine Art Manifest für sein ganzes Werk. Ursprünglich in Frankreich 1973 aufgelegt, stellte die Veröffentlichung im Heyne Verlag fünf Jahre später die erste Taschenbuchveröffentlich Kleins nach drei Heftromanen dar. Die TERRA Taschenbücher sollten einige Jahre später noch ein weiteres Werk aus seiner Feder als Taschenbuch publizieren.
Wie in Isaac Asimov „Foundation“ Trilogie geht es nur vordergründig um eine besondere Regierungsform. Beim Amerikaner sah ein begnadeter Wissenschaftler die Menschheit auf dem Zenit und wollte den Absturz in die Dekadenz zumindest abmildern, wenn auch zu verhindern. In „Die Herrschaft des Zufalls“ ist es im Grunde ein durchschnittlicher Mensch, welcher das politische System auf den Kopf stellt.
In beiden Werken hat die Menschheit viele Welten besiedelt. Immer wieder wird im Hintergrund von „Die Herrschaft des Zufalls“ von hunderten von Welten gesprochen, welche die Menschen meistens von der Erde kommend besiedelt haben. Bis auf die Anmerkungen greifen diese Kolonisten aber nicht aktiv ins Geschehen ein.
Während sich Isaac Asimov ausschließlich auf die Menschen in ferner Zukunft konzentriert, beschreibt Gerard Klein eine Begegnung mit Außerirdischen, die allerdings grundsätzlich nichts mit den Menschen zu tun haben wollen. Im Gegensatz zu den paranoiden Menschen, die gleich ihre Grenzen und damit auch Hoheitsgebiete abstecken müssen.
Die Idee, dass eine außerirdische Rasse grundsätzlich nicht nur anders, sondern vor allem auch älter und damit weiser als die Menschheit ist, gehört zu den Standardthemen in Kleins Werk. Das bedeutet aber nicht, dass diese Fremden die Menschen unterrichten wollen. Mit den „Herren des Krieges“ hat Klein in dem entsprechenden Roman eine mehrschichtige Machtpyramide etabliert, in welcher Fremde auch eher untergeordnete Rolle spielen. Am Ende von „Die Herrschaft des Zufalls“ treten sie fast stoisch passiv auf und zwingen die Menschen von der angeblichen Herrschaft durch die Stochastik abzuweichen. Dabei stellen die Fremden aber nur fest, dass der bisherige Status Quo in der vorliegenden Form im Grunde eine Illusion ist. Wie auch die Wehrtüchtigkeit der Raumschiffe eine Farce zu sein scheint.
An der Spitze der Menschheit steht trotz der Dominanz der Maschinen immer ein Mensch. Der Stochastokrat wird durch eine Lotterie unter allen Menschen bestimmt. Darauf zielt wahrscheinlich auch der Titel ab. Der neu gewählte Herrscher hat aber nur bedingt eine grenzenlose Macht. Er muss zwingend nicht nur im Palast leben, sondern sich von einer Roboterleibgarde bewachen lassen. Selbstmord ist verboten. Ansonsten darf er nicht regieren. Auch wenn nicht alle Querverweise gleich eingeordnet werden können, wirkt diese Käfighaltung des potentiellen Herrschers seltsam. Hinzu kommt, dass der Vorgänger Devon relativ kurz nach der Amtsübernahme gestorben ist.
Ingmar Langdon ist natürlich ein untypischer Kandidat. In Wirklichkeit ist er ein Träumer. Er trägt in dieser perfekten Welt eine Brille, seine dreißigtausend Bücher hat er in Papierform an Bord seines Gleiters. Während seine Mutter ehrgeizig ist und hofft, dass ihr Sohn Karriere machen wird, will er in erster Linie seine Ruhe haben. Aber er muss die Wahl annehmen, sondern verliert er seine Bürgerrechte.
Im Palast lernt er schnell die verschiedenen Intrigen kennen. Eine junge Frau hilft ihm, ein wenig hinter die politischen Kulissen zu schauen. Echte Entscheidungsbefugnisse scheint er nicht zu haben. Nach kurzer Zeit entschließt er sich, seinen Wächtern zu entkommen.
Gerard Klein baut der Szenario konsequent und logisch auf. Im ersten Viertel etabliert er diese futuristische, aber nur vordergründig perfekte Gesellschaft, um sie von dem Moment der Thronbesteigung an förmlich zu demontieren. Das erfolgt auf zwei sehr unterschiedliche Wege. Auf der einen Seite sind es die Opportunisten selbst, welche Zweifel an ihrer Kompetenz aufkommen lassen. Auf der anderen Seite ist zwar Langdon zwar nach außen der perfekte verträumte Bücherwurm, aber die Lektüre natürlich vor allem der alten Werke aus der aus seiner Sicht tiefsten Vergangenheit Leser haben ihm auch die Fähigkeit gegeben, zwischen den Zeilen zu lesen und die für ihn nicht logischen Absichten sowohl der Berater als auch der Politiker auf den anderen Welten zu erkennen.
Gerard Klein hält sich aber nicht lange mit dem Szenario auf und entwickelt positiv wie negativ die Handlung zu einem Streifzug durch bekannte Werke weiter. Es finden sich Anspielungen auf Wells Doktor Moreau und dessen Experimente mit Menschen. Die Abtrünnigen dieser Gesellschaft werden unter der Erde eingesperrt und leben wie die Morlocks als Minderwertige unter der Erde.
Auch die Auseinandersetzung mit den Fremden von den Menschen provoziert erinnert fast absichtlich an bekannte Werke der amerikanischen Science Fiction.
Das Tempo in diesem Abschnitt ist ausgesprochen hoch. Langdon ist eher ein Gehetzter als das anarchistische Element einer im Grunde zur Dekadenz neigenden sich selbst überschätzenden Gesellschaft. Nach dem faszinierenden Auftakt wirkt der Mittelteil daher ein wenig karg. Ohne in die Details zu gehen versucht Gerard Klein zu viele Ideen auf einmal umzusetzen.
Erst gegen Ende relativiert er diese Vorgehensweise und etabliert Langdon nach einer Konfrontation nicht nur mit seinem Doppelgänger, sondern auch der eigenen Familie wieder auf dem Thron. Es sind die Fremden, welche dem Träumer stellvertretend für die Menschheit eine Art Lehrstunde erteilen, ihm aber gleichzeitig auch zeigen, welches Potential in den Terranern steckt. Das könnte belehrend sein, aber aus der nicht perfekten der altersweisen, sich aber immer noch neugierig fühlenden Fremden wirkt diese Erziehungsmaßnahme modern und passend zu gleich. In diesen relevanten den zweiten Handlungsfaden abschließende Szenen zeigt Klein kosmopolitisches Denken.
Auf der zwischenmenschlichen Ebene spielt der Autor im Epilog auch mit der Erwartungshaltung der Leser. Die Romanze wird abgeblasen. Langdon verkümmert sich tragischen einsamen Helden, der quasi sich fast verzweifelt an seine gescheiterte Ehe erinnert. Das macht den naiven, erst im Laufe der Handlung zu einer Art Mann mit Weitblick werdenden Protagonisten sympathisch. Am Anfang ein wenig zu zögerlich, fast schon zu sehr einem Weichei ähnelnd mit einer dominierenden, aufdringlichen Mutter gesegnet bleibt Langdon lange Zeit nur die Möglichkeit, auf das Geschehen zu reagieren als wirklich die Initiative zu ergreifen. Klein behält sich bei den Begegnungen mit einzelnen Menschen aber die Möglichkeit offen, das einiges auch im Hintergrund geplant worden ist und der Konflikt zwischen den durch den Zufall Herrschenden und den Demos als Vertreter einer Volksherrschaft wie eine Art Schachspiel angelegt worden ist. Mit Langdon als unwissendem Faustpfand auf beiden Seiten.
„Die Herrschaft des Zufalls“ ist auch heute noch ein ambitioniertes Buch, das auf nicht einmal einhundertfünfzig Seiten der deutschen Ausgabe sehr viel richtig macht. Politik provozierend und stimulierend zu gleich setzt sich Klein für eine wahre Herrschaft des Volkes ein, wobei er einzelne Argumente aus den eigenen Rückblicken und den verheerenden Kriegen dann wieder ignoriert.
Er zeigt auf, das das auf den ersten Blick so perfekte System von Opportunisten und Kriegstreibern unterminiert ist, denen es weniger um das Volkswohl, sondern die Befriedigung der eigenen Macht geht. Das wirkt manchmal ein wenig zu belehrend entwickelt, aber ist notwendig, um Langdon als eine Übergangsherrscher zurück zu alten, aber nicht unbedingt besseren Zeiten zu etablieren.
Sobald ein Hintergrund nicht nachhaltig wichtig für die Handlung ist, wirkt er auf das Rudimentärste reduziert, was den Plot teilweise sehr gedrängt und ein wenig statisch konstruiert erscheinen lässt. Auf der anderen Seite finden sich in dem Buch aber auch so viele originelle wie zeitlose Einfälle beginnend mit der Lotterie, das es auch nach fast fünfzig Jahren der Erstveröffentlich Spaß macht, Gerard Kleins Werk wieder zu entdecken und „Die Herrschaft des Zufalls“ ist ein guter Einstiegspunkt.
Heyne Taschenbuch, 142 Seiten
ISBN-13: 9783453304789