Charlesgate Confidential

Scott von Doviak

Bevor der Leser in diese mehrschichtige Debütgeschichte des Sachbuchautoren Scott von Doviaks eintaucht, lohnt es sich, den eigentlichen Protagonisten im Internet zu betrachten. Das Charlesgate in Boston. Die Wohnanlage ist inzwischen modernisiert worden; die einzelnen Appartements werden zu extremen Preisen verkauft. Während sich die Nachbarschaft verändert hat, sind zwei Komponenten gleich geblieben. Die Nähe zum Red Sox Stadion, deren wechselhafte Geschichte sich durch den Fugenroman zieht und die Dominanz dieses erhabenen Gebäudes, hinter dessen Mauern sich viele Dramen abgespielt haben. 

Scott von Doviak hat bislang drei Sachbücher veröffentlicht. Neben einer Exkursion in das Redneck Cinema eine humorvollere Betrachtung der „Terminator“ und der Stephen King Filme. Und nicht selten finden sich eine Reihe von Anspielungen auf Kinofilme beginnend bei Kubricks „The Killing“ und einigen Referenzen zu Film Noir Streifen und endend bei natürlich Kubricks „The Shining“. Aber diese Hinweise werden nicht um ihrer Selbst eingestreut, sie sollen den Protagonisten vor allem bei der in den achtziger Jahren und dem 21. Jahrhundert spielenden Handlungsebene helfen, die Zeugenaussagen zu relativieren und schließlich einzuordnen.

Die legendäre und mystisch verklärte Geschichte des Charlesgate reicht zwar über alle drei Handlungsebenen beginnend mit dem Überfall auf eine illegale Pokerrunde im Jahre 1946 fast schon hinaus, wird aber durch die für eine Studentenzeitung geschriebenen Artikel eines der wichtigsten Protagonisten relativiert. Er unterscheidet zwischen den zahllosen Legenden und den teilweise brutal wirkenden Tatsachen, auch wenn er beim größten Geheimnis des Hauses zumindest 1986 trotz eines bedingten Augenzeugen scheitern muss.

Ausgangspunkt ist das Jahr 1946. Zwei Brüder überfallen mit ihrem Cousin eine von einem Gangster organisierte Pokerrunde im achten Stock des Charlesgate, der so von außen gar nicht sichtbar ist. Da sie die Beute verprassen, kommt der Gangster ihnen auf die Spur und macht zwei von dreien ein Angebot, das sie nicht ablehnen können. Sie sollen eine benachbarte Kunstgalerie zusammen mit ihm überfallen.

In der Gegenwart des Jahres 2014 wird eine Angestellte der Hausverwaltung in dem Haus ermordet, ihr Generalschlüssel gestohlen. Parallel organisieren ehemalige Studenten eine Wiedersehensfeier ausgerechnet im Charlesgate, das in den achtziger Jahren von der örtlichen Universität gekauft und umgebaut worden ist.

Einer dieser eingeladenen Studenten ist Thomas Donnelly, der 1986 für die Studentenzeichnung eben eine mehrteilige, hier auch nachgedruckte Serie inklusiv entsprechender Interviews über das Charlesgate verfasst hat. Der Grundton seiner eigenen literarischen Karriere, die ihn aber möglichst weit weg von dem Gebäude getrieben hat. Bis nach Australien.   

Ausgangspunkt und Mittelpunkt ist allerdings der Überall auf die Kunstgalerie, welche der Autor aus den achtziger Jahren in die Hochzeit der Gangster – die vierziger Jahre – zurückverlegt hat. Fatalistisch bringt es keinem der Protagonisten dieser Ära wirklich Glück. Es ist der brutalste Abschnitt dieses Buches, auch wenn im 21. Jahrhundert aus Gier einige unschuldige Menschen teilweise brutal umgebracht werden. Das Problem bei der Gegenwartshandlung ist zwiegespalten. Auf der einen Seite legt der Autor mehr Wert auf die wirklich gut gezeichneten Protagonisten und der Leser ist ihnen in mindestens einem Fall einen Schritt voraus, auf der anderen Seite wird in der Vergangenheit bis auf das Geständnis eines Überlebenden das gegenseitige, teilweise sadistische Töten nicht aufgeklärt, es endet, weil es keinen Menschen mehr gibt.

In der Gegenwart findet die Aufklärung quasi im Off statt. Einer Protagonistin wird es stellvertretend für den Leser erläutert. Es ist eine Zufallsentdeckung.

Von Doviak trifft aber auf alle drei Zeitebenen den richtigen Tonfall. Während er in den vierziger Jahren bis in die Details den Gangsterslang imitiert und nicht nur deren Gebaren, sondern vor allem auch deren narzisstische Tendenzen beschreibt, wirken die achtziger Jahre hipper, frecher und progressiver irgendwo zwischen dem Ende des Vietnamkriegs und der beginnenden Paranoia der achtziger Jahre.

Die achtziger Jahre verfügen als einziger Handlungsbogen über einen Ich- Erzähler. Thomas Donnelly tritt zwar auch in der Gegenwartsebene auf, aber wirkt eher wie ein romantisch melancholischer Abgesang. Der kitschige Moment in einem Film, in welchem der vorher gebeutelte Protagonist einen Moment des Glücks erleben darf, nachdem er an den Ort zurückgekehrt ist, der ihm auch so viele Schmerzen bereitet hat.

Aus den vierziger Jahren übernimmt der Autor einen Protagonisten, der Augenzeuge und Katalysator einzelner Ereignisse in den achtziger Jahren ist. Auch wenn der Leser eine Reihe von Informationen im Vorwege bezogen auf den eigentlichen Handlungsfluss kennt, belebt dieser Überlebende die Handlung, weist Donnelly den Weg und ist schließlich sogar indirekt für die Aufklärung zumindest des Kunstraubs zuständig. Auch wenn er es nicht weist.

Aus den achtziger Jahren ins 21. Jahrhundert übernimmt der Autor mehrere Protagonisten. Aber auch hier ist im Grunde nur eine Person wichtig und allgegenwärtig, während die meisten anderen Studenten am Ende während des Semestertreffens noch einmal über die alten Zeiten sprechen und wie erwähnt Thomas Donnelly die Handlung abschließen darf.

In erster Linie soll „Charlesgate Confidential“ ist ein Krimi sein. Beginnend mit dem Überfall auf das Pokerspiel, den Kunstraub, einen Überfall während eines wichtigen Red Sox Finales und schließlich die Mordserie in der Gegenwart finden gut zusammenhängend und für mehrere Krimis ausreichend im Grunde alle Arten von Verbrechen statt. Entgegen klassischer Detektivgeschichten, sondern in der Tradition des Film Noirs sind die Taten und deren Folgen wichtiger als die klassische Aufklärung und Bestrafung des oder der Täter.

Viel mehr ist der Roman eine vielschichtige, unabhängig von den zeitlich parallel verlaufenden Handlungsebenen stets übersichtliche Chronik eines auch heute noch eindrucksvollen Gebäudes mitten im Herzen vom alten Boston. Der Autor bemüht sich, dem Haus genauso gerecht zu werden wie seinen Protagonisten. Fakten und Fiktionen wechseln sich gut ab. Thomas Donnellys drei nachgedruckte Artikel aus der Schulzeitung fassen sehr viele vom Leser direkte verfolgte Ereignisse und Recherchen gut zusammen. Interessant wird es, wenn der Leser mehr weiß als der Autor, weil ja die 1946er Handlung stetig fortschreitet.

Auf der zwischenmenschlichen Ebene präsentiert Scott von Doviak eine gut charakterisierte Vielzahl von Protagonisten. Der Leser behält jederzeit den Überblick. Mit ihren Stärken und vielen Schwächen bilden sie gut einen Großteil des sozialen Schmelztiegels ab. Nicht umsonst bietet das große Gebäude im Grunde einen entsprechenden Mikrokosmos an. Dabei legt der Autor keinen Wert auf sympathische und glatte Figuren. Zum Teil durchlaufen die Protagonisten wie die beiden Brüder ein breites Spektrum von Emotionen beginnend mit Euphorie, Verzweiflung angesichts einer anstehenden Entscheidung, Entschlossenheit und schließlich zumindest einer abschließend auch echten Reue. Hinzu kommt die fast krankhafte Jagd nach den Bildern und damit der Belohnung. Selbst vierzig Jahre Gefängnis lassen diesen Drang nicht erlöschen.

 Auch wenn das Ende pragmatisch wie cineastisch kitschig wirkt, ist es konsequent und führt die roten Fäden sehr zufriedenstellend zusammen, die Scott von Doviak schon im ersten Kapitel seines Buches vor allem auch für einen Debütroman fast meisterlich ausgesät hat.

„Charlesgate Confidential“ ist ein ambitionierter, ungewöhnlicher Sozialkrimi, der auf einem durchgehend hohen Niveau unterhält und für ein Debüt ausgesprochen souverän sowie routiniert wirkt.  

 

HARLESGATE CONFIDENTIAL
Scott Von Doviak

Paperback 385 Seiten
September 2018
ISBN: 978-1-78565-717-7
Cover art by Paul Mann

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